Was von der Katholischen Soziallehre geblieben ist
Heute wäre Oswald von Nell-Breuning 125 Jahre alt geworden. Burkhard Schäfers erinnert an den großen Mann der Katholischen Soziallehre – und erkundet, welche Rolle diese Idee heute noch hat, die eine Versöhnung von Arbeit und Kapital aus christlichen Motiven anstrebt.
"Diese Wirtschaft tötet", meint Papst Franziskus. "Unbestreitbar ist, dass wir auf Kosten der unterentwickelten Völker leben", behauptete schon vor Jahrzehnten Oswald von Nell-Breuning.
Geboren am 8. März 1890 in Trier. Katholischer Theologe und Ökonom. 1911 Eintritt in den Jesuitenorden. Später Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Frankfurt-Sankt Georgen. Mitbegründer der katholischen Soziallehre. Gestorben 1991 im Alter von 101 Jahren.
Vieles von dem, was Nell-Breuning sagte und schrieb, klingt heute erstaunlich aktuell:
"Warum fehlt es der Katholischen Soziallehre trotz ihres überzeugenden Wahrheitsgehaltens an Glaubwürdigkeit? Die Welt fragt, ob die Taten den Worten entsprechen."
Er will eine soziale Ordnung, ein vernünftiges gesellschaftliches Zusammenleben.
"Und da liegt, Gott sei's geklagt ..."
Der Wirtschaftsethiker Friedhelm Hengsbach leitete 14 Jahre lang das Oswalt von Nell-Breuning-Institut für Wirtschaft und Gesellschaftsethik in Frankfurt St. Georgen. Er kannte Nell-Breuning gut und bringt dessen Lehre auf den Punkt:
"Was ihn ja sehr bewegt hat: Wie denn eine Wirtschaft aus Sachzwängen befreit werden könne, die ja eigentlich gar nicht so unverrückbar sind. Und auf sozial befriedigende Ergebnisse hinlenken kann. Die Achtung vor dem Menschen, der Respekt vor der Menschenwürde, was also auch den ersten Artikel der bundesrepublikanischen Verfassung ausmacht."
Nicht nur Theologe
Oswald von Nell-Breuning war Priester, aber längst nicht nur Theologe: Bevor er in den Jesuitenorden eintrat, studierte er Mathematik und Naturwissenschaften. Erst danach kamen Philosophie und Theologie. Anschließend verlagerte sich sein Schwerpunkt noch einmal: Von Moraltheologie und Kirchenrecht zu Ökonomie und Sozialphilosophie.
"Er ist in seiner Biografie in die Begegnung mit der Wirtschaft hineingeraten. Und zwar über seine Promotion, die er 1929 - also im Schatten der Weltwirtschaftskrise - geschrieben hat über Börsenmoral. Und dann ist er über die katholische Arbeiterbewegung an einen Standort geraten, aus dem er Wirtschaft überwiegend aus der Perspektive der Arbeitsverhältnisse her betrachtet."
Anfangs prägte ihn der Ordoliberalismus der Freiburger Schule. Also die Idee einer politischen Ordnung, die Grundlage ist für funktionierenden Wettbewerb. Sein Denken war zunächst vom Naturrecht bestimmt. Dann allerdings distanzierte sich Nell-Breuning von überzogenen normativen Ansprüchen, sagt der Jesuit Friedhelm Hengsbach:
"Naturrecht kann nicht das Freiheitspathos der modernen Zeit sein. Oder auch die Ordnungsgefüge, das Privateigentum, das müsste man differenziert betrachten. Das ist sein Ansatz: die Sache, die Situation zunächst einmal ernst zu nehmen. Und danach die normativen Überzeugungen, auch die moralischen Überlegungen zu gestalten. Damit ein wechselseitiges Verhältnis von Frage und Antwort, oder von Dialog, zustande kommt."
Ein Ordenspater, ein Mann der Kirche, der sich intensiv mit weltlichen Fragen beschäftigt: Oswald von Nell-Breuning galt als Grenzgänger.
