Originalton

Die Notizen

Eine ältere Frau blättert in einem Notizbuch - ihre Hände sind zu sehen.
Blättern im Notizbuch © picture alliance / dpa / Lehtikuva Sari Gustafsson
Von Bodo Morshäuser |
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. In dieser Woche befasst sich Bodo Morshäuser mit dem "Kerngeschäft" eines Autors.
Alles beginnt mit einem Einfall. Der Einfall muss notiert werden. Der Einfall ist nichts ohne die Notiz. Notizen passen überall hin, auf die Handinnenfläche ebenso wie auf eine Serviette. Ich kenne keinen Schriftsteller, der nicht irgendein System für Notizen hat. Einfachstes System ist das Notizheft. Also mehrere Notizhefte. Also mit den Jahren eine stattliche Reihe. Eine Notizheftbibliothek. Eine Zeit lang habe ich es mit kleinen Blocks versucht und die beschriebenen Seiten irgendwo hingelegt. Es war der direkte Weg ins Chaos. Was ich auch versucht habe: Ich kam immer wieder auf Notizhefte zurück.
Das sind die Ansprüche ans Notizheft: Der Zeilenabstand muss stimmen. Die Seitenzahl darf nicht zu niedrig und nicht zu hoch sein. Es muss strapazierfähig sein und im Sommer wochenlanges Herumtragen in Gesäßtaschen aushalten. Notizhefte sind Schätze, im doppelten Sinn. Was drinsteht, ist ein Schatz, der sich oft erst später ermessen lässt. Die Hefte selber sind es auch. Ich kaufe ziemlich oft Notizhefte. Öfter, als ich sie brauche. In einem meiner Schränke stehen sie alle und warten auf ihren Einsatz. Manche warten schon sehr lange. Ich kaufe sie am liebsten auf Reisen, in anderen Ländern, wo es andere Formate gibt.
Im Notizheft halte ich kleine Einfälle fest. Es gibt auch Notizen, die weit mehr sind. Ab und zu habe ich die Situation, dass ich nach getaner Schreibtischarbeit am späten Nachmittag die Wohnung verlasse und eines der Lokale aufsuche, von denen ich weiß, dass sich da auf guten Stühlen bei guten Getränken in angenehmer Umgebung sitzen lässt. Dort geht mir durch den Kopf, was ich am Nachmittag geschrieben habe. Jetzt fallen mir Passagen ein, die dazugehören. Ich schreibe sie, noch mit dem Schwung des Nachmittags, in ziemlich gelungenen Sätzen ins Notizbuch. Manchmal seitenlang.
Einmal, an einem verregneten Nachmittag, war ich müde, lustlos und absolut schlecht drauf. Ich schaute durch's Fenster eines Cafés auf die nassgraue Straße und dachte: wie deprimierend. Dann merkte ich: Das ist die Stimmung, mit der der Text, an dem ich seit Monaten sitze, anfangen muss. An einem Tag, an dem ich nicht mehr erwartet hatte, noch ein Wort auf's Papier zu bringen, schrieb ich ein paar schnodderige Sätze, die kurz zusammenfassten, was sich in dem Text abspielen würde. Bis zum Schluss, bis zum gedruckten Buch blieben diese ins Notizbuch, nun ja: gerotzten Sätze unverändert als Anfang der Geschichte stehen.
Der Schriftsteller Bodo Morshäuser ist gebürtiger Berliner und auch ein gestandener Radiomann. In den 70er-Jahren arbeitete er für den RIAS und den Sender Freies Berlin. Anfang der 80er-Jahre verfasste und moderierte er regelmäßig Sendungen der Reihe Plattensprünge im SFB-Jugendfunk. Noch heute verfasst er Radioerzählungen, Features und Rezensionen.
Bodo Morshäuser
Bodo Morshäuser© Privat
Als Autor wurde Morshäuser bekannt mit Romanen wie "Die Berliner Simulation", "Blende" oder "Der weiße Wannsee". In diesem Jahr erschien sein Roman "Und die Sonne scheint", eine Selbstbeobachtung über das Leben mit einer Krebserkrankung.
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