Osmanische Wiedergeburt

Historische Erfahrung ins Positive wenden

Ein Mann macht während einer Demonstration kurdischer Gruppen am 16.11.2013 in Berlin das Victory-Zeichen.
Ein Mann macht während einer Demonstration kurdischer Gruppen 2013 in Berlin das Victory-Zeichen. © picture alliance / dpa / Ole Spata
Von Eren Güvercin · 22.10.2014
Auf der Suche nach Verbündeten hatte Präsident Erdoğan einen Friedensprozess zwischen Türken und Kurden eingeleitet, doch mit dem Konflikt um Kobane werden alte Ressentiments wieder aktiv. Eren Güvercin spricht sich für die Fortsetzung der Aussöhnung aus.
Man fühlt sich in die 80er-Jahre zurückversetzt, in Zeiten der Grabenkämpfe zwischen Türken und Kurden, in Konflikte, die man längst überwunden glaubte. Hatte doch Recep Tayyip Erdoğan einen erfolgversprechenden Friedensprozess eingeleitet – aus dem Kalkül heraus, dass sein islamisch-konservativer Aufbruch Verbündete braucht.
Sie sollten helfen, eine Präsidialdemokratie zu schaffen, die Türkei ökonomisch und gesellschaftlich zu verändern, aus dem festen Griff säkularer, nationalistischer Kemalisten zu lösen, dem Islam mehr Freiheit zu geben, aber eben auch Minderheiten im Lande, sich dazu mit Armeniern und Kurden zu versöhnen.
Der Prozess war klug ersonnen und kämpft sich durch die Mühen der innenpolitischen Ebene. Jetzt aber werden alte Ressentiments wieder aktiv. Das Schicksal der eingekesselten Stadt Kobane treibt Kurden zum Protest auf die Straße.
Ohnmächtig sehen sie sich von aggressiven, wahabitisch-salafistischen Kämpfern aus den Bürgerkriegen Syriens und des Irak bedrängt, während türkisches Militär hochgerüstet bereit steht, aber untätig abwartet. Ja, sie halten Ankara vor, die Gruppe "Islamischer Staat" gefördert zu haben, um durch sie in der Region mitzumischen und kurdische Autonomie in Schach zu halten.
Keiner traut dem anderen über den Weg
Viele Mutmaßungen, viele Schuldzuschreibungen ohne belastende Fakten. Aber klar ist: Das türkische Führungspersonal traut den organisierten Kurden ebenso wenig über den Weg – weder diesseits noch jenseits der Grenze.
Es war ein Irrtum zu glauben, der Konflikt sei endlich überwunden. Kemal Atatürks Zwangsprogramm nationaler Einheit unter dem Schirm des Türkentums, vom Westen naiv als "Modernisierung" bezeichnet, hat die Kurden viel tiefer verletzt, als man denkt. Sie fühlen sich entehrt, was sich als Trauma in die Volksseele fraß.
Der Republikgründer entfernte damals die akademische Elite des untergegangenen Osmanischen Reiches. Und die bestand auch aus Kurden. Er verbot ihnen zudem die eigene Muttersprache und verbannte sie aus dem öffentlichen Leben. Selbst Aktivisten der Volksgruppe beherrschen sie heute kaum mehr. Kulturelles Erbe bindet immer weniger, stattdessen gleitet man schnell ins Ideologische ab, in eine radikal marxistische oder militante Richtung.
Atatürks Sprachreform geriet auch zum Schaden für den Otto-Normal-Türken. Indem er aus dem osmanischen Wortschatz ein modernes Türkisch schaffen ließ, verlor die Sprache ihre reiche Vielfalt, sie verkümmerte und mit ihr die vielen Facetten von Identität.
Zwei politische Hindernisse
Eine verengte Sicht, das Teilen in Gut und Böse mit nationalistischen Parolen, hier der schuldige türkische Staat, da die romantischen kurdischen Freiheitskämpfer, all das hilft nicht weiter. Recep Tayyip Erdoğan, nunmehr als Staatspräsident, und Abdullah Öcalan, als noch immer inhaftierter Führer der Kurden, müssen ihren Friedensprozess wieder in Gang bringen, Vertrauen schaffen, Feindbilder in den Köpfen ihrer Gefolgsleute schleifen.
Dazu sind zwei politische Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Die PKK vollständig zu entwaffnen, wird ebenso unumgänglich sein, wie Öcalan aus der Strafhaft zu entlassen.
Gern bemühen Erdogan und seine Partei eine osmanische Rhetorik. Warum, so frage ich, verharren sie in Nostalgie? Warum wenden sie historische Erfahrung nicht ins Positive? Das Osmanische Reich war ein Vielvölkergebilde. Warum also denken sie nicht an eine türkisch-kurdische Föderation? Sie würde nicht nur die Türkei befrieden, sondern auch auf die Nachbarschaft, auf Syrien und Irak stabilisierend wirken.
Handelten Kurden und Türken bereits Hand in Hand, so wie in gemeinsamer osmanischer Geschichte, hätten die Krieger der Gruppe "Islamischer Staat" nie Raum gehabt sich zu entfalten. Und solcherart osmanische Wiedergeburt wurde selbst skeptischen Europäern gefallen.
Eren Güvercin, freier Journalist und Autor. Im April 2012 erschien bei Herder sein Buch "Neo-Moslems - Porträt einer deutschen Generation". Mehr Infos auf der Webseite des Autors.
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Autor und Journalist Eren Güvercin. © privat
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