Hauptautor der Sozialenzyklika Quadragesimo anno, veröffentlicht 1931 von Papst Pius dem Elften. In den 50er- und 60er-Jahren war Nell-Breuning Berater des Wirtschafts- und des Familienministeriums, der SPD - die damals noch viel antikapitalistischer war als heute - und des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Kirche, Politik und Wirtschaft
Nell-Breuning brachte Kirche, Politik und Wirtschaft zusammen. Deshalb finden sich auch Prinzipien aus der katholischen Soziallehre in politischen Ordnungen wieder: Etwa das der Subsidiarität, erklärt Patrick Zoll, Sozialethiker an der Münchner Hochschule für Philosophie:
"Alles, was auf der niedrigeren Ebene geleistet werden kann, soll auch von dieser geleistet werden. Dass aber höhere Ebenen im Dienst stehen der Autonomie der niedrigeren Ebene. Also bei uns: Alles, was auf lokaler oder Länderebene gemacht werden kann, soll auch dort gemacht werden. Das Land oder der Bund springt dann ein, wenn das auf der niedrigeren Ebene nicht mehr geleistet werden kann."
Das Prinzip der Subsidiarität wurde zum ersten Mal ausdrücklich erwähnt im Jahr 1931 in der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno über die gesellschaftliche Ordnung. Es betont die Selbstverantwortung des Menschen. Heute ist der Begriff "Subsidiarität" weit verbreitet: in der Staatstheorie etwa, in den EU-Verträgen und in der Wirtschaft. Die katholische Soziallehre machte also Karriere. Auch, weil die Kirche während des Zweiten Vatikanischen Konzils ihre Sichtweise grundlegend veränderte, erläutert Sozialethiker Zoll:
"Das Neue des Zweiten Vatikanums, oder Gaudium et spes, kann man erwähnen, ist nochmal eine theologische Neuausrichtung. Dass man das Soziale eher im Glauben, in der Heilsordnung stärker betont, und sich abwendet von einer eher philosophischen, naturrechtlichen Ausrichtung, die die Soziallehre seit Leo XIII. eigentlich bisher hatte."
Neben der Subsidiarität prägen zwei weitere Prinzipien die katholische Soziallehre: Solidarität und Personalität.
"Das Prinzip der Personalität meint, dass der Mensch im Mittelpunkt allen Handelns stehen muss. Dass die Wirtschaft zwar nach Effektivität und Gewinn streben darf, aber letztlich wirtschaftliches Handeln immer im Dienst am Menschen sein sollte. Das ist die grundlegende Idee der sozialen Marktwirtschaft gewesen. Dass der Mensch letztlich das Maß aller Dinge sein muss im ökonomischen, sozialen und politischen Handeln."
Oswald von Nell-Breuning veröffentlichte über 1.800 Schriften. Eines seiner zentralen Themen: das Verhältnis von Arbeit und Kapital.
Nähe zur katholischen Arbeitnehmer-Bewegung
Er kritisierte den wirtschaftlichen Liberalismus und misstraute den angeblichen Selbstheilungskräften des Marktes. Dabei prägte ihn seine Nähe zur Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung. Deren Mitglieder sollen ihn sogar "unser Professor" genannt haben. Er argumentierte aus der Position der abhängig Beschäftigten heraus - für faire Löhne, und dass Angestellte in Unternehmen mitbestimmen dürfen. Wirtschaftsethiker Friedhelm Hengsbach hat sich intensiv mit Leben und Werk Nell-Breunings beschäftigt:
"Er war absolut kapitalismuskritisch. Seine ersten Berührungen mit Wirtschaftswissenschaftlern gingen in Richtung des Ordoliberalismus der Freiburger Schule. Allerdings sind die Ordoliberalen eher zurückhaltend in der Frage der Arbeitsverhältnisse, in denen ja Asymmetrie herrscht nach Nell-Breuning zwischen der Minderheit, die die Produktionsmittel besitzt, und der Mehrheit der abhängig Beschäftigten, die im Grunde nur ihr Arbeitsvermögen und kein Eigentum haben. Das ist die Schieflage der Arbeitsverhältnisse, die korrigiert werden muss durch staatliche Intervention oder durch starke Gewerkschaften."
Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte Nell-Breuning die Idee einer marktwirtschaftlichen Ordnung für die Bundesrepublik. Allerdings innerhalb klarer Grenzen: Der Staat solle sich nicht dem Markt unterwerfen. Sozialpolitik dürfe kein Anhängsel sein. Mit der konkreten Umsetzung war er deshalb nicht einverstanden:
"Er nannte das immer nur einen 'sozial temperierten Kapitalismus'. Sodass er von daher auch die asymmetrische Struktur des Kapitalismus aufbrechen und zumindest umbiegen wollte. Durch Vermögensbeteiligung der abhängig Beschäftigten, oder vor allem durch die Mitbestimmung einer Unternehmensverfassung, die paritätisch Arbeiter und Kapitaleigner zu einer Gemeinschaft zusammenfügte, die dann die Manager berufen."
Mit seiner Kritik machte sich Nell-Breuning nicht nur Freunde. Manche rückten ihn in die Nähe des Marxismus. Dabei habe Nell-Breuning ein differenziertes Bild von Karl Marx gehabt, sagt Friedhelm Hengsbach.
"Er hat unterschieden: auf der einen Seite die Gesellschaftsanalyse. Da hat er oft gesagt: 'Wir stehen alle auf den Schultern von Marx'. Seine weltanschauliche Orientierung, also wenn es um das Privateigentum ging oder die Religion, das hat er natürlich abgelehnt. Als Christ hat er das nie akzeptiert. Aber die Analyse, die hat er übernommen."
"Die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage." Papst Franziskus in seinem ersten Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium, Freude des Evangeliums, im November 2013. Und weiter: "Das gesellschaftliche und wirtschaftliche System ist an der Wurzel ungerecht." - "Diese Wirtschaft tötet."
Die Sätze des Papstes sorgten für Diskussionen. Wirtschaftsvertreter haben Franziskus vorgeworfen, er argumentiere verkürzt und undifferenziert. Martin Wilde vom Bund katholischer Unternehmer, kurz BKU:
"Wenn damit ein crony capitalism gemeint ist, wo bestimmte ökonomische Partikularinteressen von den politischen Machthabern privilegiert werden, Pfründe verteilt werden, dann stimmt das sicherlich, dass diese Wirtschaft ausschließend ist. Aber wenn wir an die Soziale Marktwirtschaft denken, an die sozialen Sicherungssysteme, die wir in Deutschland haben, dann ist das ein Satz, der, glaube ich, auf Deutschland nicht zutrifft."
Soziale Ungleichheit nimmt zu
Studien zeigen, dass auch hierzulande die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandergeht. Rentner und Alleinerziehende haben ein wachsendes Risiko, in die Armut zu rutschen. Die soziale Ungleichheit auf der Erde nimmt zu. Dem entgegen zu wirken, dafür seien aber Staaten und Politik zuständig, meint BKU-Mann Wilde:
"Da möchte ich aber drauf hinweisen, dass das nicht nur mit der Wirtschaft zusammenhängt, sondern auch mit dem Rechtsrahmen. Da liegt natürlich vieles im Argen. Dieser Aspekt wird in Evangelii Gaudium angesprochen, der Papst spricht die Korruption an. Aber da würde ich mir noch eine vertieftere Reflexion wünschen. Die Verantwortung für all diese Missstände an der Türschwelle der Unternehmer abzuladen, ist sicherlich nicht sachgerecht."
Die katholischen Unternehmer berufen sich auf die Stellungnahmen der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland. Durch deren Sozialwort von 1997 und die Sozialinitiative von 2013 sehen sie sich in ihrer wirtschaftsliberalen Haltung bestätigt.
