Osteuropa-Experte: EU würde Ungarn heute nicht mehr aufnehmen

Martin Schulze-Wessel im Gespräch mit Britta Bürger · 24.01.2012
Wenige Tage nach seinem Auftritt vor dem EU-Parlament macht Ungarns Ministerpräsident Orban nicht den Eindruck, sich europäischen Gepflogenheiten wirklich anpassen zu wollen. Stattdessen betreibe er im eigenen Land eine Einschüchterungspolitik, sagt Osteuropa-Experte Martin Schulze-Wessel.
Britta Bürger: Zwar hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban in den Auseinandersetzungen mit der EU bereits signalisiert, einige umstrittene Gesetzesänderungen wieder zurückzunehmen, doch mit einer anderen Entscheidung hat er sogleich wieder Zweifel an seiner EU-kompatiblen Politik aufkommen lassen: An den ungarischen Nationalfeiertagen sollen künftig alle wichtigen öffentlichen Plätze Budapests einzig und allein für Kundgebungen seiner Fidesz-Partei blockiert werden. Auch so kann man demokratische Strukturen auflösen, indem man oppositionelle Demonstrationen an zentralen Orten verhindert.

Heute trifft sich José Manuel Barroso, der Präsident der EU-Kommission, mit Viktor Orban in Straßburg, um abzuklopfen, ob Orban bereit ist, die europäischen Regeln einzuhalten oder tatsächlich Klagen der EU riskiert. Am Telefon in München begrüße ich jetzt Martin Schulze-Wessel. Er ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Schönen guten Tag, Herr Schulze-Wessel!

Martin Schulze-Wessel: Guten Tag, Frau Bürger!

Bürger: Viktor Orban hat ja schon verkündet, wenn er Zugeständnisse in Richtung EU mache, dann habe er sich nicht den Argumenten gebeugt, sondern der Macht. Kann man da überhaupt noch von gleichberechtigten Politikern sprechen? Begegnet Barroso einem Mann wie Viktor Orban auf gleicher Augenhöhe, wie Frau Merkel, Sarkozy oder Mario Monti?

Schulze-Wessel: Wenn Herr Orban sagt, dass man sich in diesem Fall der Macht beugt, aber nicht Argumenten, so benutzt er eine ganz gefährliche Redefigur, denn diese hat selbstverständlich in Ungarn eine populistische Wirkung. Die Argumente, die von der EU-Kommission angeführt werden, beziehen sich ja auf ganz konkrete Verstöße gegen Verträge, die Ungarn geschlossen hat. Insofern begegnen sich Barroso und Orban durchaus auf einer Ebene, nämlich der Ebene des Rechtes.

Bürger: Georg Hefty hat in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" geschrieben, Orban sei aus dem gleichen Holz geschnitzt wie andere Siegertypen, und er nennt als Beispiele Jaques Chirac, Helmut Kohl, Angela Merkel, Nicholas Sarkozy und Gerhard Schröder – Politiker, die ihrer Nation dienen wollen, aber auch den Kurs der EU maßgeblich mitbestimmen wollen. Mit Blick auf Orbans antidemokratische Linie im eigenen Land kommt einem dieser Vergleich doch aber ziemlich hinkend vor, oder? Wie sehen Sie das?

Schulze-Wessel: Mir scheint der Vergleich auch verharmlosend. Er mag etwas aussagen über den Charakter von Orban, aber hier geht es doch um Vertragsverstöße, und es geht darum, dass gegen den Geist der Demokratie verstoßen wird. Und ähnliches kann man eben Chirac, Merkel oder Sarkozy nicht vorwerfen. Der Grüne Cohn-Bendit hat Orban verglichen Chavez oder Castro – das sind sicher auch polemische Vergleiche, aber ebenso polemisch wie der Vergleich von Hefty verharmlosend ist.

