Passion und Auferstehung der Armenier
Mit einer Veranstaltungsreihe aus Performances und Lesungen erinnert das Berliner Maxim-Gorki-Theater an Ostern an den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren. Dabei geht es auch um die Rolle, die das Deutsche Reich bei diesem Genozid gespielt hat.
An kalten Aprilabenden mit schneidendem Wind verweilt niemand gerne lange draußen. Doch die Videoinstallation von Atom Egoyan vor dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin Mitte fesselt die Aufmerksamkeit – nicht unbedingt wegen der sieben Model-Schönheiten, deren Gesichter hier in Szene gesetzt werden, sondern wegen der Geschichten, die sie erzählen. Es sind Erinnerungen an schreckliche Gräueltaten – begangen vor ziemlich genau hundert Jahren an armenischen Frauen und Männern, Kindern, Alten.
Während also den Besucher vor dem Theater Wind und Erzählungen frösteln lassen, beschwört drinnen eine kraftvolle, energetische Shermin Langhoff das Maxim-Gorki-Osterfest, das sich fünf Tage lang mit dem Völkermord an den Armeniern beschäftigt, als Passion und Auferstehung zugleich.
"Wir werden erzählen, die Stimme erheben und feiern. Hundert Jahre nach dem Völkermord soll eindeutig klar sein, die Mörder von damals haben ihr Ziel, die systematische Auslöschung der armenischen Bevölkerung, verfehlt."
Neue Erinnerungskultur in der Türkei?
Unzählige Erinnerungen werden dieser Tage in Lecture-Performances, szenischen Lesungen und Bühnenprojekten zusammengetragen: Einzelschicksale von Armeniern, die offiziell 'vertrieben', in Wirklichkeit aber vernichtet werden sollten. Die flohen oder ausharrten, die verhungerten oder einem ungewissen Schicksal entgegen gingen. Die türkische Künstlerin Ezgi Kilincaslan hat über 30 Armenier und Armenierinnen in Paris und Beirut nach ihren Familien befragt – und war für viele ihrer Interviewpartner die erste Türkin, denen sie ihre persönlichen Geschichten erzählten.
Der Vorsitzende der Stiftung Anadolu Kültür, Osman Kavala, erkennt eine neue, sich verändernde Erinnerungskultur in der Türkei – nicht nur unter jungen türkischen Künstlern wie Ezgi Kilincaslan, sondern auch unter ihren armenischen Kollegen:
"Trotz vieler schmerzhafter Erinnerungen (...) vermeiden armenische Künstler und Intellektueller nicht den Kontakt und den Dialog mit denen, die heute in den Dörfern und Häusern ihrer Familien leben. In einem Umfeld, in dem der offizielle Diskurs von politischen Interessen erschwert wird und die Mehrheit der türkischen Bevölkerung sich immer noch nicht der Tragödie der Armenier bewusst ist, spielen armenische Künstler und Intellektuellen, die in die Türkei kommen, eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung – und beweisen damit ihre ungeheure Großzügigkeit."
Doch nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland mangelt es an Bewusstsein – vor allem über die Rolle, die deutsche Militärs und Diplomaten als Bündnispartner in den menschenverachtenden Planungen und Aktivitäten des osmanischen Reiches spielten. In der zweieinhalbstündigen Diskussion 'Deutsche Verantwortung' debattierten Journalisten und Historiker – extrem detailliert und kundig – unter anderem über die genaue Bezeichnung dessen, was die Verantwortlichen des deutschen Reiches damals taten – oder eher: nicht taten. War es 'unterlassene Hilfeleistung', 'Mitverantwortung', 'Mitschuld' oder doch 'Beihilfe' zum Massenmord? Für Jürgen Gottschlich, Journalist und Buchautor zum Thema, ist die Antwort klar:
"Mein Punkt ist, zu einem Zeitpunkt, als die deutschen Militärs und die deutsche Diplomatie realisiert hat, dass es nicht um Deportation ging, sondern um Vernichtung, haben sie auch an solchen Stellen, wo sie stärker hätten Einfluss nehmen können, nichts gemacht –(...) (11:50) Es ging die ganze Zeit um Entscheidungen, die sich innerhalb eines kleinen Kreises im Generalstab abgespielt haben – und da haben sie aus ganz klaren politischen Erwägungen nichts gemacht. Das ist für mich schon Beihilfe, ja."
Deutschland: Weiter weg von der Wahrheit als vor zehn Jahren
Historikerin Christin Pschichholz verwies daneben auf die ambivalente Rolle des deutschen Protestantismus. Als Beispiel für die unterschiedlichen Reaktionen auf den Völkermord an den Armeniern dienten ihr die Zeitgenossen Siegfried von Lüttichau, Pfarrer der deutschen Gemeinde in Konstantinopel und Johannes Lepsius, Gründer des armenischen Hilfswerkes. Zwei historische Figuren, die auch in Hans-Werner Kroesingers etwas schwerfälligem, aber ungemein Text-reichen Dokumentartheater ‚Musa Dagh – Tage des Widerstands' auftauchten. In dem wird Franz Werfels Roman über den geglückten Widerstand von 5000 armenischen Dorfbewohnern auf dem Musa Dag, dem Mosesberg, mit Auszügen aus zeithistorischen Dokumenten u.a. von Johannes Lepsius sowie deutscher Bundestagdebatten-Kultur verschränkt.
Johannes Lepsius war – das wurde sowohl im Beitrag von Christin Pschichholz als auch in Kroesingers Inszenierung deutlich – im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ein engagierter Verfechter für die Veröffentlichung der Unrechtstaten, die die Jungtürken an den Armeniern begingen. Doch seine Versuche, Einfluss zu nehmen und Transparenz zu schaffen, schlugen fehl – bis heute, wie Autor und Armenien-Experte Wolfgang Gust in der Diskussionsrunde beklagte.
"Erschrecken tut mich die ganzen 20 Jahre, die ich mich darum kümmere und eigentlich zunehmend, das Unwissen der Deutschen über den Völkermord an den Armeniern. Wir haben vor zehn Jahren (...) eine Resolution verabschiedet, die sich eigentlich sehr gut liest. (....) Der Deutsche Bundestag hat sich entschuldigt (...) Ich fürchte, dass, wenn es überhaupt etwas gibt am 24. April, es in diesem Jahr schlechter, schwächer, ungenauer ausfällt als vor 10 Jahren. Da frage ich mich: was haben wir falsch gemacht? Warum sind wir heute weiter weg von der Wahrheit als vor 10 Jahren und warum sind so viele Deutsche so uninformiert?"
Zu Recht wurden an dieser Stelle Lücken im Bildungssystem konstatiert – und erstaunlicherweise erst ganz am Schluss der hochinteressanten Debatte der Bogen zu anderen marginalisierten Verbrechen des Deutschen Reiches wie dem Völkermord an den Herero und Nama in Westafrika geschlagen. Deutlich wurde dabei: auch die Erinnerungskultur in Deutschland ist ausbaufähig. Und dabei müsste die Bundesregierung – trotz diplomatischer Rücksichtnahme auf die türkische Regierung – mit gutem Beispiel vorangehen.