"Vorbild für eine ganz neue literarische Gattung"
Vor 500 Jahren veröffentlichte der britische Staatsmann und Humanist Thomas Morus sein bekanntestes Werk: "Utopia". Der Philosoph Otfried Höffe hat die Schrift neu verlegt. Manches in Morus' idealer Gesellschaft wirkt bis heute - anderes sei aber "Scherz und Ironie" gewesen, meint Höffe.
Korbinian Frenzel: Heute Morgen, der Auftakt einer Woche, einer Themenwoche, die sich mit nichts Geringerem als dem Traum von einer guten, von einer perfekten Welt beschäftigt. Ein Ort, der vor 500 Jahren literarisch geschaffen wurde durch Thomas Morus, den englischen Humanisten. Und ich will Ihnen den kompletten Titel nicht vorenthalten: "Von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia. Ein wahrhaft goldenes Büchlein, genauso wohltuend wie heiter" – Titel Ende.
"Utopia". Seit Morus geistert dieser Begriff durch die Welt, und bevor wir uns in dieser Woche mit den Zukunftshoffnungen und -enttäuschungen unserer Zeit befassen, schauen wir auf den Ursprung mit dem Philosophen Otfried Höffe. Er hat "Utopia" gerade neu herausgegeben. Guten Morgen, Herr Höffe!
Otfried Höffe: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Lassen Sie uns erst mal über diesen Mann reden. Wenn man sich dessen Ideen, die so herumgeistern seit "Utopia" anschaut, die Sechstagewoche, Gesundheitsversorgung für alle, dann könnte man ja meinen, das sei so etwas wie der erste Kommunist gewesen, aber ich glaube, das kommt biografisch nicht ganz zusammen bei ihm, oder?
Unerschütterliches Bekenntnis zum Christentum
Höffe: Nein, das kann man nicht sagen. Er ist ein jüngerer Zeitgenosse des Florentiner Politikers und Theoretikers der Politik, Niccolò Machiavelli. Im Unterschied zu ihm verbindet er ein hohes Maß an humanistischer Gelehrsamkeit mit einem unerschütterlichen Bekenntnis zum Christentum. Und mit dem bedeutendsten Humanisten seiner Zeit befreundet, mit Erasmus von Rotterdam. Erasmus von Rotterdam widmet Thomas Morus sein "Lob der Torheit", und in gewisser Weise bedankt sich Thomas Morus mit diesem Gegenstück, der "Utopia".
Frenzel: Wie kommt es dazu, dass ein ja wirklich durch und durch frommer Kirchenmann, der ja letztendlich für den Glauben sogar gestorben ist am Ende, so ein Paradies auf Erden skizziert?
Höffe: Zunächst muss man daran erinnern, er ist ja ein bedeutender Politiker und Staatsmann gewesen. Er hat eine große Karriere gemacht und stellte dann fest, die Verhältnisse in England sind ziemlich schlecht. Die armen Leute werden, kann man sagen, ausgebeutet, und dagegen schreibt er nun in gewisser Weise "Utopia", also die Geschichte oder die Vorstellung, wie es eigentlich besser aussehen sollte.
Frenzel: Dann nehmen Sie uns doch mal mit in diese Utopie. Wie sieht die denn aus, wie sieht diese Insel Utopia aus?
Alle tragen dieselben Gewänder
Höffe: Also er stellt sich vor, erstens mal, um mit dem Abschreckenden zu beginnen: Die tragen alle dieselben Gewänder. Die Menschen sind dort nicht an Kleiderluxus interessiert, auch nicht an Mode, anders zu sein, aufzufallen – das Gewand muss warm sein, muss der Arbeitstätigkeit angemessen sein, ansonsten hat es keine besondere Bedeutung.
