Marzahn feiert Geburtstag
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Im Osten Berlins wurde vor 40 Jahren die damals größte Plattenbausiedlung Europas aus dem Boden gestampft: Marzahn. Die Wohnungen waren sehr begehrt. Nach der Wende änderte sich das. Doch trotz aller Probleme sind viele Bewohner stolz auf ihren Kiez.
Die kleine Bühne wirkt etwas verloren auf dem großflächig asphaltierten Platz vor dem Freizeitforum Marzahn. Zwölf Trommler bearbeiten mit Hochdruck und Leidenschaft große Fässer, kaum mehr Menschen stehen davor und schauen zu. Es ist Nachbarschaftsfest, der Bezirk feiert in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag. Doch schnell wird klar: Hier auf dem Platz treffen sich die Nachbarn eher selten.
"Aber das war von Anfang an nicht so, weil jeder sagte: ‚Ich komme nach Hause’, und dann waren die Plätze verwaist", sagt Torsten Preußing, der 1986 mit Frau und Kind in eine Drei-Raum-Wohnung nach Marzahn-Nord zog und den Schritt in die Platte nie bereut hat.
"Da hier auch solche Einkaufsmeilen fehlen, hat man manchmal den Eindruck, die Leute haben die Bürgersteige hochgeklappt und haben die Häuser mit in den Keller genommen. Deswegen finde ich gut, dass solche Plätze, die viel bepflastert sind und kaum lauschige Ecken haben, dass die auch durch so offene Veranstaltungen genutzt werden."
Mit Gummistiefeln nach Hause
Der 73-jährige Rentner erinnert sich gern an die Anfänge in Marzahn. An die Zeiten, in denen bis zu 8.000 Bauarbeiter auf einer Baustelle arbeiteten. Und auf diese Art in etwas mehr als einem Jahrzehnt 100.000 Wohnungen aus der Erde stampften und Marzahn zu einem Bezirk der Superlative machten: größte Plattenbausiedlung Europas und beliebtester Einsatzort für Gummistiefel.
"Man musste in Marzahn wirklich, wenn man in der Innenstadt gearbeitet hat, zumal in einem Büro, musste man mit Gummistiefeln ausgestattet sein, um sauberen Fußes zur Arbeit zu kommen. Es gab an Bahnhöfen Schließfächer. Oder man hatte seinen eigenen Rucksack mit, wo man dann die sauberen Schuhe angezogen hat. Und wenn jemand Lehm an den Füßen hatte, dann fragten sie gleich: ‚Wat denn, kommste aus Marzahn?‘ In meinem Alter brauchen Sie bloß mal mit Gummistiefel das Wort fallen zu lassen, da leuchten die Augen."
Zu DDR-Zeiten waren die Wohnungen in den Großsiedlungen begehrt. Die Bewohner freuten sich über Warmwasser aus der Wand und Fernwärme. Dennoch wurden die Wohnungen in der Platte schnell bespöttelt. Als "Schnarchsilos" oder "Arbeiterschließfächer". Der Dramatiker Heiner Müller nannte sie gar "Fickzellen mit Fernheizung". Heute ist ihr Ruf längst wieder hergestellt.
Bürgermeisterin setzt auf Solidarität
"Natürlich gefällt es mir", sagt Dagmar Pohle, die Bürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf, die schon seit 41 Jahren hier lebt. Viermal zog sie in ihrem Wohngebiet um – der Platte blieb sie jedes Mal treu.
"Es ist modern, es ist praktisch, vieles ist in den Jahren auch saniert, erneuert worden und insofern ist das eine Form des Wohnens, die auch sehr pflegeleicht ist. Das ist für jemanden, der voll berufstätig ist, auch nicht ganz unpraktisch."
Nach dem Mauerfall gerieten die Großsiedlungen in Verruf. Viele Bewohner wurden arbeitslos, ertränkten Wut und Enttäuschung der Nachwendezeit im Alkohol. Die sozialen Spannungen wuchsen, das Image von Marzahn-Hellersdorf wandelte sich. Viele Bewohner der ersten Stunde kehrten dem Bezirk den Rücken: Zwischen 1990 und 2009 jeder Vierte.
Außerdem wurden seit 2001 im Rahmen von "Stadtumbau Ost" 4.500 Wohnungen abgerissen. Ein Riesenfehler, sagt Dagmar Pohle. Reihenweise Schulen, Kitas und Jugendklubs wurden geschlossen. Die Kiezstruktur und das Gefühl für den Kiez gingen zugrunde.
