Orgasmus als Weltverbesserung

Von Robert Schurz |
Seine Schüler und Anhänger haben ihn gefeiert, ansonsten war es relativ ruhig um den 50. Todestag des Psychoanalytikers und Sexualwissenschaftler Wilhelm Reich, der am 3. November 1957 in den USA starb. Kein Vergleich zu den 60er und 70er Jahren, als seine Lehren von einer bewegten Jugend aufgesogen wurden. Vielen galt er als Wegbereiter der sexuellen Revolution. Andere sehen in ihm nur einen esoterischen Wirrkopf.
"In den 68ern ist Reich von den 68ern eben ein Stück beschlagnahmt worden, und die sexuelle Revolution ist auch in seinem Namen mit durchgeführt worden, da ist er sehr stark verkürzt worden; da ist er sehr reduziert worden auf dieses 'Fick dich frei', also möglichst viel Quantität an sexueller Begegnung, das war ja überhaupt nicht das, was Reich propagiert hatte. Da ging es um Hingabe, da ging es um Beziehung."

So die Ärztin Heike Buhl, Vorsitzende der Wilhelm-Reich-Gesellschaft in Berlin. Reich notiert selbst:

"Diese Erwägungen gestatten aber die Annahme, dass die Psychoanalyse kraft ihrer Methode, die triebhaften Wurzeln der gesellschaftlichen Tätigkeit des Individuums aufzudecken, und kraft ihrer dialektischen Trieblehre berufen ist, die psychischen Auswirkungen der Produktionsverhältnisse im Individuum, das heißt, die Bildung der Ideologien im Menschenkopfe im Detail zu klären."
Am Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war viel vom Aufbrechen alter Strukturen die Rede, von der Entlarvung bürgerlicher Charaktermasken und von der sexuellen Befreiung. Auch wollte man ergründen, wie es zum Faschismus kommen konnte. Was lag da näher, als einen zu befragen, der vorgab, das alles erklären zu können und gleichzeitig ein Rezept der Befreiung, sowohl der individuellen als auch der politischen zu liefern. Aus einem Erfahrungsbericht von 1970:

"Am Abend zu Jürgen zur Theorie-Gruppe. Holger kam mit einem Raubdruck von Reich an. Ich war eigentlich nicht gut drauf, ärgerte mich noch immer über Jürgen und seine Position. Holger hat zwei Passagen gelesen und alle waren begeistert. Das war's: jeder von uns hat den Faschismus in sich, auch ich. Schwer, sich das klar zu machen. Die wahnsinnige körperliche Distanz, die wir voneinander haben, wie jede Berührung eine Verkrampfung auslöst. Genau da muss der politische Kampf ansetzen. Klasse Abend, intensive Diskussion und sogar Jürgen ist nachdenklich geworden."

Es war auch die Zeit, da ein Berliner Kommunarde verlauten ließ, seine Orgasmusprobleme lägen ihm näher, als der Krieg in Vietnam, worauf hin seine Genossen alles daran setzten, zu zeigen, dass seine Orgasmusprobleme und der Krieg in Vietnam die gleichen Wurzeln hätten. Und Wilhelm Reich lieferte die Antwort.

Reich: "Der Faschismus ist in seiner reinen Form die Summe aller irrationalen Reaktionen des durchschnittlichen menschlichen Charakters. Die Rassenideologie ist ein echt biopathischer Charakterausdruck des orgiastisch impotenten Menschen."
In der Person Wilhelm Reichs vereinigen sich jene zwei Theorien beziehungsweise Weltanschauungen, die gerade am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen grundlegenden Umsturz der Welt verhießen: Kommunismus und Psychoanalyse. Beide Richtungen gaben vor, eine völlig neue Sicht auf alle Dinge und Phänomene dieser Erde zu finden, und so mag es nicht verwundern, dass gerade die Vereinigung beider Strömungen einen missionarischen Eifer entstehen ließ.

Die Verbindung von persönlicher und politischer Befreiung ließ Reich allerdings auch überall anecken. Den Psychoanalytikern um Freud, zu dessen weiteren Kreis er einige Zeit gehörte, war er zu politisch und sein Zweifel an der Übergeschichtlichkeit psychischer Strukturen erregte ebenfalls Missfallen. Auch sein Ansinnen, den Körper stärker in die Psychotherapie mit einzubeziehen, stieß nicht unbedingt auf Gegenliebe.