Das Nächste – alle werden handwerklich ausgebildet, es ist also eine gewisse Vorsicht dagegen, dass sich eine, sagen wir mit modernen Worten, eine Intellektuellenschicht herausbildet, die nur auf ihre intellektuelle Arbeit schaut, die Texte schreibt, miteinander debattiert und auf Handwerker eher skeptisch herabschaut oder sie einfach als Dienerschaft betrachtet.
Das will er nicht, weil man eben dank einer überlegenen Wirtschaftsform, Wirtschaftsweise und des Fleißes der Bewohner genug zu essen hat, muss man auch keinen Achtstundentag pflegen, sechs Stunden reichen pro Tag. Also eher eine Gesellschaft, in der man dank guter Bildung und Ausbildung sein Auskommen in einer nicht gerade luxuriösen, aber doch sehr wohlhabenden Weise findet.
Frenzel: Es gibt in der aktuellen Ausgabe der "Zeit" einen Aufsatz von Thomas Assheuer, und der hat Begriffe geprägt, die ich Ihnen gern mal präsentieren möchte: "Utopia ist ein Freiluftgefängnis, eine Mischung aus Sozialtechnologie und Beglückungszwang." Ist dieses Utopia aus einer heutigen liberalen, libertären Perspektive noch so ein anstrebenswerter Ort beziehungsweise Zustand?
"Utopia" heißt wörtlich "nirgendwo"
Höffe: Man darf nicht vergessen, "Utopia" heißt ja wörtlich "nirgendwo", "Nirgendland" – es ist also ein Land oder ein Gemeinwesen, dass nirgendwo so existiert. Und deshalb weiß man auch gar nicht genau, ob dieser humanistisch Gebildete das wirklich zum Vorbild gemacht hat oder nur den Zeitgenossen gezeigt hat: So kann die Welt auch aussehen, und jetzt schaut mal an, ob euch diese Welt gefällt. In mancher Hinsicht sicherlich besser als eure Verhältnisse, die ihr kennt. In anderer Hinsicht kann man sagen, ist es bloßes Seemannsgarn, Scherz und Ironie ohne tiefere Bedeutung.
Frenzel: Wie kam denn "Utopia" in der damaligen Welt an? In diesem Sinne, wie Sie es gerade beschrieben haben, letztendlich als Scherz? Oder hat das eine Wirkung darüber hinaus?
Höffe: Doch, es hat eine Wirkung. Es wird zum Vorbild eben für eine ganz neue Gattung. Thomas Morus schafft mit diesem Werk eine neue literarische Gattung, also wieder andere Werke. Eines der berühmtesten ist von Tommaso Campanella, die "Sonnenstadt", und eine andere von Bacon, "Neu-Atlantis".
Frenzel: Wenn man das auf das Gesellschaftlich-Politische überträgt, die Utopien, die in den letzten 500 Jahren entstanden sind – man erkennt sofort Brücken zum Kommunismus, zum Sozialismus. Ist das das Einzige, was Thomas Morus letztendlich inspiriert hat, oder gibt es eine Rezeption weit darüber hinaus?
Die großen Sozialisten schätzten Morus
Höffe: Das ist etwas schwierig zu sagen, weil die Rezeption sehr vielfältig ist. Er findet aber zum größten Teil Anhänger, zum geringeren Teil Personen, die ihn ablehnen. Und man schätzt an ihm erstens einmal seine literarische Qualität, zweitens die Fähigkeit, über die Gegenwart hinaus eine ganz andere Lebenswelt zu entwerfen, und macht das dann in verschiedener Weise nach, ohne – selten wenigstens – das so genau zu übernehmen. Aber wenn Sie auf Sozialismus hinweisen, haben Sie recht: Die großen Sozialisten schätzen in Thomas Morus eines ihrer Vorbilder.
Frenzel: 500 Jahre "Utopia", Auftakt unserer Themenwoche im Deutschlandradio Kultur. Otfried Höffe, Philosoph in Tübingen und Herausgeber der neuen Auflage von "Utopia". Vielen Dank für das Gespräch!
Höffe: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?