"Ein System, was die menschliche Freiheit nicht aufgibt, kann nur eine Wettbewerbswirtschaft sein, kann nur eine Marktwirtschaft sein. Diese braucht einen Ordnungsrahmen, natürlich, der dazu führt, dass der Tugendhafte nicht bestraft, sondern belohnt wird."
Wenn Friedhelm Hengsbach auf das derzeitige Wirtschaftssystem schaut, kommt er zu einer anderen Bewertung. Der Jesuit lässt durchblicken: Jüngere Äußerungen der Kirche in Deutschland zu sozialen Fragen sind ihm zu harmlos:
"Weil die Worte typische Schreibtischarbeiten waren, von irgendwelchen Gelehrten, die man zugezogen hatte, aber völlig aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Als würde man aus der Entfernung des Sirius heraus die Wirtschaft betrachten. Dagegen hat der gegenwärtige Papst eine ganz eindeutige Perspektive eingenommen. Nicht aus der Perspektive der reichen Industrieländer, der oberen Schichten, der bürgerlichen Mittelschicht heraus gebildet wird, sondern eine Perspektive von unten."
Die Katholische Soziallehre heute: Tot oder auferstanden? Ist etwas geblieben von Oswald von Nell-Breuning?
Manche haben der katholischen Soziallehre in den vergangenen Jahren attestiert, ihre Idee sei gescheitert. Martin Wilde vom BKU sieht das ganz anders: Genau das Gegenteil sei der Fall:
"Wenn man so will, hat sich die katholische Soziallehre zu Tode gesiegt. Sie ist in weiten Teilen zumindest in Deutschland in die Praxis umgesetzt. Wir haben die Grundanliegen der katholischen Soziallehre in die Soziale Marktwirtschaft, im demokratischen Rechtsstaat Deutschland und in der Europäischen Union weitgehend verwirklicht."
Wirtschaftskrise, Finanzkrise, entfesselte Märkte: Vieles davon hatte Oswald von Nell-Breuning vorhergesagt. Verhindern konnte er die Entwicklung damit nicht. Sozialethiker Patrick Zoll:
"Im Bezug auf die letzten 20 Jahre ist es ja geradezu prophetisch, was die katholische Soziallehre sagt. Die Finanzmarktkrise, da zeigt sich ja ein entfesselter Kapitalismus, der sich loslöst von der Frage, wem dient das Ganze. Die Gier, oder reine Profitmaximierung, oder Deregulierung, Neoliberalismus - unter diesen ganzen Vorzeichen zeigt sich sehr deutlich, dass wir nicht weniger, sondern mehr katholische Soziallehre bräuchten."
Nachdem sie zuletzt etwas in Vergessenheit geraten war,. Der Argentinier ist geprägt durch die Theologie der Befreiung. Deren Vertreter sorgten in den 70er-Jahren dafür, dass die so genannte "Option für die Armen" ein Teil der katholischen Soziallehre wurde. Das päpstliche Schreiben Evangelii Gaudium fügt sich nahtlos an und stellt aktuelle Fragen, meint Patrick Zoll:
"Wie grenzt sich Europa ab gegenüber Flüchtlingen und der Welt? Wie gehen wir damit um, wenn Tausende von Menschen im Mittelmeer ertrinken? Wie stark stehen ökonomische Interessen im Vordergrund, angesichts von konkreten Menschenleben, wenn Flüchtlinge aus Gegenden fliehen, wo menschenunwürdige Bedingungen vorherrschen?"
Als die katholische Soziallehre entstand, waren Nationalstaaten die entscheidende politische Größe. Das ist heute anders: Mit Blick auf die Dominanz der Wirtschaft, auf transnationale Unternehmen, die weltweit Geschäfte machen, muss die Kirche ihre Idee weiter entwickeln.
Zoll: "Die größte Herausforderung ist: Wie geht man mit globalisierten Märkten um? Was für ein ordnungspolitisches Programm hat man, wenn Märkte, politische Akteure, politische Rahmenordnungen sehr stark auseinanderliegen? Das ist die größte Herausforderung, wie die katholische Soziallehre in einer globalisierten Welt noch effektiver eingefordert werden könnte."