Ostdeutsche
Keine gelebte, sondern eine geklebte Freundschaft, wie ein ostdeutscher Autor einmal das Einkleben der Marken ins Mitgliedsheft der Gesellschaft der deutsch-sowjetischen Freundschaft ironisch bezeichnete, schreibt Simone Schmollack. © imago images / C3 Pictures
Von Russlandgegnern zu Russlandverstehern
Laut Umfragen der letzten Jahre wünscht sich die Hälfte der Ostdeutschen engere Beziehungen zu Russland. Trotz Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die in der DDR aufgewachsene Journalistin Simone Schmollack wundert sich über diese plötzliche Zuneigung.
Ostdeutsche finden Russland super. So zumindest lassen sich Umfragen der vergangenen Jahre deuten: Demnach wünscht sich die Hälfte der Menschen zwischen Stralsund und Suhl engere Beziehungen zu Russland, 44 Prozent würden die Sanktionen gegen Russland reduzieren oder ganz abschaffen. Und vier von zehn Ostdeutschen sehen im Präsidenten Putin keinen Diktator.
Diese plötzliche Russland- und Russenfreundlichkeit ist überraschend, jedenfalls für mich. Ich bin in der DDR groß geworden und erinnere mich sehr gut an die staatlich verordnete und von uns heftig kritisierte „Völkerfreundschaft“ zwischen der DDR und der Sowjetunion. Und ebenso, wie wir uns darüber lustig machten. „Kennste den schon? Warum reisen KGB-Agenten immer zu dritt? Einer kann lesen, einer kann schreiben und der dritte behält die zwei gefährlichen Intellektuellen im Auge.“
Keine gelebte Freundschaft zum "Bruderstaat"
Die Beziehung zum „großen Bruderstaat“ war keine gelebte, sondern eine geklebte Freundschaft, wie ein ostdeutscher Autor einmal das Einkleben der Beitragsmarken ins Mitgliedsheft der Gesellschaft der deutsch-sowjetischen Freundschaft ironisch bezeichnete.
Mitunter sind trotzdem Freundschaften entstanden, zwischen Kindern, die sich im Ferienlager kennenlernten, zwischen Menschen, die in Moskau gemeinsam studierten oder in einem Berliner Wissenschaftsinstitut zusammenarbeiteten. Manche dieser Freundschaften halten bis heute. Aber es sind in der Regel nicht diese Ostdeutschen, die sich im Ukrainekrieg pro-russisch äußern. Vielmehr sehen sie die Entwicklung in Russland in den vergangenen Jahren überaus kritisch. Sie erfahren aus erster Hand, wie Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sukzessive eingeschränkt, unabhängige Journalist:innen ermordet und Putin immer autokratischer regiert.
Zerstörte Wirtschaftsbeziehungen nach Mauerfall
Warum also denkt ein Teil der Ostdeutschen anders? Warum beschwören manche heute eine Verbundenheit zu Russland, die sie in der DDR gar nicht hatten? Um das zu verstehen, muss man nicht in die DDR-Geschichte zurückblicken, sondern in die Zeit nach dem Mauerfall.
Mit der Wiedervereinigung und der D-Mark brachen mit einem Mal jahrzehntelange Wirtschaftsbeziehungen zwischen ostdeutschen und russischen Unternehmen weg. Davon war die Warnowwerft in Rostock ebenso betroffen wie der Waggonbau im sächsischen Görlitz. Die Unternehmen wurden trotz voller Auftragsbücher geschlossen, die Mitarbeiter:innen entlassen.
Schuld daran war in den Augen der Betroffenen der Westen. Der zerstörte vermeintlich rentable Betriebe, die ostdeutsche Wut auf das westdeutsche Establishment war groß. Und sie hat sich nicht selten bei jenen gehalten, die sich in den vergangenen Jahren eine neue Existenz aufgebaut und verstärkt in Russland investiert hatten.
Aktuelle Sanktionen treffen ostdeutsche Firmen
Die westlichen Sanktionen gegen Russland infolge des Ukraine-Krieges treffen ostdeutsche Unternehmen mit Russland-Verbindungen besonders hart. Wird die wirtschaftliche Misere zudem kombiniert mit der von manchen Ostdeutschen nach wie vor gern gepflegten Opferhaltung, nämlich noch immer Bürger:innen zweiter Klasse zu sein, lässt das die Wut aufs westliche Establishment weiter wachsen. Die vermeintliche Nähe zu Russland funktioniert hier nach dem Prinzip „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“.
Hinzu kommt ein Irrglaube, der an die ostdeutsche Identität gekoppelt ist: Wir Ostdeutsche kennen die Russen besser als ihr Westdeutsche, wir haben schließlich mit ihnen gelebt und in der Schule Russisch gelernt. Meinst du, die Russen wollen Krieg? So lautet der Titel eines in der DDR vielzitierten Gedichts des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko von 1961. Die Antwort damals lautete selbstverständlich „nein“. Heute muss man leider sagen: eine historische Fehleinschätzung.