Jorgos Kavouras: "Die Psychoanalytiker haben ihn für verrückt erklärt 1927, die Kommunisten Anfang der dreißiger Jahre. Das heißt, bestimmte Gruppen haben Reich benutzt, weil er eben in ihr Konzept gepasst hat. In dem Augenblick, wo er ihr Konzept gesprengt hat - so ein Mensch war Reich eben, -haben sie gesagt: ja, das lässt sich nicht nachvollziehen, das ist absurd, und vom Absurden zum Geisteskranken ist ja nur ein kleiner Schritt.""

Jorgos Kavouras, niedergelassener praktischer Arzt bei Bamberg und heute noch Reich-Anhänger, sieht in der Reich-Rezeption, sowohl damals wie heute, eine Geschichte von Missverständnissen.

""Alles, was Reich geschrieben hat, hat sich in der Wirklichkeit als wahr erwiesen. Ich denke, Reich wäre jemand, der absolut den Medizinnobelpreis verdient gehabt hätte."

Reich: "Vor etwa einem Jahr gelang mir die Herstellung eines Gemisches aus nichtlebenden Stoffen, das bei stärkster Sterilisation, wie zum Beispiel bei Autoklavierung bei 120 Grad Celsius lebensartige Gebilde enthielt. Ich nannte diese Gebilde Bione. Vor einigen Monaten gelangen die ersten Kulturen dieser Gebilde."

Das ist die andere Seite von Wilhelm Reich, die Seite der haarsträubenden Theorien und kuriosen Experimente. Schwer ist es, beide Seiten immer klar auseinander zu halten, denn sie gehen ineinander über.

Heike Buhl: "Und immer mehr hat sich die Grenze verschoben, wo ich sagen musste: oh, der war nicht verrückt, da ist einfach etwas dran."

Sicher ist an Reich was dran. So sind etwa seine Ideen in der Psychotherapie, insbesondere aber in den sogenannten körperorientierten Verfahren, derart verbreitet, dass man diese nicht einfach als bloße Spinnerei abtun kann. Auch seine politischen Projekte hatten durchaus Hand und Fuß. Andererseits: wer will den ernst nehmen, der mit einem Saugrohr und einer mysteriösen Apparatur das Böse von dieser Welt gleichsam absaugen will.

Wer war also dieser Wilhelm Reich? Ein Innovator? Ein ewiger Außenseiter? Ein verkannter Genius oder ein Spinner? War er Opfer seines Größenwahns oder ein Opfer seiner Zeit?

Bunt ist sein Werk, turbulent war auch sein Leben. Reich wurde 1897 in der Bukowina geboren; -damals gehörte dieses Gebiet zur österreichisch-ungarischen Monarchie, heute zur Ukraine. Seine Eltern waren jüdischer Abstammung, bekannten sich aber zur deutschen Kultur. Zunächst wuchs er von anderen Kinder isoliert auf, ging nicht auf eine Schule, sondern wurde von einem Hauslehrer unterrichtet. Mit diesem hatte seine Mutter ein Verhältnis. Der Knabe verriet diese Affäre dem Vater, woraufhin sich die Mutter das Leben nahm.

Wilhelm Reich war damals zwölf Jahre alt und es heißt, dieses Ereignis habe ihn für sein Leben traumatisiert und eine psychische Erkrankung gewissermaßen vorbereitet. Anders sieht das Jorgos Kavouras.

Jorgos Kavouras: "Ich glaube, dass Reich ein sehr gesunder Mensch gewesen ist, mit einer großen Neugierde, wissenschaftlichen Neugierde, und diese wissenschaftliche Neugierde kommt uns zugute."

Fünf Jahre später verstarb sein Vater, der Familienbesitz war nach dem ersten Weltkrieg verloren; Reich ging relativ verarmt nach Wien, um dort Jura zu studieren, wechselte aber bald zur Medizin. Er heiratete früh und wurde auch früh Vater einer Tochter.

