Orgelbauer Kristian Wegscheider

Der Herr der Pfeifen

36:20 Minuten
Blick auf eine historische Engelsfigur, die eine goldene Geige spielt und direkt neben den neuen Orgelpfeifen steht.
Kristian Wegscheider baute eine neue Orgel in altem Gewand: die Orgel in der Kulturkirche St. Jakobi in Stralsund. © picture alliance/dpa | Stefan Sauer
Von Friederike Kenneweg |
Die barocke Orgel in St. Jakobi in Stralsund wurde von 2017 bis 2020 restauriert. Sie ist eine der über 100 Orgeln, die Kristian Wegscheider und seine Mitarbeiter wieder zum Leben erweckten. 51 Register mussten nach historischem Vorbild neu konzipiert werden.
"Die Vielfalt im Orgelbau ist die größte, die es überhaupt im Musikinstrumentenbau gibt. Es gibt kein Musikinstrument, was so vielfältig und so komplex ist", sagt Kristian Wegscheider über sein Metier. Wer ihn in seiner Werkstatt in einem Dreiseitenhof am Rande von Dresden besucht, bekommt eine Ahnung davon, was er damit meint. Schon die Vielfalt der Materialien, mit denen im Orgelbau gearbeitet wird, ist beeindruckend.
"Wir arbeiten mit Warmleim, Hautleim, Knochenleim, mit Lindenholz, Fichtenholz, Eichenholz, Buche, Ahorn, Weißbuche, Ulme, Kirschbaum, Birnbaum, Nussbaum, mit Rindsleder, Schafsleder, Ziegenleder, Pergament, mit Zinn, Blei, Kupfer, etwas Antimon, Silber, Wismut und Arsen."
Ein Mann steht schraubend an einem Holzkasten, an dem zwei Tastaturen montiert sind.
Orgelbauer Kristian Wegscheider bei der Arbeit in seiner Werkstatt in Hellerau.© IMAGO / momentphoto / Killig
Jedes Material vom Holz über Leim und Leder bis zur Metalllegierung der Pfeifen bringt eigene Herausforderungen mit sich. Über die Jahre haben Kristian Wegscheider und seine Kollegen viel Zeit, Geld und Mühe investiert, um überall zu den besten Lösungen zu kommen.

Holz von Fichten und Kirschen

Um immer das richtige Holz griffbereit zu haben, pflegt Kristian Wegscheider ein großes Holzlager auf dem Außengelände der Werkstatt. Wenn es bei einer Restaurierung nötig sein sollte, kann er so auch auf ungewöhnliche Holzarten zurückgreifen. Außerdem ist es wichtig, auf welche Art die Bretter aus den Baumstämmen geschnitten werden. Es muss auf stehende Jahresringe geachtet werden, damit sich das Holz so wenig wie möglich verzieht.
Durch einen kleinen Riss im Holz könnte der Wind nämlich entweichen. Auch wenn nur eine Taste angespielt wird, würde durch den Riss im Holz mit einem Zischen oder Säuseln noch ein weiterer Ton miterklingen. Etwas, das es unbedingt zu verhindern gilt.

Leder und Pergament

Auch das Leder, aus dem der Blasebalg besteht und mit dem Windkanäle, Züge und Pfeifen abgedichtet werden, muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Ist das Leder zu sauer gegerbt, kann es passieren, dass es zu einer chemischen Reaktion mit der Pfeifenlegierung kommt, was im schlimmsten Fall zur Zerstörung der Pfeifen führen kann.
Ein Mann steht neben einem offenen Orgelkasten, in dem verschieden große, verstaubte Orgelpfeifen stehen. Er hat eine der alten Zinnpfeifen in der Hand und betrachtet ihren Zustand.
Orgelbauer Kristian Wegschneider hat auch die Orgel in der evangelischen St. Pankratius Kirche in Hamburg/Neuenfelde restauriert.© IMAGO / epd-bild / Stephan Wallocha
Von einem Institut in Freiberg, das auf Lederverarbeitung spezialisiert ist, hat Wegscheider sich deshalb extra Leder gerben lassen, so wie es im 18. Jahrhundert hergestellt wurde. Aus einer Trommelfellfabrik bezieht er Pergament, das in seltenen Fällen in Tastenscharnieren zum Einsatz kommt.

Hasenhaut und Knochen

Bei ihren Restaurierungen benutzen die Handwerker der Werkstatt Wegscheider keinen Weißleim oder PVC-Leim, wie er sonst in Tischlereien üblich ist. Stattdessen stehen angewärmte Töpfe mit einer Art bräunlicher Suppe in den Werkstätten herum: Hasenhaut-Leim. Den traditionellen Leim zu benutzen, ist nicht nur ein Spleen, sondern hat ganz praktische Gründe. "Dadurch können wir in den alten Orgeln manche scheinbar unlösbar verleimten Dinge doch wieder lösen. und das ist ein Riesenvorteil."

Vom Darß nach Sachsen

Die Begeisterung für den Orgelklang wurde bei Kristian Wegscheider in seinem Heimatort geweckt. 1954 in Ahrenshoop auf der Ostsee-Halbinsel Darß geboren, hörte er in der dortigen Dorfkirche zu, als musikalisch gebildete Urlauber auf der dortigen Orgel spielten. In der Folge begann er, sich für Musik und Instrumentenbau zu interessieren. Er baute erste Flöten und einen Dudelsack.

