Auf der Suche nach einer verlorenen Tradition
Manche Orgel in Deutschland stammt aus einer geplünderten Synagoge. Der Musikwissenschaftler Andor Izsák sucht im ganzen Land in Kirchen und Kellern und auf Dachböden nach alten Pfeifen, ganzen Orgeln - und nach den historischen Zusammenhängen.
Der geistliche Herr glaubte, sich verhört zu haben. Was wollte dieser quirlig-umtriebige Besucher von ihm? Die Orgel aus seinem Gotteshaus? Die nämlich sei, so erklärte er, während der NS-Zeit aus einer Berliner Synagoge ausgebaut worden und schließlich hier in dieser kleinen Dorfkirche in Hessen gelandet.
Andor Izsàk: "So habe ich eine Orgel entdeckt, die in einer kleinen katholischen Kirche war."
Der Pfarrer ist verdutzt, aber Andor Iszàk, lange Jahre Leiter des "Europäischen Zentrums für Jüdische Musik" in Hannover, bleibt hartnäckig:
Andor Izsàk: "So habe ich eine Orgel entdeckt, die in einer kleinen katholischen Kirche war."
Der Pfarrer ist verdutzt, aber Andor Iszàk, lange Jahre Leiter des "Europäischen Zentrums für Jüdische Musik" in Hannover, bleibt hartnäckig:
"Ich habe dann mit dem Pfarrer ausgemacht, ich darf die Orgel kaufen. Unter der Bedingung, dass diese Orgel dann in einer Synagoge stehen wird. Ich habe das versprochen, obwohl ich wusste, dass diese Möglichkeit in Deutschland nicht bestehen kann."
1938 verstummten die jüdischen Orgeln
Denn eine Orgel in einer Synagoge - das hatte es in den kleinen orthodoxen Einheitsgemeinden, die nach Kriegsende in Deutschland wiedererstanden waren, nicht mehr gegeben. Die Orgelmusik, die seit rund 200 Jahren den Gesang in den jüdischen liberalen Gemeinden begleitet hatte, war zumeist seit dem Novemberpogrom 1938 verstummt.
Ursprünglich gab es überhaupt keine Orgeln in jüdischen Gotteshäusern. Aus Trauer über die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. waren alle Musikinstrumente aus Liturgie und Synagoge verbannt und nur der unbegleitete Gesang zugelassen worden.
Izsàk: "Danach wollte die in die Welt zerstreute jüdische Gemeinschaft nichts mehr mit den Merkmalen des Tempelgottesdienstes zu tun haben."
Doch sie hatte nicht mit einem engagierten Pädagogen gerechnet, der 1810 alles umkrempelte und für einen handfesten Skandal sorgte. In dem kleinen Harzstädtchen Seesen nämlich öffnet der Lehrer Israel Jacobson seine jüdische Schule auch für nichtjüdische Kinder. Damit die aber nun singen und beten können, wie sie das von ihrer Kirche her gewohnt sind, lässt er, völlig arglos, eine Orgel einbauen. Und sorgt für einen kollektiven Aufschrei unter seinen Glaubensbrüdern.
Izsàk: "Die jüdische Umwelt war entsetzt. Was er getan hat, war ein ganz harter Tabubruch. Die Orgel war für die Synagogen in der Diaspora verboten. Der arme Israel Jacobson wusste gar nicht, dass er mit dieser Tat eigentlich das liberale Judentum erfunden hat. Und plötzlich wurde so was Ähnliches wie ein Schisma eingeführt und plötzlich standen auf der einen Seite die Freunde der Orgel und auf der anderen Seite die Gegner der Orgel. Und das führte zu einem historischen Orgelstreit, wo die großen Rabbiner darüber diskutierten, ob es gestattet ist überhaupt, Orgel im Gottesdienst zu spielen."
"Örgler" und "Nörgler"
Die beiden feindlichen Parteien, spöttisch als "Örgler" und "Nörgler" bezeichnet, lieferten sich unerbittliche Auseinandersetzungen. Denn in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Ruf nach einer Reform des jüdischen Gottesdienstes immer lauter geworden. Die Orgel wurde von den Reformern als Zeichen für Fortschritt und Modernität gewertet; die Orthodoxen dagegen betrachteten Orgelmusik in der Synagoge als Symptom einer schleichenden "Christianisierung" des Judentums.
Schließlich trugen die Reformer den Sieg davon und es entwickelte sich eine ganz eigene deutsch-jüdische Orgelmusik, deren berühmtester Repräsentant der in Berlin wirkende Komponist Louis Lewandowski wurde. Es war eine Musik mit eindeutigen Anleihen an Klassik und Barock. Wie beim Lied "Ma Towu" - "Wie schön sind deine Zelte, Jakob"- dem Gesang beim Eintritt in die Synagoge.
Izsàk: "Lewandowski hat das so vertont, natürlich kennt man das. Das ist die berühmte Arie 'Caro mio ben' von Giordani."
Während der Pogromnacht 1938 gingen zahllose dieser Synagogenorgeln in Flammen auf, andere wurden geraubt, verkauft, versteckt, aus Synagogen aus- und in Kirchen wieder eingebaut. Diese Geschichte ließ Andor Izsák nicht los und so wurde er zu einer Art "Noten- und Orgeldetektiv". Landauf, landab durchkämmt er Kirchen nach Synagogenorgeln, Speicher und Keller nach Noten und Handschriften synagogaler Musik.
Verbindung zwischen Kirche und Synagoge
Längst hat er eine "Spürnase" dafür entwickelt, wo die eine oder andere Orgel noch zu finden ist. Zwar sagt er von sich selbst, etwas "meschugge" sei er schon, doch der Erfolg gibt ihm recht: Acht Orgeln hat er inzwischen aufgetrieben. Sie waren gestohlen und vergessen worden. Niemand hatte sie katalogisiert.
Das vor vielen Jahren dem katholischen Pfarrer einer kleinen hessischen Dorfkirche gegebene Versprechen konnte Izsák dann doch noch einlösen. Nachdem er 1992 das "Europäische Zentrum für Jüdische Musik" in der Villa Seligmann in Hannover gegründet hatte, fand "seine" Orgel dort im großen Saal ihren Platz.
Dass die Orgel das wichtigste Verbindungsglied zwischen Synagoge und Kirche sein kann, davon ist Andor Izsák fest überzeugt:
"Die Kultur und die Musik trägt uns, und sie verbindet uns."