Gregor Sander: Was gewesen wäre
Wallstein Verlag, Göttingen 2014
236 Seiten, 19,90 Euro
Früher ist längst vorbei
Die Geschichte beginnt in der DDR auf einer wilden Künstlerparty. Astrid verliebt sich in Julius. Das System zerbricht, die Gefühle und die Suche nach sich selbst bleiben. Gregor Sander verschränkt Vergangenheit und Gegenwart.
Der 1968 geborene Schriftsteller Gregor Sander kann Szenen schreiben, die so plastisch sind, dass man in ihnen spazieren gehen kann. Ganz großartig ist etwa die Szene, mit der sein neuer Roman "Was gewesen wäre" anfängt. Wir sind in den frühen achtziger Jahren, an einem See im Norden der DDR. Gregor Sander schildert eine Art Mini-Woodstock, zu dem sich die DDR-Bohème – Theaterregisseure, dissidentische Künstler, Punks, Jugendliche – ein Wochenende lang trifft. Und zugleich beschreibt Sander ganz konkret, worum es dabei geht: Bier trinken, Musik hören, rumknutschen.
Es sind die Details und persönlichen Erinnerungen, aus denen Sander seinen Roman überzeugend zusammensetzt. Und gleichzeitig hat er, 2013 mit dem Deutschen Erzählerpreis ausgezeichnet, die Fähigkeit zu dezenter Verdichtung. Bei aller Detailfreude sind seine Szenen konzentriert gebaut. Kunstvoll eingewoben sind Sätze, die etwas über die Poetik dieses Schreibens verraten. Wunderbar eingebunden in ein beiläufiges Gespräch über Badekappen findet sich beispielsweise die Bemerkung: "Ja, früher, aber früher ist vorbei!" Dabei handelt der Roman gerade davon, dass "früher" eben keineswegs vorbei ist.
Der Geruch des Westpakets
In der Eingangsszene am See lernen wir gleich Astrid, genannt Assi, kennen; der erste von zwei Handlungssträngen erzählt in der Ich-Perspektive ihre Geschichte: Liebeskummer um ihre Jugendliebe Julius und ihre berufliche Entwicklung, bis sie Kardiologin wird. Herzleid und Herzmedizin – noch so eine dezente Verdichtung. Und ganz nebenbei bekommt man beim Lesen mit, wie Menschen gedacht und gefühlt haben könnten: "Der ganze Waggon roch wie ein Westpaket", heißt es, als Astrid, noch vor der Wende, zum ersten Mal im Westteil Berlins U-Bahn fährt.
Der zweite Handlungsstrang ist, in personaler Perspektive geschrieben, im heutigen Budapest angesiedelt. In ihm spielt der Zufall eine allzu große Rolle. Astrids gegenwärtiger Freund Paul hat ihr zum 44. Geburtstag ein paar Urlaubstage geschenkt, ausgerechnet in dem Hotel, in dem sie schon einmal mit ihrer Jugendliebe zusammen war – und ausgerechnet dieser Julius hält sich dann auch noch zufällig gleichzeitig in dem Hotel auf. Das ist das einzige Manko des Romans, das man aber als Leser in Kauf nimmt, weil es durch das Schillernde der einzelnen Szenen wieder aufgehoben wird. Gregor Sander beschreibt Astrid und Paul als normal-kompliziertes Paar im Restaurant, im Bett und während der Momente zwischendurch, in denen man sich ein bisschen fremd ist. Deutlich wird: Die Gegenwart eines Paares besteht auch darin, dass beide sich an ihrer jeweiligen Vergangenheit abstrampeln.
"Was gewesen wäre" ist ein genauer Roman mit wunderbar durchfühlten Sätzen. Gregor Sander erzählt von der Kontinuität der Suche nach sich selbst und der zwischenmenschlichen Beziehungen über alle Brüche hinweg – und zwar sowohl der historischen Brüche wie dem Mauerfall als auch der privaten Brüche wie Trennungen.