"Da ist vieles nach der politischen Wende auch zerbrochen worden. Es ist wieder relativ mühsam. Wir brauchen dafür viel Energie und viel Kraft. Mehr in Nachbarschaften zu setzen, weil eine Gesellschaft aus meiner Perspektive nur funktionieren kann, wenn Menschen friedlich, auch möglichst solidarisch miteinander leben. Das ist heute viel schwerer."
Wenige touristische Highlights
Ein touristischer Anziehungspunkt ist der Bezirk auf alle Fälle nicht. Daran hat auch die Internationale Gartenausstellung nichts geändert, die 2017 in den prächtigen Gärten der Welt stattfand. Im Ortsteil Hellersdorf allerdings wartet ein Kleinod aus DDR-Zeiten auf die Besucher. Wer mit Wolfgang Sawatzki, einem ehemaligen Mitarbeiter der Wohnungsgesellschaft "Stadt und Land", einen Termin vereinbart, bekommt etwas Besonderes zu sehen: eine Drei-Raum-Wohnung im Urzustand von 1986. Die letzten noch im Original erhaltenen 61 Quadratmeter Platte in Marzahn-Hellersdorf.
Jaap und Marieke aus der Nähe von Eindhoven und Hans, Wahlberliner aus Wilhelmshaven, wandern staunend durch die Räume. Die Tapete in Blümchendesign, die Zimmertüren aus Pappe, die Inneneinrichtung komplett aus DDR-Mobiliar. "Stadt und Land" hat aus der Wohnung ein Museum gemacht. Ein wenig ehrfürchtig lassen sich die Besucher in die dunkelbraunen Sitzpolster fallen.
"Ich vermute mal, dass die ersten Sachen gespendet wurden von Mitarbeitern der ‚Stadt und Land’. Und später auch über Internet, Mundpropaganda und so weiter sind immer mehr Sachen dazu gekommen. Dieser Tisch zum Beispiel, das ist ein typischer DDR-Tisch, Multifunktionstisch."
Marieke fotografiert eifrig. Sie studiert Innenarchitektur, einen besseren Anschauungsunterricht gibt es nicht. Überall DDR-Devotionalien: in einer Vitrine original Einschlagpapier aus dem Grafischen Großbetrieb "Völkerfreundschaft Dresden", auf dem Schreibtisch eine schlichte Pfennigmünze.
Ein grünes Viertel im Osten Berlins
Der 73-jährige Rentner Torsten Preußing hat das Nachbarschaftsfest mittlerweile verlassen, die Geräusche von dort hallen nach. Staunend steht er nun vor einem riesigen bunten Blumenbeet.
"Ich sehe diesen Platz jetzt auch das erste Mal in voller Schönheit. Ich muss sagen, da haben sie ganze Arbeit geleistet", sagt Torsten Preußing.
Etliche solcher Grünoasen verteilen sich entlang der Marzahner Promenade, der Flaniermeile zwischen den Hochhäusern.
"Und wenn ein Platz schön ist und wenn er von der Bevölkerung angenommen ist, dann wird auch nicht mit Graffiti die Bank beschmiert oder so was."
Viele erhalten Transferleistungen
Sind die Plätze auch noch so schön, es verlieren sich nur wenige Menschen hierher. Stadtplaner versuchen schon lange, den Bezirk bunter zu machen, seine Aufenthaltsqualität zu steigern. Was das soziale Umfeld anbelangt, ein schwieriges Unterfangen: Von den knapp 24.000 Einwohnern in Marzahn-Nord, wo auch Torsten Preußing wohnt, erhalten 60 Prozent Transferleistungen vom Staat.
"Die emotionale Bindung an diesen Stadtteil, so dass man sagt, das hier ist meine Heimat, das kam erst nach der Wende, als nämlich genau diese Ecken auf einmal irgendwie in Verruf gebracht wurden mit den Plattenbauten, dem Elend. Da fängt man an, wie ein Vater, der ein missratenes Kind hat, es zu verteidigen."
Ortswechsel: Ein kleiner Bolzplatz mitten im Grünen. Jungen und Mädchen zwischen zwölf und siebzehn Jahren spielen miteinander Fußball. Sie lachen viel, sie freuen sich über die Abwechslung in ihrem anstrengenden Alltag.