Der junge Wilhelm Reich war umtriebig und galt in vielerlei Hinsicht als begabt. Er gründete als Student bereits ein "Wiener Studentenseminar für Sexologie" und nahm Kontakt zu den Psychoanalytikern auf. Quasi ohne eigene Lehranalyse, ohne Ausbildung also, begann er damit, selbständig Patienten zu analysieren. Nach seinem Studienabschluss und vielen kurzfristigen Arbeitsstationen wurde er Assistent an der ersten von Freud selbst gegründeten psychoanalytischen Klinik in Wien. Später wurde er dessen stellvertretender Direktor. Der Übervater Sigmund Freud scheint Reich zwar als umtriebigen jungen Mitarbeiter geschätzt und anerkannt zu haben, allein zu einer größeren Erwähnung oder gar zu einer Auseinandersetzung mit seinen Ideen sah Freud sich nicht veranlasst.

Reich: "Es bedarf genauester Analyse der Haltungen und Empfindungen bei der Onanie beziehungsweise beim Geschlechtsakt. Man stellt dann fest, dass die Kranken in einem bestimmten Augenblick der Erregungssteigerung in irgendeiner Weise abbremsen. Sie vermeiden es, dem Impuls, das Becken weit vorzustrecken, nachzugeben; sie stoppen sehr häufig die Bewegung und halten im Augenblick des orgiastischen Empfindungsansatzes still, statt sich zu lösen und in spontanen rhythmischen Friktionen die Auslösung zu steigern."

Reichs große Neuerung als Psychoanalytiker bezog sich auf den Zusammenhang von psychischer und somatischer Erstarrung. Die psychische Erstarrung nannte er Charakterpanzer; damit ist eine Struktur gemeint, die sich durch starre Konventionen und fehlende Flexibilität auszeichnet.

Heike Buhl: "Und diese Pulsation und das Strömen können gestört sein, und diese Störung entsteht meist schon früh in der Kindheit, - dadurch, dass wir uns anpassen, dass wir unsere Gefühle unterdrücken, bauen wir muskuläre und emotionale Verspannungen auf, dass heißt, jeder von uns hat ein bestimmtes Verspannungsmuster im Körper, und diese Verspannungen können im späteren Leben dann zu vegetativen Störungen führen und das sind Grundlagen für organische Erkrankungen; also zum Beispiel Asthma, Migräne, Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Beschwerden bis hin zu Leukämie und Krebs."

Wilhelm Reich nannte seine Version der Psychoanalyse die Charakteranalyse. Wesentliches Element dabei ist die Überwindung der Orgasmusangst, die Angst vor dem freien Fließen und Strömen orgiastischer Energie. Diese Orgasmusangst führt neben individuellen Störungen auch zu reaktionären und faschistoiden politischen Haltungen.

Heike Buhl: "Ich behandle das im Wesentlichen dadurch, dass ich den Energiefluss wieder in Schwung bringe, dazu löse ich die muskulären Verspannungen auf und gebe Hilfestellung, dass auch die Gefühle, die darin festgehalten sind, in so einer geschützten therapeutischen Situation Ausdruck finden können."

Den Gegenspieler zur Panzerung sieht Reich im Orgasmusreflex, den er bei seinen Patienten auszulösen versuchte. Das funktioniert durch Atemtraining, Lockerung der Bauch- und Beckenmuskulatur und diversen anderen Übungen.

Reich: "Die Zuckungen im Körper verloren immer mehr den krampfartigen tonischen Charakter. Es traten eigenartige Zuckungen am Bauch auf. Es dauerte ungefähr zwei Wochen, bis er seine muskuläre Bremsung im Becken vollkommen erfasst und die Hemmung überwunden hatte. Nun trat auch im Genital ein Strömungsempfinden auf, das er vorher nie gekannt hatte. Er bekam in der Stunde Gliedsteifungen und hatte den mächtigen Impuls, zur Ejakulation zu gelangen."

Der gelungene Orgasmus wurde erst in den sechziger Jahren zu einem gesellschaftlichen Thema: Ein Oswald Kolle drehte Aufklärungsfilme und nicht zufällig war es auch die Zeit, da die Anti-Baby-Pille auf den Markt kam. Aus einem Erfahrungsbericht von 1970:

"Rainer wollte unbedingt mit mir pennen, ich hatte aber keine Lust. Er: Bei dir wirken immer noch die bürgerlichen Unterdrückungsmechanismen der sexuellen Verklemmung. Ich: Aber wenn ich es so fühle. Er: Die Unterdrückung geht bis in die Gefühle. Ich: Aber ich kann mir doch auch aussuchen, mit wem ich penne. Er: Du machst dir was vor. Ich war unsicher aber ich habe nicht mit ihm gepennt. Ich glaube, das war richtig."

