Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Die Originaltöne dieser Woche stammen von der Autorin Inger Maria-Mahlke. Es sind Schnipsel aus der Werkstatt der Autorin, Texte und Gedankensplitter, die Auskunft geben über das, was sie gerade interessiert. Inger-Maria Mahlke bezeichnet ihre Originaltöne selbst als "Aufgelesenes am Wegrand".
Auszüge vom 12. Oktober 1571
Die Autorin Inger-Maria Mahlke, unter anderem Preisträgerin des Open Mike, präsentiert in dieser Woche Gedankensplitter aus ihrer Werkstatt. Heute liest sie Auszüge aus dem Roman "Wie ihr wollt", der im März 2015 erscheint.
Der Roman "Wie ihr wollt" (erscheint im März 2015) besteht aus Tagebucheinträgen und Listen, verfasst von einer Figur namens Mary Grey im Jahr 1571. Inger-Maria Mahlke dazu: "Es ist kein historischer Roman, zumindest nicht im klassischen Sinne, sondern die Bearbeitung eines historischen Stoffes. Das ist für mich ein Unterschied."
Hauptereignis des Tages: Drei Raben haben einen kleinen Turmfalken in den Innenhof getrieben. Tanzen um ihn herum durch die Luft, die Federn gespreizt, an den Flügelenden geformt wie Schneiden.
Langeweile ist ein sanftes Tuch. Nur, dass nach kurzer Zeit irgendwas straff wird, sehr straff, zwischen Becken und Kehle, wie Bänder, aufgespannte Bänder, vom Unterleib durch den Oberkörper hoch zum Hals.
Sogar die Küchenneuigkeiten sind ermüdend: Greshams Alte hat mehr Personal eingestellt, wieder eine Köchin, ist zu geizig für einen Koch.
Es regnet, es regnet, die Ernte wird nass. Das sei nicht lustig, das bedeute Hunger, Ellen ist heute sehr humorlos.
Die Alte will wieder aufs Land. Zetert. Nicht mit mir, nicht am Treppenaufgang. Greshams Antworten nur unregelmäßige, knappe Pausen, willkürlich gesetzt und zu leise, als dass ich sie hören könnte. Krank sei sie, Malade, wiederholt die Alte ständig, hält das Wort für elegant. Eine Falle sei die Stadt, fliehen müssten sie, vor dem stinkenden Fluss, den Dämpfen. Morgens lägen die vielleicht friedlich weiß über dem Wasser, doch nachts kröchen sie in die Häuser, in den Körper hinein, zerstörten die Balance, das ausgewogene Verhältnis der Körperflüssigkeiten. Sie sei melancholisch, ohne einen Löffel Suppe gegessen zu haben, und er, Gresham, müsse voller gelber Galle sein, sonst würde er nicht so rücksichtslos, so hartherzig mit ihr umspringen. Was nütze es, Häuser auf dem Land zu besitzen, wenn einem verboten werde, sie aufzusuchen und sei es, um sein blankes Leben zu retten. Lady Mary, Lady Mary, Lady Mary, äfft sie ihn nach. Wenn er nicht ginge, sie würde gehen. Solle die Krone ihr doch Reiter hinterher schicken und sie verhaften. Vielleicht habe sie ja Glück und werde auch unter Hausarrest gestellt bei irgendjemanden, der mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun habe. Auf dessen Kosten sie sich breitmachen könne. Die Krone verlangt, die Krone verlangt, ruft sie in der großen Halle, bereits auf dem Rückzug, auf dem Weg in ihr Sitzzimmer.
Inger-Maria Mahlke, geboren 1977 in Hamburg, wuchs in Lübeck auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete am Lehrstuhl für Kriminologie. Sie ist Trägerin des 17. Open Mike 2009 sowie des ersten Debütpreises des HarbourFront-Literaturfestivals 2010 für ihren Roman "Silberfischchen". 2012 erhielt sie bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt den Ernst-Willner-Preis für einen Auszug aus ihrem zweiten Roman "Rechnung offen" (2013), der von Kritik und Lesern gefeiert und 2014 auch mit dem Karl-Arnold-Preis der Akademie der Künste und Wissenschaften von NRW ausgezeichnet wurde. Mahlke lebt in Berlin.