Gayle Tufts zu Oscars 2023

Großes Speien bei den Academy Awards

Filmszene aus "Triangle of Sadness": Eine Frau speiht eine Art Goldregen an einem festlichen gedeckten Tisch.
Die satirische Tragikomödie "Triangle of Sadness" von Ruben Östlund ist in der Welt der Reichen und Schönen angesiedelt und wirft einen Blick auf menschliche Abgründe. Der Film feierte im Mai 2022 bei den Filmfestspielen in Cannes seine Premiere und wurde mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. © Alamode Film
Eine Kolumne von Gayle Tufts |
Was haben „Everything Everywhere All at Once“, „Blonde“, „Babylon“, „Triangle of Sadness“ gemein? Sie sind für die Academy Awards nominiert - und in allen Filmen wird ausgiebig gekotzt. Entertainerin Gayle Tufts sieht darin ein Zeichen unserer Zeit.
Am 12. März ist die 95. Oscar-Preisverleihung in Los Angeles. Als Amerikanerin sind The Academy Awards für mich ein Pflichttermin, ein mich mit der Heimat verbindender Anlass zu feiern – wie Fourth of July oder Halloween. Ich versuche, schon jetzt vorzuschlafen, weil ich wegen dem neunstündigen Zeitunterschied von Mitternacht bis Montagmorgen um 7:30 Uhr durchhalten muss.
Ich möchte nichts verpassen. Nach der Will-Smith-Ohrfeige im letzten Jahr bin ich gefasst auf Anything. Vielleicht gibt es dieses Jahr sogar eine neue Preis-Kategorie: bestes Kotzen. Denn in diesem Kinojahr werden nicht nur Preise "übergeben". 

Michelle Yeoh als Brecht-Expertin

Ich habe mir alle nominierten Filme angeschaut und mich gewundert, wie oft – und in welcher Menge – imposant gespuckt wird! Es wird energetisch erbrochen, minutenlang, und der Schwall des Erbrochenen fließt intensiv und ausdauernd wie die Wasserfälle am Niagara. Die Konkurrenz ist rabiat. 
Das Fantasy-Movie „Everything Everywhere All at Once“ hat gute Chancen, als bester Film ausgezeichnet zu werden, and the brilliant Hauptdarstellerin Michelle Yeoh als beste Schauspielerin, aber sie ist auch in the Running für die neue Oscar-Katagorie. Yeoh ist meisterhaft – als Leinwand-Diva und Kampfkunst-Heldin, vor allem aber als Brech-Expertin. Dramaturgisch sinnlos kotzt sie einen langen Strahl auberginefarbener zäher Flüssigkeit über der Set. 

Neue Kategorie beim Oscar – der „Kotzcar“

Ana de Armas ist nominiert als beste Schauspielerin für ihre Rolle als Marilyn Monroe in „Blonde“, aber auch für den Reiher-Oscar für die Szene, in der sie direkt in die Kamera erbricht, sodass wir Zuschauer direkt angekübelt werden. Volltreffer! 
Mein persönlicher Favorit ist „Babylon – Rausch der Ekstase“ mit Margot Robbie als Stummfilm-Sexbomb und ihrer – leider – unvergesslichen Symphonie des Speiens, ein präzises Ballett des schwallhaften und zielgerichteten Erbrechens.
Natürlich gibt es auch The-best-foreign-Film-Kotzcar. Er geht an Schweden und die Komödie „Triangle of Sadness“ – mit einem viertelstündigen Vomitorium auf einer Yacht voller Reicher und Mächtiger und der feinfühligen Sunnyi Melles, die in einem Interview zum Film sagte: „Kotzen hat am Ende auch etwas Erlösendes.“

Oscar-Speien als kollektives Detox 

Genau! Wir brauchen diese Szenen als eine Art kollektives Detox, als Befreiung, nicht nur von der Pandemie und von Masken vorm Gesicht, auch von jahrelangen Ängste – über unsere Gesundheit, unsere zerbrechlichen Körper, unseren zerbrechlichen Planeten, vor Krankheiten und Kriegen und Chaos und Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Unsicherheit und Verzweiflung und Sterblichkeit – und Sahra Wagenknecht! Ich kotz' im Strahl!
Die letzte große Körperfunktion-Kontroverse in Hollywood gab es 1973 mit dem Horror-Klassiker „Der Exorzist“ mit der schockierend nonstop in Grün kotzenden zwölfjährigen Linda Blair. Damals waren die USA am Ende des Vietnamkrieges, mittendrin im Watergate-Skandal, kurz vor dem Abgang der korrupten Nixon-Regierung. Damals wie heute war sehr viel intensive innere Reinigung nötig. Der Exorzist gewann zwei Oscars.

Gayle Tufts ist eine deutsch-amerikanische Entertainerin, Autorin, Sängerin, Kommentatorin und „Germany’s best-known American“ (Stern). Sie lebt seit 1991 in ihrer Wahlheimat Berlin.

Gayle Tufts bei der Premiere des Theaterstücks 'Rosige Aussicht' in der Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater. Berlin, 04.12.2022
© picture alliance / Geisler-Fotopress / Anita Bugge
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