Bürger: Orban ist sicher ein nationaler Machtpolitiker, aber auch ein europäischer Machtpolitiker? Also inwieweit hat er die EU als Ganzes überhaupt im Blick?

Schulze-Wessel: Ich denke, er hat die EU sehr gut im Blick, denn er hat ja signalisiert, dass die Gesetze revidiert werden. Aber es kommt jetzt darauf an, dass nicht nur Gesetze revidiert werden, sondern auch der Geist der ungarischen Politik. Es darf keine Einschüchterung gegen Pressefreiheit geben, es darf keine Einschüchterung gegen Meinungsvielfalt geben. Das ist der Fall.

Bürger: Ist Viktor Orban wirklich bereit, Kritik anzunehmen? Dieses Zitat, dass er sich nicht den Argumenten beuge, sondern einfach der Macht – er ist wirtschaftlich abhängig, Ungarn ist abhängig von den Zuwendungen der EU –, ist er wirklich bereit, Kritik anzunehmen?

Schulze-Wessel: Das vermag ich nicht zu beurteilen, aber die Äußerung, die Sie zitieren, die macht einen in der Tat skeptisch. Und wenn solche Äußerungen an die ungarische Öffentlichkeit gerichtet werden – und an die sind sie ja auch gerichtet –, dann entsteht sehr schnell ein Komplex der Minderwertigkeit, der sehr gefährlich ist für die Beziehungen Ungarns zur Europäischen Union überhaupt. Denn es muss ja das Gefühl entstehen, dass man tatsächlich von der EU überwältigt wird. Dabei geht es um etwas anderes, es geht um die Einhaltung von Verträgen, die Ungarn ja selbst unterzeichnet hat.

Bürger: Sie haben gerade das Wort Minderwertigkeit genannt, das paart sich eben mit einer speziellen Art des Nationalstolzes in Ungarn. Wie viel Raum gibt es für solche Empfindlichkeiten und Befindlichkeiten überhaupt in der EU?

Schulze-Wessel: Mit gutem Recht sind die Ungarn stolz auf ihre Geschichte, und Barroso hat ja auch hervorgehoben, dass eben mit Ungarn geredet werden muss und nicht gegen Ungarn verfahren werden soll. Es versteht sich von selbst, dass alle europäischen Nationen ihr Nationalbewusstsein nicht aufgeben müssen, aber in der Europäischen Union kann man nur sein, wenn europäische Werte anerkannt werden, und wenn man sich an Verträge hält.

Bürger: Es geht ja nicht nur um den Nationalstolz, sondern eben auch um den verletzten Nationalstolz. Ist die fehlende Wirtschaftskraft Ungarns auch ein Grund für diesen verletzten Nationalstolz oder hat er sich eben doch über die verschiedenen Niederlagen der Jahrhunderte manifestiert?

Schulze-Wessel: Sicherlich ist Ungarn ein Land, das in hohem Maße auch an eigenen Niederlagen orientiert ist, also Trianon, das heißt, die Zerschlagung des alten Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg ist hier ein besonders wichtiger Punkt. Aber ich denke, man sollte dies nicht überbewerten und auch nicht zur Entschuldigung oder allzu sehr zur Erklärung des Verhaltens der ungarischen Regierung anführen. In einer wirtschaftlichen Krise befinden sich auch andere EU-Staaten, und ich sehe auch keinen Beitrag, den jetzt die von der EU angegriffenen Reformen irgendwie dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg Ungarns leisten würden. Also man muss beides getrennt sehen, die Wirtschaftskrise muss überwunden werden, aber sie wird nicht dadurch überwunden, dass man Eingriffe in die Rechtsordnung vornimmt, dass man die Unabhängigkeit der Notenbank bedroht und dass man die Meinungsfreiheit einschränkt. Ganz im Gegenteil, also wirtschaftliche Prosperität wird nur zu gewinnen sein, wenn Rechtsstaatlichkeit gewährleistet wird.