Viele Kinder sind von Armut betroffen
40 Prozent aller Kinder in Marzahn-Hellersdorf wachsen in Familien auf, die Hartz IV beziehen. Ein paar derjenigen auch, die hier kicken. Der Bolzplatz gehört zum Freigelände im Kinder-, Jugend- und Familienzentrum Haus "Aufwind". Eine von unzähligen Betreuungs- und Sozialeinrichtungen im Bezirk.
"Es ist nötig, weil wir hier auch sozial schwächere Familien haben und zwar nicht wenige", sagt Jana Lepzcyk, die das Zentrum leitet. "Das kennen Sie aus den Statistiken, da erzähle ich Ihnen nichts Neues, wenn man sich Demografieberichte anguckt und auch die Schuleingangsuntersuchen. Dann spricht das Bände, was wir hier immer wieder merken, ist, dass die soziale Einsamkeit oder Vereinsamung zunimmt. Also dass die Familien sehr autark in ihrem Familiensystem leben und wenig Kontakte außen rum haben."
Neben dem Schülerclub gibt es ein breites Unterstützungsangebot für Familien mit Kindern. Frühe Hilfen zur Erziehung gehören ebenso dazu wie Vorschläge, wie sich die Anwohner besser vernetzen können.
"Das haben wir ganz häufig, dass Familien Freundschaften knüpfen und sich auch gegenseitig gut unterstützen. Es gibt einfach hier Straßen, die kennt man vom Namen, da haben wir viele Klienten wohnen. Und die sich noch nie über den Weg gelaufen sind. Und dann stellt man fest: ‚Ach, du wohnst einen Hauseingang weiter, ich habe einen Arzttermin, kannst du mal auf mein Kind aufpassen?’"
Alleinerziehende müssen sich durchschlagen
Berlin, das ist die Hauptstadt der Alleinerziehenden. Jana Lepczyk gehört zu den etwa 90.000 Frauen, die ohne Partner leben. Sie hat wenigstens eine Vollzeitstelle, doch etwa die Hälfte der Alleinerziehenden bezieht staatliche Sozialleistungen. Viele von ihnen leben in Marzahn-Hellersdorf. Hier sind die Wohnungen vergleichsweise günstig, hier gibt es ein engmaschiges Netz an Beratungs- und Betreuungseinrichtungen. Jana Lepzcyk kennt noch einen Grund, weshalb sie auf keinen Fall aus ihrem Heimatbezirk wegzieht:
"Ich persönlich mag die Offenheit der Menschen, die sagen einem direkt, was los ist, dann weiß man, woran man ist. Und: man darf nicht vergessen, Marzahn-Hellersdorf ist ein unglaublich grüner Bezirk. Viele denken nur an Platte, aber Sie haben es vielleicht auf dem Weg hierher gesehen: Da ist Grün. An der Wuhle, da ist Grün.
Im Ortsteil Hellersdorf wohnt auch Adriana Kolliski. Plattenbau, 70 Quadratmeter, 530 Euro warm. Auch sie zieht ihre Kinder allein groß. Zwei Töchter, elf und fünfzehn Jahre. Die Ältere geht seit einem Jahr auf die Staatliche Artistenschule, deshalb sind die drei umgezogen: von Chemnitz nach Berlin. Marzahn-Hellersdorf stand nicht gerade auf ihrer Wunschliste.
"Die Wohnung, in der ich jetzt bin, ist tatsächlich die einzige, die ich überhaupt bekommen habe. Ich hatte gar keine andere Wahl, als diese Wohnung zu nehmen, sonst wäre der gesamte Plan gar nicht aufgegangen."
Viel Arbeit – trotz Arbeitslosigkeit
Der Plan beinhaltete auch einen Job für sie. In einem Malereibetrieb in der Buchhaltung. Dort begann sie, gleich nach dem Umzug zu arbeiten. Bald jedoch war Schluss. Jetzt sucht Adriana Kolliski einen neuen Job. Wieder einmal. Ist es deshalb von Vorteil, in einen Bezirk zu leben, in dem man sich mit staatlichen Transferleistungen auskennt?
"Schwer hat man es überall als Alleinerziehende. Einen großen Unterschied habe ich bisher nicht feststellen können. Ich bin leider schon sehr erfahren im Umgang mit Hartz IV, seit der Vater der Kinder uns damals verlassen hat – das ist mittlerweile schon elf Jahre her – leben wir vorrangig von Hartz IV. Ich habe gelernt, damit umzugehen und das Beste daraus zu machen."
