Ich erzähle nicht alles, was ich weiß, und weiß nicht alles, was ich erzähle. Das, was stimmt, ist immer nur die halbe Wahrheit, denn alles hat schließlich seine zwei Schattenseiten. Los Angeles, das in Kürze vielleicht die Stadt wird, die New York nicht mehr ist, nimmt an nichts, was man darüber erzählt, wirklich Anstoß, weil sich die Komplexität dieser Stadt nicht an einem Detail gleich welcher Polung abarbeitet, sondern absolut alles schluckt und zur unverzichtbaren Facette versilbert.
Die einen sagen, in einer solchen Stadt kann man nicht leben, die anderen sagen, es ist die Stadt, in der man leben muss. Dass alle reichen Menschen dort hinwollen, muss nicht bedeuten, dass alle Armen dort wegwollen, sogar eher das Gegenteil. Die einen sagen, Los Angeles besteht aus flachen Gebäuden mit viel Abstand dazwischen, die anderen sagen, es besteht aus unzähligen Autos mit wenig Abstand dazwischen. Die einen sagen, es ist die Hölle, die anderen sagen, es ist das Paradies. Für beides gibt es Beweise.
L.A. ist die "city beyond the City"
Es ist die Stadt der großen Versprechungen: Best Buy. Cash for Gold, oder Bed, Bath and Beyond. Im letzten Beispiel liegt das Versprechen im geheimnisvollen: beyond? L.A. ist die city beyond the city. Die amorphe Wucherung, in die der Großraum ausartet, beinhaltet neben dem Stereotypen eine solche Vielseitigkeit, dass man den in Deutschland gänzlich entwerteten Begriff Vielfalt gar nicht anzuwenden wagt. Stellenweise ist es so bunt und zusammengewürfelt, dass es scheint, das Fieber der Wüste hätte hier eine genuin südkalifornische Fröhlichkeit ausgebrütet, die sich die 50er und 60er Jahre als Vorbild und Antrieb zu ihren Road-, Motel- und Diner-Signs genommen hat. Man denke nur an die Licht-Logos des Half Moon Motel, der Good Luck Bar oder The Mint am West Pico BLVD.
Woher ich das allerdings weiß, weiß ich auch nicht.
Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. Die Originaltöne dieser Woche stammen von dem Lyriker Gerhard Falkner. Es sind Schnipsel aus der Werkstatt des Autors, Texte und Gedankensplitter, die Auskunft geben über das, was ihn gerade interessiert. Produktion: Sebastian Schwesinger.
Gerhard Falkner (*1951 Schwabach) lebt als Lyriker, Romancier, Dramatiker, Essayist und Übersetzer in Berlin und Bayern. Er gehört zu den bedeutenden Dichtern der Gegenwart. Nach einem Stipendium am Literarischen Colloquium Berlin legte Falkner mit dem Band "Berlin – Eisenherzbriefe" (1986) einen der zentralen postmodernen Mischtexte vor. 1997 erschien mit "Voice an Void. The poetry of Gerhard Falkner" von Neil Donahue die erste Monographie.
Für die Novelle "Bruno" erhielt Falkner 2008 den Kranichsteiner Literaturpreis und den August Graf von Platen-Preis. 2010 wurde er mit dem Preis der Stadt Nürnberg ausgezeichnet.
In ihrer Begründung für den Peter-Huchel-Preis 2009, den er für seinen Gedichtband "Hölderlin Reparatur" würdigte die Jury Falkners "Möglichkeiten sublimen Sprechens in einer Zeit beschädigter Sprachwelten". Seine "Pergamon-Poems" wurden erst kürzlich im Pergamon Museum in Berlin gezeigt und von Mitgliedern der Schaubühne interpretiert. 2013 war er der erste Fellow für Literatur an der neugegründeten Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2014 verbrachte er mehrere Monate in der Villa Aurora in Los Angeles. Soeben erschien sein neuester Gedichtband: "Ignatien" (mit Bildern des Schweizer Künstlers Yves Netzhammer)