Peggy Mädler wurde 1976 in Dresden geboren. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Dramaturgin. Sie ist Mitbegründerin des Künstlerkollektivs "Labor für kontrafaktisches Denken". Sie erhielt unter anderem das Alfred-Döblin-Stipendium der Berliner Akademie der Künste. "Legende vom Glück des Menschen", ihr erster Roman, erschien 2011 im Galiani Verlag. In der täglichen Rubrik "Originalton" der Sendung "Lesart" bitten wir Schriftsteller um kurze Texte.
Die erste Seite
Nie liest die Schrifststellerin Peggy Mädler von einem Buch zuerst die Mitte oder gar das Ende. Sie sucht die erste Seite, den Anfang, der wie eine wundersame Tür ist. Doch die Begegnung mit Menschen würde sie gerne anders beginnen.
Immer wieder aufs Neue: Die erste Seite eines Buches, die ersten Sätze und Absätze, die ich gleich in der Buchhandlung, in der Bahn oder später auf dem Sofa lese, dieses längst vertraute Gefühl von Anfang, jedes Mal. Die ersten Sätze und Absätze liest eine, die sich im Lesen sicher fühlt, es ist keiner dieser grundsätzlichen und mitunter vielleicht auch beschwerlichen Anfänge wie der Beginn des Lesens überhaupt, den ich vor Jahren einmal bei einem kleinen Jungen sah - und mir blieb fast der Atem weg dabei, als jenes Kind vor meinen Augen mit ausgestrecktem Zeigefinger erstmalig über die Zeilen fuhr.
Nicht das Laufen-Lernen, auch nicht das Sprechen- und Benennen-Lernen zuvor, nein, dieses Lesen-Lernen kam mir plötzlich wie ein Wunder vor, wie das unverhoffte Erscheinen einer bislang verborgenen, nun aber sichtbar gewordenen Tür. Und dahinter was? "Ceci n'est pas une pipe", schrieb René Magritte auf das Bild von einer Pfeife. Und der Junge, der in diesem Text nur die Beschreibung eines Jungen ist, sitzt an einem Küchentisch, vor sich das aufgeschlagene Buch, und fügt mit murmelnden Lippen abstrakte Zeichen zu Wörtern zusammen und die Wörter ergeben Sätze und die Sätze in seinem Kopf führen ihn in Welten hinein, die sind ihm nah oder fern.
Bei Erstbegegnungen ein paar Seiten vorspringen
Es gibt Momente, da ist mir das Bild einer Pfeife näher als die Pfeife in der Hand. Dann stehe ich ganze Nachmittage in Buchhandlungen herum und blättere erste Seiten auf. Nie lese ich von einem Buch zuerst die Mitte oder gar das Ende. Ich suche den Anfang, die wundersame Tür, von der aus gesehen, noch alles offen scheint und zugleich stellt sich bereits eine Vorahnung ein.
Bei Menschen ist das anders, gern würde ich in Erstbegegnungen ein paar Seiten vorspringen, vielleicht sogar direkt in die Mitte hineinspringen, dann wüsste man schon einiges über den anderen, hätte einen Anlass, einen roten Faden für das Gespräch. Selten, aber nicht unter den Tisch zu kehren sind diese merkwürdigen (ersten) Begegnungen, da redet man plötzlich wie ein Buch.