Zwischen Aufbegehren und dem Wunsch nach Ordnung
Historiker zeichnen die Veränderungen im ostdeutschen Alltag seit der Wende nach. Sie setzen vor allem auf Zeitzeugen, die ihre Geschichte erzählen. Jens Rosbach hat die Wissenschaftler besucht – und wurde dabei an seine eigene DDR-Zeit erinnert.
„Thälmannpioniere! Ich begrüße Euch mit unserem Pioniergruß! Für Frieden und Sozialismus. Seid bereit! (Chor brüllt) Immer bereit!!! ...“
Denke ich an meine Schulzeit in der DDR zurück, dann sehe ich einen tristen Plattenbau vor mir: die „Kalinin-Oberschule“ in Schwerin. Auf den Fluren hingen Wandzeitungen mit Propaganda aus dem Neuen Deutschland. Wir mussten jeden Tag Hausschuhe anziehen und durften keine West-Plastiktüten tragen. Draußen, auf dem Sportplatz, mussten wir mit Handgranaten-Attrappen werfen und auf dem Schulhof zum Fahnenappell antreten.
„Mitglieder der Freien Deutschen Jugend! Ich grüße Euch mit unserem Gruß ‚Freundschaft!‘“
(Chor brüllt) „Freundschaft!“
(Chor brüllt) „Freundschaft!“
Beim Abitur, an der „Erweiterten Oberschule“, war alles etwas anders. Hier verwickelten wir die Lehrer in heikle politische Diskussionen. Etwa warum Gorbatschow Perestroika machte, Honecker aber nicht. Natürlich konnten wir keine echte Rebellion veranstalten, wir wären sofort von der Schule geflogen.
Im Sommer ‚89 erhielten wir das Abschlusszeugnis. Wenige Monate später, bei den Montagsdemonstrationen, ärgerte ich mich, nicht mehr an der Schule zu sein. Allzugern hätte ich den verlogenen SED- und Mitläufer-Lehrern richtig eingeheizt.
Haben es die Jahrgänge nach mir getan?
„Wenn Sie jetzt mit Rebellion meinen, die haben jetzt nicht versucht, die Schule komplett umzukrempeln und dafür einzutreten, dass neue Unterrichtsformen etabliert werden – nein, das ist nicht passiert. Es wurden vielleicht stärker Dinge hinterfragt, aber die Grundstruktur von Schule wurde nicht in Frage gestellt.“
An den Schulen war es ruhig während der Wende
Potsdam, im Juni 2017. Im Zentrum für Zeithistorische Forschung erklärt Kathrin Zöller, dass es während der Wende in den ostdeutschen Schulen relativ ruhig zuging. So jedenfalls die Erinnerungen ehemaliger Schüler, die sie befragt hat. Die Zeitzeugen hätten zumeist nur von einzelnen Provokationen berichtet, vor allem gegenüber Geschichts- und Staatsbürgerkunde-Lehrern.
„Ich habe zum Beispiel von einem Interviewpartner erfahren, das war dann wenige Wochen nach dem Herbst ’89, dass es da Trend war, die Lehrkräfte mit dem Ausspruch ‚Heil Hitler‘ zu begrüßen. Was natürlich ganz klar die Funktion hatte, sich deutlich gegenüber dem antifaschistischen Selbstverständnis des Staates, was eben durch diese Lehrkräfte verkörpert war, aufzulehnen.“
Na toll. Anstatt Schülerräte zu gründen, Lehrer mit ihrer Stasi-Tätigkeit zu konfrontieren und den Frontalunterricht umzukrempeln: lediglich spontane, pubertäre Pöbeleien. Ansonsten Unterricht wie eh und je – obwohl das ganze Land in Aufruhr ist. Versteh‘ ich nicht.
„Ich kann mir auch vorstellen, dass in dieser Unsicherheit jeder schauen musste, wie … wie komme ich denn jetzt eigentlich klar?“
Die Forscherin wagt, nach ersten Interviews und Aktenstudien, eine vorläufige These.
