Orthodoxie - ist das Christentum des Ostens den Deutschen wirklich so fremd?

Von Vasilios Makrides |
Sieben Tage nach den evangelischen und katholischen feiern die orthodoxen Christen ihr Osterfest. Russische, griechische und andere Einwanderer haben das religiöse Leben der Orthodoxie hierher gebracht. Fremd also müsste uns das Christentum des Ostens nicht sein, meint Vasilios Makrides, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Erfurt.
"Die lange Trennung der beiden Völker hat eine tiefe Fremdheit zwischen ihnen hervorgerufen." Mit diesen Worten beschrieb ein Byzantiner im 14. Jahrhundert die Kluft zwischen Ost und West in Europa, zwischen der östlichen orthodoxen und der westlichen lateinischen Welt und Kirche.

Könnte man behaupten, dass diese Feststellung heute noch gültig ist? Besteht immer noch eine solche Fremdheit zwischen den Kirchen in Ost und West im vereinten Europa? Ist die Orthodoxie den Deutschen wirklich so fremd?

Sicher entspricht die heutige Situation nicht derjenigen im späten Byzanz. Die Kluft zwischen den christlichen Kirchen in Ost und West, die noch getrennt sind, ist besonders im Laufe des 20. Jahrhunderts viel kleiner geworden. Eine Fülle von Initiativen, nicht zuletzt im Rahmen der Ökumenischen Bewegung, zeugt davon.

"Das christliche Europa müsse mit beiden Lungen atmen" – so Papst Johannes Paul II. Das wissenschaftliche Interesse für das östliche Christentum ist ebenfalls größer geworden. In Deutschland blickt die Orthodoxie sogar auf eine lange Vorgeschichte seit dem 18. Jahrhundert zurück. Zahlreiche Migranten und Kirchengebäude bezeugen die orthodoxe Präsenz im Lande. Auch Ikonen werden sehr bewundert, nicht zuletzt als Sammlerobjekte und Museumsgegenstände.

Reicht all dies aber aus, um den orthodoxen Anderen wirklich zu verstehen? Geht es hier um bloße Kenntnisse? Wäre es demnach ausreichend, erklären zu können, warum sich in der Regel die Ostertermine in Ost und West unterscheiden, genau wie zum Beispiel in diesem Jahr?

Oder geht es eher um eine größere Vertrautheit mit den Besonderheiten des orthodoxen Anderen? Gewiss erscheint die Orthodoxie vielen Deutschen noch als fremd und unverständlich. Sie wird als zu mystisch, sentimental, irrational, ritualistisch und außerweltlich wahrgenommen.

Man kann auch nicht verstehen, warum orthodoxe Kirchen bestimmte Positionen beziehen. So gibt es eine orthodoxe Kritik an den individuellen Menschenrechten, was bei Deutschen eher Befremdung und Überraschung hervorruft. Es gibt auch eine orthodoxe Kritik an den Errungenschaften der Moderne insgesamt.

Noch einmal gefragt: Sind also die Kirchen des Ostens von denen des Westens weit entfernt? Das mag vielleicht auf den ersten Blick so erscheinen. Auf den zweiten Blick aber gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Kirchen, aber auch Unterschiede, Besonderheiten, die historisch nachvollziehbar sind.

Die Orthodoxie hat sich zum Beispiel mit der Aufklärung oder der Moderne insgesamt nicht systematisch auseinandergesetzt, weswegen ihre Orientierung vormoderne Aspekte aufweist. Mit dem Protestantismus und dem Katholizismus ist aber das Gegenteil der Fall. Dies ist jedoch für die orthodoxe Welt kein Manko. Ihre Geistesgeschichte, ihre Theologie ging andere Wege. Diese Tatsache kann ihre Antimodernität besser erklären.

Zugegeben, dem allgemeinen Publikum mag die Orthodoxie fremd und völlig unattraktiv erscheinen, zumal wenn sie und ihre Kirchenführer mitverantwortlich gemacht werden für die gesellschaftliche Krise in Griechenland, wie zuvor im zaristischen Russland und auch in Serbien unter Milošević. Aus politischer Kritik – ob berechtigt oder nicht – wird schnell ein religiöses Vorurteil.

Dieses jedoch widerlegen viele Männer und Frauen, darunter auch einige Deutsche, die zur Orthodoxie konvertiert sind. Sie behaupten einen wirklichen Schatz entdeckt zu haben, von dem selbst viele geborene Orthodoxe keine Ahnung hätten! Zum Beispiel: die Zugehörigkeit zu einer traditionsreichen und -treuen Kirche, die Entdeckung von neuen Formen von Mystik, Spiritualität und Heiligkeit, das Erlebnis einer andersartigen Gefühlsreligiosität, die nicht rationalisiert oder verweltlicht wird. Und genau hier liegt das Paradox: eine anscheinend nicht so moderne und nicht so zeitgemäße christliche Tradition kann heute durchaus eine ungeheure Attraktivität entwickeln!

Vasilios N. Makrides, Theologe, geboren 1961 in Larissa (Griechenland), Studium der Theologie, Religionswissenschaft und Religionssoziologie in Athen, Harvard und Tübingen. Seit 1999 Professor für Religionswissenschaft (mit Schwerpunkt Orthodoxes Christentum) an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt.



Literaturtipp:
Ilka Piepgras: "Meine Freundin, die Nonne", München 2010, Droemer Verlag

Weitere Links bei dradio.de:

"Die Kirche besitzt eben diese Privilegien" - Wirtschaftswissenschaftler über die Rolle der orthodoxen Kirche in Griechenland
Der Theologe Vasilios N. Makrides
Der Theologe Vasilios N. Makrides© privat
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