Orgie der Nächstenliebe
Alkestis erfreut sich fortdauernd einer gewissen Beliebtheit. Mit Christoph Willibald Glucks "Reformoper" von 1767/1776 geht es noch einmal um die menschheitsbewegende Frage des Menschenopfers (allerdings ein freiwilliges).
Obwohl das Sujet dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert fernzuliegen scheint – immerhin opfert sich die königliche Titelheldin als Ehefrau für ihren Mann – wurde sie in den letzten Jahren wenigstens ein halbes Dutzend mal reaktiviert: von Robert Wilson am Staatstheater Stuttgart und bald darauf noch einmal vom designierten Intendanten Jossi Wieler, in Nürnberg in unmittelbarem Vergleich zu den gleichnamigen Schwestern von G.F. Händel und Anton Schweitzer, zuletzt an der Oper Leipzig in gründlich missratener Produktion von Peter Konwitschny.
Nun hat die Orgie der Nächstenliebe Aix-en-Provence erreicht. Christof Loy rückte Ranieri de' Calzibighis Handlung aus der Prähistorie an die Gegenwart heran und in steriles Weiß. Eine Wand verengte die flache breite Bühne, die in der Mitte mit einem Scheunen- oder Garagentor versehen wurde, das gelegentlich einen Blick in das dahinter liegende Schlaf- bzw. Sterbezimmer freigibt. Die altgriechische bzw. habsburgisch-bourbonische Königshäuslichkeit wurde ins wilhelminische Deutschland übersetzt: die Königs- wie die Landeskinder erschienen als eine große Klasse, gekleidet wie um 1910 (die Jungs in knielangen kurzen Hosen) – säuberlich unterschieden in den Graden der Verklemmung, der Betroffenheit und Bewegtheit. Möglicherweise war Loy vom Film "Das weiße Band" von Michael Haneke inspiriert. Der Priester Apolls mutierte zu einem leicht sadistisch veranlagten preußisch-protestantischen Pfarrer.
Joseph Kaiser, der König, singt kräftig, gradlinig und mit warmer Emphase für die geliebte Gattin. Deren Partie ist bei Véronique Gens bestens aufgehoben: Mit perfekt geführtem Sopran stellt sie die "natürliche" Empfindsamkeit ebenso selbstverständlich aus wie vor allem das anrührende Leiden. Glucks Instrumentalpart wurde (wie am Vorabend der Mozartsche) vom aufgerüsteten Freiburger Barockorchester auf witterungsempfindlichen Darmsaiten und historisch gebohrten Rohren absolviert. Wie das Balthasar-Neumann-Ensemble ersetzt nun auch dieses andere Freiburger Spezialensemble auf internationalem Parkett die aus öffentlichen Mitteln besoldeten Symphonieorchester und rückt so durch die Hintertür zu diesen auf (allerdings ohne gewerkschaftliche Absicherung für die in einem solchen Klangkörper dienenden Freelancer). Das Brio, für das Louis Langrée am Vorabend anlässlich von Mozarts "Don Giovanni" erreichte, will sich unter den Händen von Ivor Bolten nicht einstellen.
Als 'aixorbitant' erwies sich Dmitri Tcherniaskovs Interpretation der "Oper aller Opern": sensationell war die Personenführung rings um Don Giovanni, die Genauigkeit von Mimik und Gestik der Sängerdarsteller im hochherrschaftlichen Ambiente der Erben einer großen Vergangenheit – alle Szenen spielen in einem Raum und in langer verwandtschaftlicher Vertrautheit: Die Klassenunterschiede sind aufgehoben und durch Differenzierung der Lebensstile ersetzt. So entstand dank feinsinniger Bosheit ein italo-russisches Sittengemälde der Gegenwart, das allerdings in der zweiten Halbzeit an Plausibilität und Spannkraft verlor.
Nun hat die Orgie der Nächstenliebe Aix-en-Provence erreicht. Christof Loy rückte Ranieri de' Calzibighis Handlung aus der Prähistorie an die Gegenwart heran und in steriles Weiß. Eine Wand verengte die flache breite Bühne, die in der Mitte mit einem Scheunen- oder Garagentor versehen wurde, das gelegentlich einen Blick in das dahinter liegende Schlaf- bzw. Sterbezimmer freigibt. Die altgriechische bzw. habsburgisch-bourbonische Königshäuslichkeit wurde ins wilhelminische Deutschland übersetzt: die Königs- wie die Landeskinder erschienen als eine große Klasse, gekleidet wie um 1910 (die Jungs in knielangen kurzen Hosen) – säuberlich unterschieden in den Graden der Verklemmung, der Betroffenheit und Bewegtheit. Möglicherweise war Loy vom Film "Das weiße Band" von Michael Haneke inspiriert. Der Priester Apolls mutierte zu einem leicht sadistisch veranlagten preußisch-protestantischen Pfarrer.
Joseph Kaiser, der König, singt kräftig, gradlinig und mit warmer Emphase für die geliebte Gattin. Deren Partie ist bei Véronique Gens bestens aufgehoben: Mit perfekt geführtem Sopran stellt sie die "natürliche" Empfindsamkeit ebenso selbstverständlich aus wie vor allem das anrührende Leiden. Glucks Instrumentalpart wurde (wie am Vorabend der Mozartsche) vom aufgerüsteten Freiburger Barockorchester auf witterungsempfindlichen Darmsaiten und historisch gebohrten Rohren absolviert. Wie das Balthasar-Neumann-Ensemble ersetzt nun auch dieses andere Freiburger Spezialensemble auf internationalem Parkett die aus öffentlichen Mitteln besoldeten Symphonieorchester und rückt so durch die Hintertür zu diesen auf (allerdings ohne gewerkschaftliche Absicherung für die in einem solchen Klangkörper dienenden Freelancer). Das Brio, für das Louis Langrée am Vorabend anlässlich von Mozarts "Don Giovanni" erreichte, will sich unter den Händen von Ivor Bolten nicht einstellen.
Als 'aixorbitant' erwies sich Dmitri Tcherniaskovs Interpretation der "Oper aller Opern": sensationell war die Personenführung rings um Don Giovanni, die Genauigkeit von Mimik und Gestik der Sängerdarsteller im hochherrschaftlichen Ambiente der Erben einer großen Vergangenheit – alle Szenen spielen in einem Raum und in langer verwandtschaftlicher Vertrautheit: Die Klassenunterschiede sind aufgehoben und durch Differenzierung der Lebensstile ersetzt. So entstand dank feinsinniger Bosheit ein italo-russisches Sittengemälde der Gegenwart, das allerdings in der zweiten Halbzeit an Plausibilität und Spannkraft verlor.