Stefan Weidner, Jahrgang 1967, arbeitet als Autor, Übersetzer und Literaturkritiker. Er hat zahlreiche Lyriker aus dem Arabischen übersetzt, darunter Adonis und Mahmud Darwisch - und er reist viel.
Für Deutschlandradio Kultur hat er Klassiker der Reiseliteratur neu gelesen - und mit eigenen Reiseerfahrungen kombiniert. Die ersten Folgen liefen in der Sendung "Lesart" als Sommerreihe "Mit Büchern reisen". Nun wird die Serie in der Rubrik "Originalton" fortgesetzt.
Gaza aus ferner Zeit
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller bitten. In dieser Woche liest Stefan Weidner Klassiker der Reiseliteratur neu.
"Gaza war nach europäischem Muster mit mehreren hintereinanderliegenden Verteidigungslinien und Reservestellungen ausgebaut worden. Es war so offensichtlich der stärkste Punkt des Feindes, dass die Engländer schon zweimal einen frontalen Angriff dagegen versucht hatten. Allenby, frisch aus Frankreich gekommen, bestand darauf, dass jeder fernere Angriff mit einer gewaltigen Übermacht an Mann und Geschützen durchgeführt und ihre Kampfkraft durch ungeheure Mengen von Nachschub aller Art sichergestellt werden musste."
(Zitat aus Lawrence von Arabien: "Die Sieben Säulen der Weisheit" (1917/1926))
Gaza scheint immer noch so stark umkämpft und befestigt wie im Ersten Weltkrieg, aber als ich vor dem letzten, gerade beendeten Krieg dort gewesen bin, habe ich anderes gesehen.
An einem Junimorgen wache ich im Norden des Gazastreifens auf, ganz verblüfft darüber, wie wunderbar ich geschlafen habe (nur wenige Autos fahren hier). Mein Hotel heißt "Museum", unten sind in einem großen Saal antike Fundstücke ausgestellt. Ich öffne die Tür zum Balkon, schaue aufs Meer und den Rohbau einer Moschee. Gazastreifen hin oder her, ein Strandspaziergang wär' jetzt das richtige! Feiner Sand ist das hier, aber viel Müll liegt herum, als fühlte sich niemand zuständig.
Da sehe ich zwei badende Pferde. Das Bild ist friedlich wie aus einer anderen Zeit, ich bin ganz verzaubert. Doch oben an der Moschee pfeifen und fuchteln die blau uniformierten Hamas-Polizisten mit den Armen, sie wollen nicht, dass ich fotografiere. Ich gehe weiter zu einem Strandbad, Schirme kann man sich ausleihen, Gruppen von Frauen mit Kindern sitzen herum. Im Norden sehe ich die Meerwasserentsalzungsanlage von Aschkelon und weiter östlich, hoch im Himmel, den israelischen Überwachungsballon beim Grenzübergang Erez.
Ich klettere die Böschung hinauf und zwischen Strand und Straße entdecke ich ein Karussell, Autoscooter, ein Riesenrad im Miniaturformat, ja einen kompletten Vergnügungspark, nur alles viel kleiner als bei uns, wie eine seltene Spezies von Spielplatzmutanten, die sich nur hier im Biotop von Gaza gehalten haben. Aus überzähligem Schrott sind die Geräte zusammengeschweißt, Marke Eigenbau wie die Raketen, die die Hamas nach Israel schießt, und weil alles so bunt ist, fühle ich mich wie in dem alten Farbfilm über den Zauberer von Oz.
Ich löse mich aus der Hypnose, in die mich diese magischen Spielgeräte versetzt haben und blicke hinaus aufs Meer. Zwei Schnellboote der israelischen Marine erkenne ich. Sie halten auf einen hölzernen Kahn zu, ein palästinensisches Fischerboot, das die von Israel verhängte Sechsmeilenzone zu verlassen droht. Die Schnellboote kreisen um den Kahn, drängen ihn ab, Katz und Maus.
Eine Kindheit in Gaza muss seltsam sein!