Sie weiß, wie sie den Zuschuss für eine Urlaubsfahrt bekommt. Oder wie sie sich einen Wohnberechtigungsschein besorgt. Da sie nur eine Drei-Raum-Wohnung genehmigt bekam, steht ihr Bett jetzt im Wohnzimmer. Egal, sagt Adriana Kolliski. Die Hausgemeinschaft ist in Ordnung, zu den "Gärten der Welt" sind es nur wenige Meter zu Fuß und überhaupt: Für Vergnügungen bleibt meistens sowieso keine Zeit.
"Ich für meinen Teil bin abends um acht völlig fertig, ob ich arbeiten gehe oder nicht arbeiten gehe, spielt dabei fast keine Rolle, weil man, wenn man auch nicht arbeiten geht, so viel zu tun hat, um eben diese ganzen Gelder zu bekommen. Diese Amtsprozedur ist derart aufwändig, dass ich immer schon spaßeshalber gesagt habe: Man ist derart beschäftigt, dass man gar nicht dazu kommt, sich Arbeit zu suchen. Ja, es ist einfach viel zu tun."
Nonnen engagieren sich in Marzahn
Nur einen kurzen Fußweg entfernt befindet sich das Einkaufszentrum von Hellersdorf. Dort, im zweiten Stock, haben die Missionsärztlichen Schwestern-, ein Orden, der weltweit tätig ist, eine Lebensberatungsstelle. In einem Bezirk, in dem es fast keine Katholiken gibt, eher ungewöhnlich.
"In der Tat haben wir gedacht: Na ja, das wird eine ungeheure Herausforderung; wir versuchen einfach, uns dieser Herausforderung zu stellen."
1992 war das. Schwester Michaela Bank kam gerade aus Peru zurück, Schwester Angelika Kollacks suchte ebenfalls eine neue Aufgabe. Jemand hatte ihnen Marzahn-Hellersdorf ans Herz gelegt. Die erste Zeit, sagen sie, war wie ein Kulturschock.
"Hier arm zu sein, ist ein Makel. In Peru arm zu sein, war kein Makel, sondern die Solidarität der Armen war sehr groß und hat mich auch immer wieder beeindruckt, wie sie das sehr Wenige, was sie hatten, auch großzügig geteilt haben, wenn es angebracht war. Als wir hier ankamen, da lag doch ziemlich viel am Boden."
"Ja, da war die Euphorie der Wende vorbei. Das war '92, da hat keiner mehr ‚Hurra’ geschrien, wenn jemand aus dem Westen kam wie wir. Im Gegenteil: Man hat gesagt, wir kriegen im Westen wohl keinen Job, dass wir hier in den Osten kommen. Solche Dinge haben wir uns dann schon auch anhören müssen."
Erschrocken von der Armut
Dennoch war die Resonanz von Anfang an gut. Was wohl auch daran lag, dass es in Marzahn-Hellersdorf damals kaum Hilfsangebote gab. Vor allem Frauen kamen in die Beratungsstelle: Alleinerziehende mit psychischen und finanziellen Problemen, Süchtige. Schwester Michaela Bank machte zudem viele Jahre Notfallseelsorge direkt in der Platte in Marzahn-Nord.
"Was mich sehr erschrocken hat, war die große Einsamkeit zum Teil der Menschen in diesen Hochhäusern, die Problematik des Alkohols und auch andere Folgen der Arbeitslosigkeit. Frage der Armut, die Frage der Gewalt, die Frage der Verelendung. Also Teile des Bezirks, die nicht so schön sauber sind. Und wo auch Menschen Angst haben hinzugehen. Und wenn man das natürlich verkauft als ‚So ist Marzahn’, dann verletzt man die Gefühle der Menschen hier."
40 Jahre sind ein Grund zum Feiern
In der langen Zeit, die die beiden Ordensschwestern jetzt hier sind, haben sie gelernt zu differenzieren. Haben Vorurteile abgebaut. Und haben erkannt: Auch in Marzahn-Hellersdorf existiert wie quasi überall Licht und Schatten.
"Wir selbst sind 27 Jahre hier. Aber wir haben großen Respekt vor dem, was hier gewachsen ist. Wir feiern gerne mit 40 Jahre."
(Onlinefassung/mwl)