Jorgos Kavouras: "Wenn wir den zeithistorischen Hintergrund sehen, dass damals tatsächlich sehr viel von dieser Sexualunterdrückung war, die heute andere Formen angenommen hat. Die Repressionen stecken doch eher in uns und haben feinere Strukturen."

Hier setzte die 68er-Bewegung an, indem sie die gesellschaftliche Unterdrückung mit der Unterdrückung des Orgasmus-Reflexes gleichsetzte. Der Krieg in Vietnam als Resultat des Imperialismus ist genau so Resultat der kapitalistischen Produktionsweise, wie die Triebunterdrückung, die notwendig ist, um das Proletariat in einen disziplinierten und entfremdeten Arbeitsprozess zu zwängen. Doch es gab auch Irritationen.

"Holger dreht immer mehr ab. Für politische Aktionen kaum noch zu gebrauchen. Der Reich ist ihm zu Kopf gestiegen. Will den perfekten Orgasmus und vergisst, dass die Befreiung zuerst kommt. Der bastelt an Kikifax-Apparaten herum und will schlechte Energien vernichten. Mit tut die Geli leid. Ich glaube, sie wird sich bald trennen. Der Reich hat ja viel gesehen, aber er ist dann doch nicht viel weiter als der bürgerliche Individualismus."

"Wo die Veränderungen wirklich tiefgreifend waren, bei den Familienstrukturen, dem Stil der Partnerschaft, bei den sexuellen Gewohnheiten, den Manieren, dem Konsumstil, dem Hedonismus, ... "

... bemerkt Rüdiger Safranski am Ende seines Buches "Romantik - eine deutsche Affäre" mit dem Abstand von Jahrzehnten:

" ... dort zeigte sich, dass die 68er-Bewegung eher Symptom einer Entwicklung als ihre Ursache gewesen war. Die begleitenden und stimulierenden Illusionen aber waren beträchtlich. Im Kern äußerte sich in ihnen nämlich die Vorstellung eines neuen Realitätsprinzips. Auch hierfür hatte Herbert Marcuse die entscheidenden Stichworte geliefert. Das Realitätsprinzip des Kapitalismus hat, so lehrte er, zu einer Überflussgesellschaft geführt und ist gerade deshalb überflüssig geworden. Das Lustprinzip, bisher streng in Schach gehalten vom Arbeitszwang, ist dabei, sich in seiner Substanz zu verändern. Die aggressiven Triebe verlieren gegenüber dem erotischen Trieb an Bedeutung. Die innere Natur des Menschen verändert sich. Es rührt sich, schreibt Marcuse, 'die erotische Energie der Natur - eine Energie, die befreit werden will: auch die Natur wartet auf Revolutionen'."

Anknüpfungen an die Ideen von Wilhelm Reich wie hier bei Herbert Marcuse sind immer wieder gesucht worden. In seiner Schrift: "Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral" beschreibt Reich ausführlich das Liebesleben des Südseestammes der Trobriander, einer mutterrechtlich organisierten Gesellschaft und stellt fest, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft quasi frei von Neurosen seien. Bezogen auf die Freudsche Theorie, insbesondere auf deren Kernstück, den Ödipuskomplex, bedeutet dies:

Reich: "Wir leugnen also nicht die analytischen Befunde, aber wir fassen sie nicht biologisch, sondern historisch geworden auf und versuchen, sie in richtige Beziehung der Geschichte der Gesellschaft zu bringen."

Das war dann doch für die streng biologistische Freudsche Denkweise zu viel und so wurde Wilhelm Reich 1934 von der Internationalen Psychologischen Gesellschaft ausgeschlossen.

Parallel zu seinen therapeutischen Aktivitäten war Wilhelm Reich seit seiner Studienzeit politisch umtriebig, schloss sich der Kommunistischen Bewegung, später auch der Kommunistischen Partei an. 1930 siedelte er nach Berlin über. Er gründete die Sexpol-Bewegung, die sich zur Aufgabe gestellt hat, das kommunistische Programm durch ein sexologisches zu erweitern. Es gelang ihm auch tatsächlich, einige höhere Funktionäre für seine Sache zu begeistern.