„Die Eltern hatten vielleicht ihre Berufe verloren, die Nachbarn sind in den Westen gegangen. Es war sowieso viel Bewegung drin, dass dann vielleicht die Schule mit ihren bekannten Ritualen eher ein Ort war, der vielleicht geholfen hat, weil es einer der wenigen Orte war, die weitestgehend stabil geblieben sind.“
„Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk! Wir sind ein Volk!“
Tiefer Einschnitt in Ost-Biografien
Die Potsdamer Zeithistoriker sprechen von einer „Zäsur“ – vom tiefen Einschnitt der Wende in die Ost-Biografien. Die Wissenschaftler beleuchten, seit einem Jahr, auch die Veränderungen beim Wohnen, beim Umgang mit DDR-Gegenständen und bei der politischen Mitgestaltung. Kerstin Brückweh leitet das Forschungsprojekt „Die lange Geschichte der Wende“ und hat dabei viel ostdeutschen Frust gehört über die gesamte Wiedervereinigung.
„Das Interessante ist ja gerade diese Wahrnehmung, dass es ein Verlust ist, dass man irgendwie in der Erinnerung etwas hat, dass man … was einen irgendwie als Verlierer dastehen lässt. Es wird nicht als Erfolg wahrgenommen. Und warum eigentlich nicht?“
Kerstin Brückweh sagt, sie könne sich auch vorstellen, dass es eine Verbindung gibt zwischen der Enttäuschung der Ostdeutschen und ihrem – verhältnismäßig – starken Zuspruch für rechtspopulistische Positionen heute. Bestimmte soziologische Dokumente wiesen darauf hin.
Mehr Disziplin und Ordnung gewünscht
„Also wenn mir zum Beispiel in einem Interview, was eigentlich Stadtsoziologen im Jahr 2000 geführt haben, wenn ich da drin lese, dass ein Lehrerehepaar sagt, also ein bisschen weniger Freiheit, aber ein bisschen mehr Disziplin und Ordnung, da sollte es sich einpendeln, das wäre eigentlich ganz gut – da muss ich schon erstmal ein bisschen schlucken, ja. Es sind Äußerungen, die sind antidemokratisch.“
Die Wissenschaftlerin hat zu einem zentralen Thema der Wende- und Nach-Wende-Zeit geforscht: Eigentum und Eigenheim; dabei ist ihr aufgefallen, dass die große Masse der ehemaligen DDR-Bürger – trotz des politischen Leitmottos „Rückgabe vor Entschädigung“ – ihre Immobilien behalten durfte. Trotz positiver Bescheide von den bundesdeutschen Ämtern hätten sich viele Ostdeutsche jedoch weiterhin beschwert. Zum Beispiel sagten sie:
„Die westliche Seite schneidet besser ab, sie hat die bessere Lobby, und ich kann nicht in das Haus investieren. Also relativ klar: Das funktioniert nicht. Es wird dann schnell kombiniert in dem Fall zum Beispiel mit Zweifeln an der Demokratie und dass es undurchsichtig ist und willkürlich und so.“
Was haben Wende und Wiedervereinigung mit dem ostdeutschen Alltag gemacht? Die Potsdamer Experten sehen sich erst am Anfang ihrer Forschung. Die meisten Historiker jedoch, klagt Projektleiterin Brückweh, hielten das Thema für erledigt – vor allem Kollegen in den alten Bundesländern.
DDR-Forschung als Karrieretod
„Eigentlich ist DDR-Forschung gar kein Thema oder Ostdeutschland. Mir hat sogar schon mal ein Kollege gesagt, dass ich mich jetzt mit DDR-Forschung beschäftige, ist im Prinzip mein Karrieretod.“
Es gäbe noch viel zu erzählen vom Ende der DDR – von meiner Schulzeit, meinem Praktikum in einem VEB-Betrieb und von meinen Erfahrungen, die ich dann an einer West-Universität gemacht habe. Mir gefällt es, wenn die Forscher solche Themen ernst nehmen. Die Westdeutschen haben lang genug über „die Ostdeutschen“ geredet, ohne Fragen zu stellen.