Originalton

Beim Frisör

Der Schriftsteller David Wagner
Der Schriftsteller David Wagner © dpa / picture alliance / Horst Galuschka
Von David Wagner |
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche von David Wagner.
Ich sitze beim Frisör.
Es ist mal wieder Zeit.
Ich sitze auf dem Stuhl vor dem Spiegel und sage: Wie immer.
Ich bin gern beim Frisör.
Eine Auszubildende wäscht mir die Haare. Zehn Fingerkuppen kreisen auf meiner Schädeldecke. Es fühlt sich großartig an.
Es schäumt.
Sie fragt: Ist es nicht zu heiß?
Ich sage: Nein. Und denke: Mach für immer so weiter.
Im Raum stehen zwei kleine Frisierwagen mit je fünf schwarzen Schubladen. Ich sehe einen Sprühflakon, ich weiß, er ist mit Duftwasser gefüllt.
Es gibt zwei Trockenhauben an Gelenkarmen, sie ragen wie Insektenfühler aus der steinbloßen Ziegelwand.
Und eine ältere Heim-Trockenhaube, ähnlich der, die wir mal hatten, zuhause, vor bald vierzig Jahren, sie dient hier, umgebaut, als Lampe.
Avilio schneidet mir die Haare.
Ich sinke. Ich werde schwer und ganz leicht.
Liegt das daran, dass mein Frisör, mein vertrauter Frisör, mir nun auf meinem Kopf herumfummelt?
Ich werde leicht und ganz schwer und wieder leicht, alles fällt ab.
Gehe ich vielleicht wegen dieses Gefühls so gern zum Frisör?
Regt das Abschneiden der Haare, die ja aus meinem Kopf herauswachsen, etwas an in meinem Kopf?
Immer wenn ich beim Frisör bin, fällt mir ein, dass ich mein Leben ändern müsste.
Dass ich einiges anders machen müsste.
Mir fällt auch ein, was ich alles nicht gemacht habe.
Was ich nicht erledigt und wen ich vielleicht enttäuscht habe.
Die Frau auf dem Frisierstuhl nebenan erzählt, dass sie gerne in Island leben würde. Dann geht es um Wohnungen. Immer geht es um Wohnungen und wo und wie man eigentlich leben möchte. Auf dem Land. Auf einer Insel. In einem anderen Bezirk.
Ich sitze nur da, ich sinke.
Und schlafe, vielleicht passiert's, ganz kurz ein.
In Tolstois Anna Karenina ist der Frisörsalon der Ort, an dem Neuigkeiten ausgetauscht werden.
Von Avilio erfahre ich heute bloß, wie stark es gestern geregnet habe.
Dann hört unser Gespräch auch schon auf.
Avilio ist ein guter Frisör. Er quatscht mich nicht zu, er merkt, dass er mich heute nicht unterhalten muss.
Er kann mit allen. Und gibt mir für die Dauer meines Frisörbesuchs das Gefühl, wir seien beste Freunde.
Sind wir ja auch, oder?
Einen Fremden würde ich doch nie an meine Kopfhaut lassen.
Und an meine Augenbrauen.
Schon vorbei.
Noch ein wenig fönen.
Avilio hält mir den Spiegel hin, er zeigt mir seine Arbeit. Zeigt mir den, den er aus mir gemacht hat.
Sehr schön. Ich freue mich, bin zufrieden.
Ich fühle mich verwandelt, ich sehe aus wie neu.
Ich kann beschwingt nach Hause gehen.

"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". "Originalton", das sind kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten: alltägliche Beobachtungen, Befremdliches, Lebensroutinen, Lektüreerfahrungen, Glossen, Reisebeobachtungen. Vor allem ist "Originalton" auch ein Radioexperiment, denn die Aufnahmen kommen nicht aus dem Studio. Wir stellen denjenigen, die mitmachen, Aufnahmegeräte zur Verfügung für ihre "Originaltöne". Und sind gespannt auf die Ergebnisse. Wir werden auf diesem Sendeplatz kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.

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