Was Reich unter der sexuellen Revolution versteht, hört sich heute allerdings eher harmlos an. Es geht in erster Linie um Aufklärung der Kinder und der Jugend, um die Abschaffung aller moralischen Tabus in dem Sinne, dass man über alles reden kann, um die Gleichberechtigung der Frau, um die Abschaffung moralischer und ökonomischer Zwänge in der Ehe, um die Abschaffung der Pornographie als Kehrseite der Sexualunterdrückung, um die Anerkennung der Homosexualität und ähnliches mehr.

Heike Buhl: "Vieles, was Reich damals auch politisch gewollt hat, hat sich verwirklicht, auch wieder vieles, ohne dass sein Name genannt wird. Auch sein Versuch, den Faschismus psychoanalytisch zu deuten, war einerseits ein durchaus innovativer Ansatz, andererseits muten die konkreten Aussagen zu diesem Thema reichlich verschwommen bis kurios an."

Reich: "Es ist also anzunehmen, dass das Hakenkreuz, das zwei ineinandergeschlungene Gestalten darstellt, auf tiefe Schichten des Organismus einen großen Reiz ausübt, der um so stärker ausfallen muss, je unbefriedigter, sexuell sehnsüchtiger der Betroffene ist."
Der Faschist ist sexuell frustriert, und deshalb vom Hakenkreuz fasziniert. Es sind genau solche und ähnliche Kurzschlüsse, die Reichs Thesen immer wieder fragwürdig werden lassen. Für die damaligen Kommunisten galten solche Ansichten als bürgerliche Entartung. Überdies behauptete Reich, dass auch Proletarier anfällig für den Faschismus seien.

Reich: "Sexualasketisch eingestellte politische Arbeiterführer sind eine schwere Behinderung. Wir werden den politischen Führern, die auf dem sexuellen Lebensgebiete ungeschult und vielfach selbst in Mitleidenschaft gezogen sind, die Überzeugung beizubringen haben, dass sie lernen müssen, ehe sie führen dürfen."

Das hieß in einem weiteren Schritt: die politisch-ökonomische Befreiung allein schaffe noch nicht den von der Sowjetunion propagierten neuen Menschen. Der war nach Wilhelm Reich erst vorstellbar, wenn er seine Orgasmusprobleme überwunden hatte.

In den Berliner Jahren, 1930 bis 1933 kämpfte Reich an allen Fronten und er verlor die meisten Kämpfe. Von den Kommunisten und den Psychoanalytikern ausgestoßen, von den Nazis nach deren Machtübernahme verfolgt, musste er schließlich fliehen, zunächst nach Dänemark, dann nach Norwegen. Auf allen seinen Stationen versuchte er, Anhänger für seine Lehre zu gewinnen. 1939 schließlich wurde er nach New York als außerordentlicher Professor für Medizinische Psychologie berufen.

Das Interesse Wilhelm Reichs hat sich in diesen Jahren deutlich gewandelt: Nun fokussierte sich seine gesamte forscherische und therapeutische Tätigkeit auf seine neue Entdeckung, auf das Orgon.

Jorgos Kavouras: "Orgon ist das, was wir Menschen als unsere Energie betrachten. Es ist ganz einfach die Energie, die unserem Körper zu Verfügung steht, um bestimmte Dinge zu machen, zu denken, sich zu bewegen, zu fühlen und so weiter. Die Energie ist zunächst etwas ungerichtetes, eher amorphes, was der Mensch aber dank seiner Struktur positiv einsetzen kann, wenn er in dieser Energie ist. Und darum geht es ja auch: dass wir Krankheiten behandeln, wo diese Energie einfach gestört ist."

Mit der Entdeckung des Orgons wurde Reich endgültig zum Missionar, der zu wissen glaubte, wie alle Übel der Menschheit zu beseitigen wären. Neben der Heilung psychischer Erkrankungen ging er nun auch dazu über, somatische Erkrankungen zu behandeln. Dazu baute er den sogenannten Orgon-Akkumulator, der Lebensenergie speichern und dem Menschen zuführen kann.

Jorgos Kavouras: "Was für mich wichtig ist, ist, dass er funktioniert, und dass er im Inneren ein Energiegefälle konstruiert, von außen zu innen. Das heißt hier im Raum, die Energie sei eins. Der Orgon-Akkumulator ist in der Lage, in einem bestimmten Raum, nämlich in seinem Inneren, diese Energie um den Faktor drei bis fünf bis sechs zu erhöhen."

