Operieren nahe der Front
Der Waffenstillstand in der Ostukriane ist brüchig. Entlang der Front ist das Leben für die Menschen auf beiden Seiten gefährlich und beschwerlich. In einem Krankenhaus nahe des Orts Debalzewo arbeiten 170 Mitarbeiter ohne Gehalt. Ein Bericht aus dem Ausnahmezustand.
Pawel Lisjanski ist auf dem Weg nach Switlodarsk. Der Chef der Menschenrechtsgruppe Ostukraine hat erfahren, dass das Krankenhauspersonal dort seit einem Jahr kein Geld bekommt.
Der wuchtige 28-Jährige ist ständig entlang der Frontlinie unterwegs, dort wo die Menschen oft mehr als zehn Stunden bei Wind und Wetter an den Übergangsstellen warten. Er spricht mit ihnen über Löhne, die in den sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk willkürlich gekürzt werden, über Renten, für die die Pensionäre extra in ukrainisches Gebiet müssen. Der Menschenrechtsaktivist mit dem babyweichen Gesicht klemmt sich ständig selbst hinters Steuer, rast über von Panzern kaputt gefahrene Straßen, stoppt an unzähligen Checkpoints, die nur bei Tageslicht passiert werden dürfen. Pawel hat Schutz organisiert, der zur Stelle ist, als es ernst wird.
"Das ist frontnahes Gebiet. Hier steht das Switlodarkser Kraftwerk, das wichtig für die gesamte Ukraine ist und deswegen Ziel von Anschlägen sein kann. Es treibt eine Reihe von Banden hier ihr Unwesen. Ohne Begleitung von Wachtrupps sollte niemand unterwegs sein."
Dass es ausgerechnet ein Wachposten auf ukrainisch-kontrolliertem Gebiet ist, der seine Kalaschnikow auf unser Auto richtet, jagt auch Pawel Angst ein. Ein Soldat zielt mit seinem Gewehr geradewegs auf ihn. Aber noch ehe Pawel ausgestiegen ist, umringen den Checkpoint-Wachhabenden fünf schwer bewaffnete Soldaten der ukrainischen Streitkräfte, unser Begleitschutz. Leise reden sie auf den Kameraden ein, nach wenigen Minuten löst sich alles friedlich. Eine Kommunikationspanne zwischen Armee und Freiwilligenbataillon. Wir dürfen weiter zum Krankenhaus Switlodarsk, das früher zu Debalzewo gehörte.
Ein Nebengebäude, die Infektionsabteilung ist zerbombt, überall liegen Trümmer und Glassplitter. Auf der Rückseite des Haupthauses wurden die Fensterscheiben durch dicke Folien ersetzt. Chefarzt Gennadi Gurschij ist auf die Kiewer Regierung nicht gut zu sprechen.
"Sehen Sie, wie sich der Staat um uns sorgt? Drei Kilometer von hier entfernt ist die Front. Wir sollen bleiben, aber man bezahlt uns nicht. 170 Mitarbeiter bekommen ein Jahr schon kein Gehalt. Wir gehörten zu Debalzewo, das ist jetzt besetztes Gebiet. Jetzt überlegen sie, ob Charkiw zuständig ist, solange bekommen wir kein Geld. Wenn wenigstens die Schüsse aufhören würden. Hören Sie, Maschinengewehre. Keine Sorge, die sind weit weg."
Soldaten und Zivilisten wurden im Keller operiert
Während des Kessels von Debalzewo im Januar und Februar haben sie hunderte von Soldaten und Zivilisten im Keller operiert. Offiziell fielen in der Schlacht 345 Soldaten, inoffiziell kursiert eine Zahl von 2000. Von der Hilfsorganisation Cap Anamur werden nicht nur die Scheiben, sondern gleich alle Fenster erneuert und ein Teil der Gehälter gezahlt. Solange die Handwerker neue Fenster einbauen, werden nur Notfälle aufgenommen.
"Diese alte Frau wurde uns heute gebracht", erklärt der Stationsarzt. "Sie ist 80 Jahre alt und hat eine Flasche selbstgebrannten Schnaps getrunken." Herzinfarkte, Schlaganfälle, Depressionen, Alkoholvergiftungen häufen sich. Schwangere Frauen, die in den Separatistengebieten leben, kommen zur Geburt zum Beispiel nach Bilowodsk auf ukrainischem Gebiet. Pawel Lisanksij bringt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck dorthin, denn sie hat den Ort vor Monaten schon einmal besucht und inzwischen per Crowdfunding einen Entbindungsstuhl gespendet.
"Ist das unser? Das ist ihrer", sagt Sinaida Kusmenko, die Leiterin der Geburtsstation. "Ein Wunder für uns. Schön! Den Patientinnen gefällt er sehr gut." Die 28-jährige Julia Majurkina aus der sogenannten Volksrepubliken Lugansk hat in Bilowodsk ihre Tochter Jana zur Welt gebracht.
"Ich habe in Lugansk geheiratet, aber dann beschlossen, lieber auf ukrainischem Gebiet zu leben, dort kann man kein Kind großziehen ist alles unklar, die Gehälter, Sozialhilfe. Hier ist es besser, einfacher und vor allem vertrauenswürdiger."
Auch im Geburtshaus Bilowodsk kommen auffallend viele Kinder zu früh zur Welt. Der Krieg, die Strapazen, wenn sie von dem besetzten ins ukrainische Gebiet wollen, sind Stress für die werdenden Mütter.
"Der Junge wiegt ein Kilogramm, er wurde in der 28. Woche geboren. Er ist zehn Tage alt. Das Mädchen dort ist etwas größer, sie schafft es bestimmt. Wir haben sehr viele Frühgeburten und gar nicht die Technik dafür."
Der kleine Junge trägt noch nicht einmal einen Namen. Wenn die Maschine Sauerstoff in seine unterentwickelten Lungen pumpt, hebt sich der ganze Körper. Beide Brutkästen sind technisch veraltet. Hätten die Frauen auf der Station einen Wunsch frei, würde ein neuer Inkubator mit Lungenmaschine ganz oben stehen.