Bürger: Die Rolle Ungarns ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Osteuropa-Historiker Martin Schulze-Wessel von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Selbst wenn Viktor Orban jetzt weitere Zugeständnisse an die EU macht und zurückrudert, innenpolitisch hebelt er anscheinend weiter an den Grundfesten der Demokratie seines Landes. Das zeigt das Beispiel, das ich eingangs genannt habe, von den Nationalfeiertagen. Muss Ungarn also von der EU schärfer beobachtet werden als andere Mitgliedsländer?

Schulze-Wessel: Nein, aber genau so scharf, und dabei darf es eben nicht nur um Vertragsverletzungen gehen, sondern es muss auch darum gehen, den Geist von Demokratie und Meinungsvielfalt genau zu beobachten. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Europäischen Kommission, sondern auch eine Aufgabe von Öffentlichkeit in ganz Europa. Das Besondere an dieser Auseinandersetzung ist ja, dass wirklich eine europäische Debatte geführt wird. Orban hat, und dafür muss man ihm Respekt zollen, seine Position im europäischen Parlament vertreten, und dort haben sich dann Lager gebildet, die grenzüberschreitend waren. Also die europäische Linke einschließlich der ungarischen hat eine Position vertreten, und die Konservativen und Christdemokraten einschließlich seiner Partei Fidesz eine andere Position. Da ist also eine europäische Debatte im Gange, und diese Debatte findet über Ungarn statt, könnte aber über jeden anderen Staat auch stattfinden.

Bürger: Ist aber eben eher eine Links-Rechts-Debatte als eine, die sich an den Grenzen von Nationalstaaten reibt.

Schulze-Wessel: Und das ist das Neue und wirklich sehr Bemerkenswerte, dass tatsächlich eine europäische Debatte geführt wird, zu der Orban Anlass gegeben hat.

Bürger: Würde Ungarn in seiner heutigen Konstitution überhaupt noch in die EU aufgenommen werden?

Schulze-Wessel: Nein, sicherlich nicht, das ist auch der Grund dafür, dass Vertragsverletzungsklagen ja geführt werden. Es geht darum, dass Ungarn Zusagen nicht einhält, die es mit dem EU-Beitritt gegeben hat. Darum geht es im Kern.

Bürger: Und was hat man dann 2004 versäumt und übersehen?

Schulze-Wessel: Nein, man hat nichts versäumt. Wer könnte eine Regierung, die sich auf so ein breites Votum wie die ungarische Regierung in ihrem Parlament stützt, wer könnte sie zunächst einmal daran hindern, eine neue Verfassung in Gang zu setzen und eben verschiedene neue Gesetze zu erlassen. Es muss nur jetzt von – und es wird ja jetzt auch von der EU-Kommission deutlich gemacht werden, dass neue Gesetze sich im Rahmen der bestehenden EU-Verträge bewegen müssen und im Geist Europas.

Bürger: Was heißt das konkret jetzt? Was hat die EU daraus gelernt, zum Beispiel jetzt mit Blick auf neue Beitrittskandidaten wie Kroatien?

Schulze-Wessel: Man wird nie verhindern können, dass sich neue Kandidaten im Nachhinein anders entwickeln, als man sich das vorstellt. Das haben wir im Falle von Österreich und Italien ja auch schon beobachten können. Dieser Fall Ungarn wird möglicherweise auch in anderen Staaten noch einmal auftauchen. Wichtig ist – und da darf man optimistisch sein –, dass ein Mechanismus in Gang kommt, der Vertragsverletzungen tatsächlich ahndet. Beim EU-Beitritt eines Staates kann man nicht vorhersagen, wie die weitere Entwicklung sein wird bei der nationalen Gesetzgebung.

Bürger: Der Osteuropahistoriker Martin Schulze-Wessel. Herzlichen Dank für das Gespräch!

Schulze-Wessel: Sehr gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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