Das ist natürlich empirisch nicht verifizierbar. Überdies sind die späten Theorien Reichs derart abstrus, dass es von offizieller Wissenschaftsseite kaum Bestrebungen gibt, diese zu überprüfen. Das wiederum beklagt die Vorsitzende der Wilhelm-Reich-Gesellschaft, Heike Buhl:

"Reich wird ja einfach ignoriert. Denken sie an den Artikel im Stern über Freud, da ist Reich als Schüler einfach überhaupt nicht erwähnt worden und die Verfahren, die er anwendet, die halten jetzt wieder Einzug in die Psychoanalyse, die körperorientierten Verfahren, aber ohne seinen Namen zu nennen."

Wihelm Reich baute die Orgon-Theorie zu einer ganzen Kosmologie aus; zunächst sollten alle Lebensvorgänge auf Orgon-Strömungen basieren. Darüber hinaus würde Orgon die Atmosphäre beeinflussen: Winde, Stürme und Wolkenbildung. Viele rätselhafte klimatische Effekte ließen sich nach Reich plötzlich erklären. In seinem späten Buch: "Cosmic Superimposition" behauptet er schließlich, Materie bilde sich durch den Zusammenfluss von Orgonströmen in bestimmten Winkeln, und in "Contact with Space" meint er, das Rätsel um die Entstehung von Galaxien und Sternnebel endlich gelöst zu haben. Das erzeugt natürlich einen heiligen Schauer.
Reich: "Die Helle, die man der Kenntnis der Orgon-Energie verdankt, wiegt reichlich den Schrecken auf, den man erlebt, wenn sich die großen Rätsel der Natur enthüllen."
Jorgos Kavouras: "Dass diese Energie, wenn sie nur lange genug - ich sag's einmal auf einfaches Deutsch gebracht - geärgert wird, sich durchaus in ein Gegenteil entwickeln kann und in dieser Zustandsform ihre Fähigkeit sich zu bewegen verliert, und gleichzeitig ein Substrat von Krankheit repräsentiert."

Später meinte Reich, das DOR entdeckt zu haben, eine Art pervertiertes Orgon, das allerlei schädliche Effekte hervorbringt, unter anderem die Wüstenbildung. Er entwickelte ein Gerät, den sogenannten Cloudbuster, mit dem die tödliche Energie abgesaugt werden sollte. Reich ging mit diesem Gerät in die Wüste und siehe da: die Wüste wurde grün.

Jorgos Kavouras: "Man könnte sagen, das ist so was wie Himmelsakupunktur, das fand ich eigentlich ganz treffend, weil eigentlich sind es ganz kurze Stangen, so vier bis sechs Meter lange Stangen, die Wolken beeinflussen können, das klingt doch sehr abenteuerlich, wenn man's nicht wirklich gesehen hat, würde man es wahrscheinlich nicht glauben."

Hier fragt sich in der Tat, warum der offizielle Forschungsbetrieb, insbesondere aber das Militär, nicht auf diese sensationellen Entdeckung gekommen ist, wäre doch die systematische Klimabeeinflussung ein Machtfaktor sondergleichen; allein, diese Frage wird wiederum von den Anhängern Wilhelm Reichs ignoriert.

Reich baute sich in den vierziger Jahren im amerikanischen Bundesstaat Maine eine eigene Forschungsstätte auf, die er Orgonon nannte und wo er mit Anhängern diverse Experimente durchführte. Teilweise waren diese Versuche gefährlich, zumal es auch zu größeren radioaktiven Verseuchungen gekommen sein soll. Abenteuerliches wird berichtet: S soll Reich auch versucht haben, eine Art Orgon-Motor zu bauen. Insgesamt blieben bis heute die Aktivitäten auf Orgonon geheimnisumwittert. Nicht zuletzt deshalb, da Reich auch behauptete, Außerirdische hätten den Kontakt mit ihm gesucht. Die Vorsitzende der Reich Gesellschaft:

Heike Buhl: "Dass es in dieser Zeit sehr viele Ufo-Sichtungen gegeben hat, ist belegt, seine Tochter Eva Reich war mit ihm in der Wüste und hat mit ihm diese Experimente durchgeführt und sagt selber, dass sie die Ufos gesehen hat."

