Organspende – Wohnungsnot – Armut

Wann wir helfen müssen

38:02 Minuten
Eine Illustration zeigt wie Menschen auf einer Leiter aus helfenden Händen nach oben steigen.
Helfende Hände: In bestimmten Lebenslagen wird Beistand zur Bürgerpflicht. © imago / Eva Bee
Christian Neuhäuser und Arnd Pollmann im Gespräch mit Simone Miller |
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Wenn jemand stürzt oder verletzt wird, helfen wir. Ganz selbstverständlich. Aber sind wir auch als Bürger in der Pflicht, wenn Menschen anderswo in Not geraten? Darüber debattieren die politischen Philosophen Christian Neuhäuser und Arnd Pollmann.
Niemand wird achtlos an einem Teich vorübergehen, wenn ein Kind in Gefahr ist, darin zu ertrinken. Wer einen Unfall bezeugt, ist sich der moralischen Verpflichtung zu helfen bewusst. Persönliche Bedürfnisse oder Bedenken müssen in diesem Moment zurückstehen. Selbstverständlich springt man ins Wasser und ruiniert sein bestes Kleid, wenn es um Leben und Tod geht.

Hilfe muss zumutbar sein

In vielen Lebenslagen ist die Frage nach einer Pflicht zu helfen jedoch komplizierter als in diesem philosophischen Modellfall. Wie verhält es sich, wenn wir von Not und Ungerechtigkeit anderswo erfahren? Wie weit reicht dann die persönliche Verantwortung jedes und jeder Einzelnen? Woran bemisst sie sich, und wie hoch rangiert das Allgemeinwohl gegenüber individuellen Ansprüchen und Rechten?
"Moralische Hilfspflichten bestehen nicht immer dann, wenn ein Mensch Hilfe braucht, es müssen vielmehr weitere Bedingungen gegeben sein", betont der Berliner Philosoph Arnd Pollmann im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Als erste Voraussetzung für eine Verpflichtung zu helfen, nennt Pollmann, dass sich die betreffende Person in existenzieller Not befindet. Zweitens müsse die entsprechende Hilfeleistung auch individuell zumutbar sein: "Sie springen nicht ins Wasser, um das Kind vor dem Ertrinken zu retten, wenn Sie selbst nicht schwimmen können."
Arnd Pollmann schaut freundlich in die Kamera.
Wenn Menschen verdrängt werden, geht es um existenzielle Notlagen, sagt Arnd Pollmann.© privat
Für komplexe gesellschaftliche Fragestellungen, etwa zur gesetzlichen Regelung von Organspenden, gibt es aus Pollmanns Sicht daher oft keine generellen Lösungen. Zwar scheine es auf den ersten Blick so, als sei der "Nutzen" für den potenziellen Empfänger eines Organs in jedem Fall gewaltig, während die "Kosten" für den potenziellen Spender, der zum Zeitpunkt der Entnahme ja bereits tot ist, kaum ins Gewicht fielen. Doch dieser Sichtweise hält Pollmann die individuelle Erfahrung mit Tod und Sterben entgegen.

Organspende: die Auffassung vom Sterben ist entscheidend

"Wenn jemand vielleicht eine Person ins Sterben begleitet hat oder gemeinsam mit anderen für ein paar Stunden die Totenruhe begangen und gesehen hat, wie das Leben erst langsam aus dem Körper entweicht", gibt Arnd Pollmann zu bedenken, "für solche Menschen könnte es eben doch große ‚Kosten‘ darstellen, wenn die Person unmittelbar bei Eintreten des Hirntodes aus dem Raum gefahren, weggeschafft und zerlegt werden würde – und insofern ist die Organspende unter Umständen für manche nicht zumutbar."
Eine "universelle Hilfspflicht" kann es für Organspenden aus Pollmanns Sicht daher nicht geben. Dass Gesundheitsminister Jens Spahn die Spendenbereitschaft per Gesetz zum Normalfall erklären will, so dass Menschen, die ihre Organe dafür nicht freigeben möchten, ausdrücklich widersprechen müssten, hält er für falsch. Der Dortmunder Philosoph Christian Neuhäuser hält dem entgegen: "Wenn es jemandem wirklich wichtig ist, dann kann man von dieser Person auch erwarten, dass sie eine bewusste Entscheidung fällt, das nicht zu tun." Das spreche durchaus für ein Gesetz, das die Zustimmung zur Organspende zur Regel mache.
Der Philosoph Christian Neuhäuser trägt roten Pulli und schaut in die Kamera.
Reichtum spaltet die Gesellschaft und muss deshalb begrenzt werden, fordert Christian Neuhäuser.© Roland Baege
Wie steht es um andere Bereiche der Gesellschaft, in denen Hilfe Not tut? Etwa, wenn ungebremste Spekulation auf dem Wohnungsmarkt dazu führt, dass immer mehr Menschen vor steigenden Mieten kapitulieren und in städtische Randlagen abgedrängt werden. "Hier geht es um die Frage, wie wir Grundgüter verteilen wollen", sagt Christian Neuhäuser – eine politische Frage, denn Wohnen sei auch "ein wichtiger Teil der persönlichen Entfaltung und der gesellschaftlichen Teilhabe."