Grundlagen und Spezialisierung

Ein Jahr lang arbeitete Kristian Wegscheider bei einem Tischler, um die Grundlagen des Handwerks zu erlernen. Danach begann er seine Ausbildung zum Orgelbauer bei der Firma Jehmlich in Dresden. Genau in diesem Moment stieß der angehende Orgelbauer auf einen neu gegründeten Fachschul-Fernstudiengang für Restaurierung.
Das Problem an der Sache: Man sollte dafür über zehnjährige Berufserfahrung verfügen, ein Facharbeiterzeugnis, also das DDR-Gegenstück zum Gesellenbrief in der Tasche haben und noch einen Meister. Obwohl er diese Voraussetzungen nicht im Mindesten erfüllte, fuhr Wegscheider nach Berlin, um den Leiter der Aufnahmejury davon zu überzeugen, ihn, den von historischen Orgeln so begeisterten Anfänger, in den Studiengang aufzunehmen - und es gelang.

Lernen von Gottfried Silbermann

Dank seiner Spezialisierung konnte Kristian Wegscheider bald in der Restaurierungsabteilung der Firma Jehmlich arbeiten. Und dort folgte ein weiterer großer Glücksfall für ihn: Er durfte die Orgel im Freiberger Dom St. Marien restaurieren. Eine Orgel aus der Barockzeit, die der große Orgelbaumeister Gottfried Silbermann im Jahr 1714 fertiggestellt hatte.
Blick von unten auf eine Orgelempore mit barock verziertem Instrument.
Schöner Arbeitsplatz: Gottfried Silbermann Orgel auf der Empore im Dom Sankt Marien in Freiberg im Erzgebirge © IMAGO / Werner Otto
"Diese Orgel war meine Lehrmeisterin, da habe ich am meisten gelernt, bei dieser Restaurierung. Wenn ich überlege, was ist richtig, was ist gut, dann ist diese Orgel immer so ein Regulativ."

Selbständiger Unternehmer in der DDR

Im Dezember 1988 gründen Kristian Wegscheider, Hartmut Schütz und der Tischler Matthias Weisbach ihre eigene Orgelwerkstatt. Bis zum Sommer dauerte es noch, bis geeignete Räumlichkeiten für das Unternehmen gefunden waren. Der erste größere Auftrag, den die Restaurierungswerkstatt Wegscheider bekam, war ausgerechnet ein Neubau. In der Schlosskapelle von Allstedt bei Querfurt durften die jungen Orgelbauer ihr erstes eigenständiges Werk realisieren.
In Allstedt hatte im Jahr 1524 der Reformator Thomas Müntzer eine berühmte Predigt gehalten. Von dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher politischer und musikalischer Strömungen an diesem Ort inspiriert, wagten Wegscheider und seine Mitstreiter das Experiment, zwei Stimmungssysteme gleichzeitig in ihre erste neu gebaute Orgel einzubauen.

Die Orgel als Abbild der Gesellschaft

Der Aufbau einer Orgel mit den vielen Pfeifen symbolisiert für Kristian Wegscheider auch ein Stück weit die Gesellschaft. "Es werden alle gebraucht, auch die ganz kleinen unwichtigen. Es gibt Holzpfeifen, Metallpfeifen, Bleipfeifen, ein Sammelsurium an Formen, wie es ein Sammelsurium an Formen auch in den Menschen gibt. Wir sind nicht alle gleich, aber wir sind alle gleichwertig, und wir haben alle eine Funktion."
Blick in ein Kirchenschiff, in dem die Sitzbänke als Lagerort für großformatige Holzteile umgenutzt sind. Im Hintergrund sieht man ein Kreuz, die Kanzel und Kirchenfenster.
Vor dem Einbau der neuen Orgel in der Kirche in Alt-Pankow werden die Bestandteile des riesigen Instruments auf den Kirchenbänken zwischengelagert.© Deutschlandradio / Friederike Kenneweg
Dieser Gedanke bestimmt in der Firma Wegscheider auch die Bezahlung: Alle Mitarbeiter erhalten den gleichen Lohn, egal wie lange sie schon für die Orgelwerkstatt arbeiten.

Jeden Tag dazulernen

Im Moment werden gleich mehrere Orgelprojekte in der Werkstatt von Kristian Wegscheider bearbeitet. Am Computer laufen die Planungen einer Orgel, die eines Tages in Norwegen stehen soll. Für die Windlade einer anderen Orgel wird Holz zugeschnitten. Und in der Pfeifenwerkstatt werden die Pfeifen eines Restaurierungsprojekts in Havelberg bearbeitet und in die richtige Form gebracht.
Über hundert Orgelprojekte hat Kristian Wegscheider über die Zeit mit dem Team seiner Werkstatt realisiert. Aber genug hat er noch lange nicht. "Ich habe immer noch das Gefühl, ich lerne jeden Tag dazu. Man wird nie fertig, es ist so komplex, das Musikinstrument Orgel – und es ist so fantastisch."
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