Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Debatte über Lockerungen für Geimpfte: Was heißt hier eigentlich frei?
Welche Freiheiten kann und soll es für Geimpfte geben? Diese Frage wird derzeit überall diskutiert. Aber welche Vorstellung von Freiheit ist dabei eigentlich am Werk? Das fragt Pauline Pieper in ihrem Kommentar.
"Tiere wie wir": Nicht nur Menschen haben Werte
Die US-amerikanische Moralphilosophin Christine M. Korsgaard ist davon überzeugt, dass wir keine Tiere zum Fleischkonsum halten sollten. Für ihre eigenen Katzen allerdings macht sie Ausnahmen, wie sie Florian Werner verraten hat.
Zum Tod des Philosophen Hermann Schmitz: Ergriffen von der Macht der Gefühle
Der Phänomenologe Hermann Schmitz ist mit 92 Jahren gestorben. Sein Denken kreiste um Leib und Gefühle. Damit habe er in Medizin, Psychologie und weiteren Disziplinen ganz neue Perspektiven eröffnet, sagt die Philosophin Hilge Landweer.
Wie Lobbyisten die Glaubwürdigkeit der Forschung untergraben
19:49 Minuten
Immer mehr Menschen zweifeln Forschungsergebnisse an, über die sich die Wissenschaft weithin einig ist. Dahinter stecken oft handfeste Lobbyinteressen, sagt die Philosophin Anna Leuschner.
Skepsis gilt – zumal in der Philosophie – als eine konstruktive Grundhaltung. Nicht alles zu glauben, was man hört, ist im Alltag offensichtlich vernünftig. Und auch die Wissenschaft profitiert von Widerspruch und Kontroverse: Dass Forschungsergebnisse der Kritik der wissenschaftlichen Community ausgesetzt sind und letztlich besser werden, wenn Kolleginnen und Kollegen sie hinterfragen und eventuelle Fehler aufdecken, ist eine bewährte Praxis.
In jüngster Zeit mehren sich jedoch Stimmen, die auch solche Erkenntnisse, über die in der Forschung ein weitreichender Konsens besteht, immer wieder öffentlich in Frage stellen. Damit werde die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft grundsätzlich in Zweifel gezogen, sagt Anna Leuschner, Professorin für Wissenschaftsphilosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Und das nicht ohne Grund, denn diese Art von prinzipieller Wissenschafts-Skepsis habe häufig mit handfesten Interessen von Akteuren in Wirtschaft und Gesellschaft zu tun.
Gegenwind für die Klimaforschung
Leuschner hat solche Zusammenhänge besonders im Hinblick auf Debatten über den Klimawandel untersucht. Die Klimaforschung verfüge über einen "robusten Wissensstand", so Leuschner. Seit den 1980er-Jahren werte der Weltklimarat der Vereinten Nationen internationale Studien aus, um der Politik eine solide Grundlage für Entscheidungen zur Verfügung zu stellen. Doch ebenso lange schon laufe eine finanzkräftige Lobby gegen die Ergebnisse der Klimaforschung Sturm.
"Es gibt sehr starke Interessen in der Gesellschaft, an diesen Ergebnissen zu zweifeln", sagt Leuschner. Insbesondere von Seiten der Öl- und Kohleindustrie sei viel Geld in Kampagnen investiert worden, die den Anschein erwecken sollten, dass die Erkenntnisse zum Einfluss des Menschen auf den Klimawandel und zu dessen Folgen keineswegs so eindeutig und so verlässlich seien, wie der Weltklimarat es darstelle.
Fair Play und Meinungsfreiheit
Dabei beriefen sich die Akteure nicht selten auf die Meinungsfreiheit und das Ideal der freien und kontroversen Debatte, wie man es etwa idealtypisch beim britischen Philosophen John Stuart Mill im 19. Jahrhundert finde: Mill habe die Auffassung vertreten, dass Kontroversen sich immer zum Wohl der Wissensgewinnung auswirken würden. Selbst ein Einwand, der sich am Ende als haltlos erweise, könne ein Ergebnis stärken, indem er Forschende dazu dränge, es zu überprüfen, zu verteidigen und im Zweifel auch besser zu erklären.
"Letztlich schützt uns das vor Dogmatismus", betont Leuschner. Das gelte aber nur, wenn in der Auseinandersetzung grundlegende Regeln der Fairness eingehalten würden. Auch Mill habe schon darauf hingewiesen, "dass relevante Tatsachen nicht verdreht werden dürfen, oder dass man die Meinung des Gegners nicht aus dem Kontext reißen darf". Dabei handle es sich aber um Passagen, "die heute von vielen übersehen werden."
Erfolgsmodell: Scheinkontroverse
Organisierte Wissenschafts-Skepsis gab es schon in früheren Jahrzehnten, sagt Leuschner. So habe etwa die Tabak-Industrie in den 1950er-Jahren versucht, den Zusammenhang von Tabakkonsum und Krebserkrankungen zu verschleiern. Damals sei den Lobbyisten klar geworden, dass die Wissenschaft in der Gesellschaft ein so hohes Ansehen genoss, dass ein frontaler Angriff auf ihre Positionen dem eigenen Anliegen nur geschadet hätte:
"Sich jetzt hinzustellen und zu sagen: Die Wissenschaft lügt! – das würde der Industrie nicht helfen, sondern im Gegenteil, das würde sie eigentlich unglaubwürdig machen." Daher seien die Tabak-Produzenten und -Verarbeiter auf die Taktik der Scheinkontroverse gekommen: "Sie finanzieren Studien, die den wissenschaftlichen Konsens, der eigentlich da ist, in Frage stellen." Dieses Prinzip haben Lobbyisten im Streit um die Klimaerwärmung von ihnen übernommen.
Der Wunsch, anders zu sein
Bei der in jüngster Zeit wieder lautstark artikulierten Skepsis von Impfgegnern vermutet Leuschner dagegen einen anderen Hintergrund. Soziologische Studien wiesen darauf hin, dass es sich dabei eher um ein Phänomen sozialer Distinktion handle, also der Wunsch, sich im Lebensstil von andern abzugrenzen, eine treibende Kraft sei. Schließlich verdiene niemand daran, wenn Menschen sich nicht impfen lassen.
Um eine weitere Form von bewusst lancierter Wissenschafts-Skepsis könne es sich dagegen bei Grundsatzkritik an der Forschung zu Genderfragen und Rassismus handeln, wie sie seit einer Weile immer wieder zu beobachten sei, sagt Anna Leuschner. Sie selbst habe gerade ein Forschungsprojekt dazu gestartet.
(fka)