Orhan Pamuk: "Die rothaarige Frau"

Im Bann des Autoritären

Cover des Buches Orhan Pamuk: "Die rothaarige Frau"
Eine schöne rothaarige Schauspielerin gibt dem Buch den Titel. © imago stock&people / Hanser Verlag
Von Ingo Arend |
Gottvater, Vater Staat, Generäle oder die Mafia – an Autoritäten mangelt es nicht im neuen Roman "Die rothaarige Frau" des türkischen Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk. Was den beiden jungen Protagonisten aber fehlt, ist ein Vater. Aggressiv und ängstlich sind sie auf der Suche nach Orientierung.
"Wie ein vaterloses Gespenst wanderte ich lange durch die Straßen": Auf den ersten Blick scheint Orhan Pamuks Roman "Die rothaarige Frau" Alexander Mitscherlichs Diagnose von dem "Weg zur vaterlosen Gesellschaft" zu variieren. Denn dieses Schicksal - keinen Vater zu haben - teilen gleich zwei wichtige Protagonisten des neuesten Werks des türkischen Literaturnobelpreisträgers. Der Vater des jungen Cem, dem Ich-Erzähler, von dem der Stoßseufzer stammt, verließ seine Familie. Und der junge Enver, den Cem als erwachsener Mann am Ende der Geschichte trifft, wuchs ebenfalls ohne Vater auf. Beide sind Charaktere, wie sie der deutsche Soziologe in seinem Bestseller von 1963 beschrieb: aggressiv und ängstlich, auf der Suche nach Orientierung.

Motiv des Brunnenbaus

Um den Weg der Türkei von der ländlichen Clan- zur industriellen Massengesellschaft, die für dieses Trauma verantwortlich ist, geht es aber nur nebenbei in Pamuks Roman "Die rothaarige Frau". Als Cem als junger Mann aufbricht, um Meister Mahmut in dem Kaff Öngören beim Bau eines Brunnens zu helfen, hört Istanbul hinter der alten Stadtmauer auf. Als er viele Jahre später als wohlhabender Bauunternehmer in den Flecken zurückkehrt, ist der längst in der wuchernden Metropole verschwunden. Der Brunnen, den er einst grub, ist nur noch ein modriges Relikt.


Wir haben mit Orhan Pamuk über sein Buch und die aktuelle Situation in der Türkei gesprochen. Hier können Sie das Gespräch nachhören:
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Der Schriftsteller Orhan Pamuk im Mai 2017 in Helsinki
© picture alliance / Roni Rekomaa
Eher erzählt Pamuk eine Geschichte der Verstrickungen im Banne des Autoritären. Es ist nur scheinbar ein Gegensatz zu dem Motiv der Vaterlosigkeit, wenn die schöne rothaarige Schauspielerin, die dem Buch den Titel gibt, Cem bei ihrer ersten Begegnung in Öngören sagt: "An Vätern mangelt es nicht in diesem Land. Vater Staat. Gottvater. Die Generäle spielen sich als Väter auf, und sogar die Mafia. Ohne Vater kann hier keiner leben." Denn dem Leiden der jugendlichen Protagonisten an der fehlenden Autorität entspricht ihre Hassliebe zu dem Übervater. Cem fürchtet Meister Mahmut, steht aber unter dem "Drang, ihn nur ja zufriedenzustellen". Im Moskauer Tretjakow-Museum überfällt den erfolgreichen Unternehmer Cem vor Ilja Repins Gemälde "Iwan der Schreckliche" diese "einschüchternde Angst vor dem Staat". Nicht umsonst trug Mustafa Kemal, der Gründer der modernen Türkei, den Ehrentitel "Atatürk – Vater aller Türken" ein.

Novellenartig verdichtet

Mit "Die rothaarige Frau" beweist Pamuk, sonst eher Epiker, wie gut er die kleine Form beherrscht. Schnörkellos, zielstrebig, geradezu novellenartig verdichtet treibt er die Geschichte voran. Spinnt sie zugleich aber kunstvoll in den Kokon der Mythen von Ödipus beziehungsweise Rostam und Sohrab ein: Schuld und Sühne, Väter und Söhne, Schicksal und Selbstbestimmung. So wie er dabei die griechische Sage und die Legende aus dem Heldenepos "Schahname" des persischen Dichters Firdausi verknüpft, sind Ost und West nur zwei spiegelverkehrte Seiten der archaischen Mythen, in denen die modernen Menschen noch immer gefangen sind. Und in dem Motiv des Brunnenbaus scheint sowohl die Romantik wie die Mystik auf: Beide propagieren die Reise nach innen.
Am Ende kommt es, wie es kommen muss. Die Befreiung von seiner "unendlichen Schuld", die sich Cem mit der nostalgischen Reise nach Öngören erhofft, endet im Desaster. Vor den Söhnen sterben eben doch die Väter. Aber Orhan Pamuk weiß, wovon er schreibt. Immer wenn sein eigener Erzeuger eine neue Geliebte hatte, litt die Familie, so schrieb er einmal melancholisch, unter der "Abwesenheit unseres Vaters".

Orhan Pamuk: "Die rothaarige Frau"
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier
Hanser Verlag, München 2017
288 Seiten, 22 Euro

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