Wohnungsnot: Inseln der Reichen spotten der Demokratie

Die Frage "Wem gehört die Stadt?" ist für Neuhäuser auch eine Probe auf die Demokratie: "Am Wohnungsmarkt sehen wir sehr deutlich, dass Inseln der Reichen entstehen, die anderen Menschen verschlossen bleiben. Da kann man mal spazieren gehen und sich anschauen, wie ‚die da oben wohnen‘, und das war es dann aber. Das bricht ganz stark mit der Grundidee, der wir uns eigentlich alle verpflichtet sehen: dass wir eine Gesellschaft der in fundamentaler Hinsicht Gleichen sind."
Sind private Eigentümer von Immobilien und Bauland verpflichtet zu helfen, wenn die Teilhabe an Wohnraum zu sehr in eine Schieflage gerät? Darf die Politik sie in ihrer Freiheit einschränken und im Zweifelsfall sogar enteignen, wie es zuletzt der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer und eine Berliner Bürgerinitiative gefordert haben, wenn ihr Profitstreben dem Bedarf an bezahlbarem Wohnraum entgegensteht?

Wohnen ist Menschenrecht – Eigentum nicht

"Wenn Menschen verdrängt werden sollen aus Wohnraum, den sie jahrelang bewohnt und mit Leben gefüllt haben, dann geht es um existenzielle Notlagen und um Menschenrechte", sagt Arnd Pollmann. "Eigentum ist kein Menschenrecht. Deshalb sollten die derzeit so aufgescheuchten Wohnungsbesitzer nicht so tun, als drohte ihnen eine geradezu an die Folter erinnernde Menschenrechtsverletzung. Wenn die Gegner der Enteignung jetzt ihre Freiheit bedroht sehen mögen, so meinen sie doch häufig vor allem die Freiheit zur Ausbeutung der Unfreien."
Christian Neuhäuser geht noch einen Schritt weiter und spricht sich dafür aus, die immer tiefere Kluft zwischen Armut und Reichtum in den Staaten des globalen Nordens durch strikte Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen zu schließen. Er begründet diese Forderung mit der im Grundgesetz garantierten Menschenwürde: "Es gibt Formen des Reichtums innerhalb von Gesellschaften und weltweit, die strukturell mit Würdeverletzungen einhergehen."

"Entwürdigender Reichtum sollte abgeschafft werden"

Das gelte etwa für Dimensionen von Reichtum, die "das demokratische Prinzip in Gesellschaften untergraben", indem sie wohlhabenden Menschen einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf politische Entscheidungen verschaffen. Andererseits verhindere ein extrem ungleich verteilter Reichtum nachhaltig "die Bekämpfung von Würdeverletzungen durch Hilfeleistungen", so Neuhäuser:
"Weil wir so viel sozioökonomische Ungleichheit und bestimmte Formen des Reichtums haben, schaffen wir es nicht, die Ressourcen in den Umgang mit dem Klimawandel und mit globaler Armut zu stecken, die wir da normalerweise hineinstecken sollten aus einer moralischen, menschenrechtlichen Perspektive." Eine gerechte Gesellschaft, so Christian Neuhäuser, muss solchen Reichtum verbieten.
(fka)

Christian Neuhäuser ist Professor für Praktische Philosophie an der TU Dortmund. Er arbeitet zur Philosophie der internationalen Beziehungen, zur Wirtschaftsphilosophie sowie zu Theorien der Würde, der Verantwortung und des Eigentums. Zuletzt erschien von ihm im Suhrkamp Verlag das Buch "Reichtum als moralisches Problem".

Arnd Pollmann lehrt und forscht im Bereich der Praktischen Philosophie, vor allem auf den Gebieten der Ethik und Moralphilosophie, der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie der Menschenrechte. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

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