Bei den amerikanischen Behörden schon immer als Ex-Kommunist gebrandmarkt und aufgrund seiner mysteriösen Aktivitäten beargwöhnt, erhob man schließlich 1954 Anklage gegen den Erfinder oder Entdecker, wie man will, gegen Wilhelm Reich. Er würde betrügerische Reklame für seinen Orgon-Akkumulator machen. Er wurde aufgefordert, alle Apparate zu zerstören, seine Bücher wurden vernichtet. Reich leistete dieser Anordnung nicht Folge und wurde 1956 wegen der Missachtung gerichtlicher Anordnungen zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Im Gefängnis entwickelte Reich Märtyrerphantasien, die teilweise doch deutlich paranoiden Charakter annahmen. In seiner Schrift: "Hör zu, kleiner Mann!" rechnet er mit der dummen Menschheit ab.

Reich: "Was du auch mit mir gemacht hast oder in Zukunft machen wirst, ob du mich nun als Genie in den Himmel hebst oder mich in eine Heilanstalt steckst, ob du mich als deinen Retter anbetest oder als Spion aufhängst, früher oder später wird dich die Notwendigkeit dazu zwingen einzusehen, dass ich die Gesetze des Lebens entdeckt habe. Deine Enkel werden in meine Fußstapfen treten. Ich habe dir den unendlich weiten Bereich des Lebens in dir erschlossen, den deiner kosmischen Natur. Das ist mein großer Verdienst."
Nach einem Jahr im Gefängnis, am 3. November 1957, also vor fast genau fünfzig Jahren, starb Wilhelm Reich. In seinem Testament verfügte er:

"Ich weise meinen Nachlaßverwalter und seine Nachfolger an, dass nicht das geringste an irgendeinem der Dokumente geändert werden darf und dass sie fünfzig Jahre lang weggelegt und verschlossen gehalten werden, damit sie vor Zerstörung und Fälschungen sicher sind."
Heike Buhl: "Wir erwarten eigentlich keine großen Erkenntnisse, vermutlich sind in diesen Kisten sehr viele Protokolle über Behandlungen oder über Versuchsabläufe. Wir müssen uns da überraschen lassen, denn das ist ja eine ganze Menge, über 280 Kisten, die müssen erstmal gesichtet werden. Dazu müssen Gelder da sein, auch das wird eine Schwierigkeit sein."

"Holger hat eine Männergruppe gegründet. Den können wir endgültig abschreiben. Er sagt, wir müssten richtig atmen lernen - als ob uns das im politischen Kampf weiterbringen würde. Sag mal einem Arbeiter: atme richtig. Der lacht dich aus. Sexuelle Revolution schön und gut, aber die Imperialisten juckt das nicht, die machen noch ein Geschäft daraus."

Wilhelm Reich, so kann man sagen, gehört zu den tragischen Figuren der Geschichte der Wissenschaften, sofern seine Entdeckungen mit ihm sozusagen durchgegangen sind. Man kann diese Tragödie psychoanalytisch deuten: der Verlust beider Eltern, die früh erzwungene Selbständigkeit führten zu einem ständigen Kampf mit einer abwesenden Autorität, zur Sehnsucht nach dem, was einen in die Schranken weist. So musste er, immer dieser abwesenden Autorität trotzend und sie gleichzeitig fürchtend, ständig Grenzen überschreiten. Am Ende war eine psychotische Störung unübersehbar. Aber:

Jorgos Kavouras: "Wird Robert Schumann aus den Konzertsälen verbannt, nur weil er in seinen späten Jahren geisteskrank war?"

Diese psychoanalytische Deutung jedoch wird jenen Teilen seines Werks nicht gerecht, die tatsächlich innovativ sind, etwa die Verbindung von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Auch die Einführung des Körpers in die Psychotherapie lässt sich ohne Zweifel als ein Verdienst Wilhelm Reichs behaupten, aber nicht als sein alleiniges. Könnte man den Rest vergessen, so hätte es man mit einem honorablen Forscher zu tun.

So aber bleibt er in gewisser Weise obskur; vor allem bleibt er aber auch eine Ikone der 68er-Bewegung. Mit ihm verbinden sich sentimentale Erinnerungen an entsprechende Diskussionszirkel, in welchen Charakterpanzer entdeckt und sexuelle Blockaden entlarvt wurden. Aufregend war das allemal, damals.
Der Psychiater, Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich in seinem Labor in Maine, USA
Der Psychiater, Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich in seinem Labor in Maine, USA© AP Archiv
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