OSINT-Recherchen

Was können Social-Media-Daten für die Aufklärung leisten?

11:44 Minuten
Pro-Trump-Demonstranten am Kapitol in Washington haben ein Gerüst erklettert.
Der "Sturm" aufs Kapitol war auch ein großes Medienereignis. Viele der Demonstrierenden posteten Videos und Fotos in den sozialen Medien. © imago / UPI Photo / Kevin Dietsch
Moderation: Jenny Genzmer und Dennis Kogel |
Audio herunterladen
Immer häufiger werden Videos oder Fotos aus öffentlich zugänglichen Quellen wie den sozialen Medien zur Recherche genutzt. Im Fall des Sturms auf das Kapitol auch zur Identifizierung von Tatbeteiligten. Das birgt auch Gefahren.
Wenn irgendwo auf der Welt etwas Dramatisches passiert, kursieren nur Minuten später zahlreiche Videos, Fotos oder Livestreams im Netz. Zuletzt beim sogenannten Sturm aufs Kapitol in Washington am 6. Januar. Dieses Ereignis haben tausende Menschen vorort aus verschiedensten Blickwinkeln, zu unterschiedlichen Zeiten an diesem Tag gefilmt. So sind Massen an Fotos, Videos und Livestreams entstanden, die insgesamt sehr viele Stunden Videomaterial ergeben. Material, das von großem Nutzen sein kann: für behördliche Ermittlungen, aber auch für journalistische Recherchen.
"In dem Moment, als sie in das Kapitol eingebrochen sind, wussten wir, das ist ein historischer Moment, der dokumentiert werden muss. Wir haben angefangen, so viele Informationen wie möglich zu archivieren und in einem Spreadsheet die Links zu Livestreams und Twitter Accounts zum Beispiel zu sammeln", sagt Giancarlo Fiorella vom internationalen Recherche-Netzwerk Bellingcat.

Bellingcat, eine Website für investigativen Journalismus, beschränkt sich nicht aufs Sammeln und Archivieren solchen Daten, sondern benutzt "Open Source Intelligence", also Material aus frei verfügbaren Quellen, für Hintergrundrecherchen und Faktenprüfung:
So sagen die Metadaten der Videos oder die Kamerawinkel der Bilder viel über den genauen Standort einer Person aus. Menschen auf dem Bildmaterial werden zum Teil mit Gesichtserkennungssoftware identifiziert. Oder sie lassen sich anhand von Aufnähern auf der Kleidung oder Tattoos politisch einordnen.

Nicht nur Rechercheprofis machen mit

Bei seiner Arbeit setzt Bellingcat auch auf Crowdsourcing, also die Bürger:innen werden um Mithilfe gebeten - etwa um eine bestimmte Person zu finden.
"Du sagst, seht her, hier ist ein Bild von einem Typ, der eine Waffe auf jemanden richtet. Wenn ihr den in einem anderen Video oder Bild seht, dann zeigt es uns. Wir versuchen so viele Videos und Bilder wie möglich von dieser Person zu finden", erklärt Giancarlo Fiorella.
"Die Idee ist, dass mit dem Material, bei dem Menschen geholfen haben, es zu finden, dann eine Identifizierungsversuch stattfinden kann. Beim Crowdsourcing geht es also darum, Material zu finden, die Analyse findet dann intern, bei Bellingcat zum Beispiel statt."
Das finde völlig transparent statt, betont der Journalist. Nicht nur weil die Quellen frei zugänglich seien, sondern jeder einzelne Rechercheschritt werde transparent gemacht.
Auch bei der Aufklärung des Sturms aufs Kapitol spielte diese Technik eine große Rolle. Doch es gibt andere Fälle, bei denen das weniger gut lief und die deutlich machen, welche problematischen Folgen diese Methode nach sich ziehen kann.

Ethische und juristische Probleme bei OSINT-Recherchen

So versuchte etwa nach dem Anschlag auf den Boston Marathon eine Gruppe in einem Unterforum auf Reddit die Täter zu finden - und identifizierte fälschlicherweise einen Mann, der als vermisst gemeldet und zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Doch selbsternannte Internet-Detektive belästigten und verfolgten die Familie. Auch beim Sturm aufs Kapitol wurde mindestens ein Mann zumindest teilweise falsch beschuldigt.
"Es ist total leicht, aus Momentaufnahmen falsche Dinge zu schlussfolgern und deswegen ist es so wichtig, dass man den ethischen Aspekt im Kopf behält", warnt auch Alice Echtermann, stellvertretende Leiterin vom Correctiv Faktencheck. "Weil man davon ausgehen muss, dass man sich eventuell auch geirrt hat, und wenn man das schon alles öffentlich gemacht hat, kann man das nicht mehr einfangen. Die Empörungswelle und der digitale Mob tobt schon los, bevor man das verifiziert hat."
Zwar halten sich Organisationen wie Correctiv oder Bellingcat an den Grundsatz, nur das zu veröffentlichen, was verifiziert ist. Aber nicht jeder Bürgerjournalist tut das. Das ist nicht nur ein ethisches Problem, sondern unter Umständen auch ein juristisches, da Persönlichkeitsrechte verletzt und Regeln für Verdachtsberichterstattung missachtet werden können.
Versuche, ein Regelwerk oder einen Verhaltenskodex für OSINT-Recherchen zu schaffen, gibt es bereits. So hat das Globale Netzwerk investigativer Journalisten GIJN einen Leitfaden für alle Menschen veröffentlicht, die im Netz recherchieren, weil sie sagen: Es gibt kein Monopol auf Neugier und Recherche, alle können das machen. Und in diesem Leitfaden geht es auch um Grundsätze, wie Fairness und Genauigkeit. An die sich dann aber auch alle halten müssten.
Mehr zum Thema