Otmar Wiestler: Eine neue Ära der Krebsmedizin

Otmar Wiestler im Gespräch mit Jürgen König |
Anlässlich des in Genf tagenden Weltkrebskongresses hat Otmar Wiestler, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg, die "maßgeschneiderte Therapie" als eine "berechtigte Hoffnung" für die Bekämpfung von Krebs bezeichnet. Mit Medikamenten ließen sich individuelle Behandlungsmöglichkeiten für Patienten entwickeln.
Jürgen König: In der Behandlung von Krebs setzen Forscher immer größere Hoffnung in die Erkenntnisse aus der Molekularbiologie und der Genomforschung. Und ein Begriff macht dabei gerne die Runde: Die maßgeschneiderte Therapie. Klingt wie ein Zauberwort. Mittels einer Genanalyse soll für jeden Patienten eine maßgeschneiderte Therapie möglich sein, denn mithilfe der Genanalyse lernt man die Feinstruktur des Erbmaterials von Krebszellen immer genauer kennen, erkennt die Veränderungen, die krank machen, und kann so individuelle Behandlungsmöglichkeiten entwickeln. Bestimmte Krebsarten, wie zum Beispiel die Leukämie, so hoffen die Forscher, könnten in Zukunft heilbar werden. Kein Wunder also, dass der neuen Technik großes Interesse gilt, auch auf dem heute in Genf beginnenden Weltkrebskongress. Wo die Forschung steht und ob die Hoffnungen auf eine maßgeschneiderte Therapie berechtigt sind, soll uns jetzt Prof. Otmar Wiestler sagen. Er ist der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Herr Wiestler, guten Tag!

Otmar Wiestler: Grüß Gott, Herr König!

König: Was konkret bedeutet so eine maßgeschneiderte Therapie? Wie könnte so was aussehen?

Wiestler: Ja, maßgeschneiderte Therapie bedeutet eigentlich zwei Dinge: Das eine ist, die Therapie ist maßgeschneidert gegen eine ganz bestimmte Art von Krebs. Und sie ist deshalb maßgeschneidert, weil sie sich gegen eine Veränderung in den Krebszellen richtet, die für die Entstehung dieser Krebserkrankung verantwortlich ist. Das ist ein völlig neues Konzept. Bislang behandeln wir Krebspatienten ja vor allem mit Operation, mit Bestrahlung und mit Chemotherapie. Das sind aber keine maßgeschneiderten Behandlungen, weil sie einfach jede Zelle im Körper treffen, die sich schnell teilt. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt ist: Maßgeschneidert heißt auch auf einen einzelnen Patienten zugeschnitten. Und das bedeutet, wir versuchen in Zukunft vorauszusagen, bei einem einzelnen von Krebs betroffenen Menschen, ob bei ihm eine bestimmte Behandlung erfolgreich sein wird oder nicht.

König: Noch mal zum besseren Verständnis: Für viele Laien ist ja ein Gentest eine generelle Untersuchung des Erbmaterials nach möglichen Krankheiten. Die Gentherapie bedeutet doch aber, sich ganz gezielt nur das krankmachende Gen anzuschauen, das für die Krankheitsauslösung zuständig ist. Habe ich das so richtig verstanden?

Wiestler: Ja, das ist richtig. Da muss man auch unterscheiden. Gentests, die wir durchführen, werden nicht im Erbmaterial aller Zellen eines Menschen durchgeführt, sondern nur in der Krebszelle. Alle Krebskrankheiten, weiß man heute, sind Krankheiten des Erbguts. Das heißt, durch Veränderungen im Erbgut einzelner Zellen kann es dazu kommen, dass eine Zelle plötzlich zu wuchern anfängt und sich wie eine Krebszelle verhält. Es geht also nicht um streng erbliche Erkrankungen, sondern es geht um Veränderungen des Erbguts einzelner Zellen, die für Krebs verantwortlich sind.

König: Ist immer nur ein Gen an einer solchen Veränderung oder einer solchen Krebserkrankung beteiligt oder sind es mehrere? Und wenn ja, was hat das für Folgen für die Behandlung?

Wiestler: Also, es ist nicht nur ein Gen beteiligt. Ganz offensichtlich schützt sich der Körper gegen die Entstehung von Krebserkrankungen. Und wenn die Veränderung eines Bausteins im Erbgut ausreichen würde, Krebs auszulösen, würden wir alle wahrscheinlich ständig Krebserkrankungen entwickeln. Wir gehen deshalb davon aus, dass man Veränderungen in mindestens vier oder fünf Genen in derselben Zelle auslösen muss, um eine Krebserkrankung zu verursachen.

König: Gibt es denn heute schon Bereiche, wo die maßgeschneiderte Therapie erfolgreich war? Also, ich habe zum Beispiel gelesen, dass sich ein spezielles Enzym, Tyrosinkinase, in Leukämiezellen, ein Enzym, das zu unkontrollierter Zellwucherung führt, dass sich das sehr gut durch ein Medikament, nämlich Imatinib, unterdrücken lässt. Ist das schon ein Beispiel für die maßgeschneiderte Therapie?

Wiestler: Ja, das ist richtig. Das ist ein sehr eindrückliches Beispiel. Es gibt eine ganze Reihe solcher Medikamente, im Moment in der Größenordnung von etwa zehn, die wirklich maßgeschneidert sind für Veränderungen, die an der Entstehung von Krebs beteiligt sind. Imatinib ist ein Beispiel. Das ist ein Medikament, das erkennt ein Molekül in Zellen, das bei Blutkrebs ganz bestimmte Veränderungen trägt. Und es erkennt nur dieses veränderte Molekül, nicht das gesunde Molekül in gesunden Zellen, was den großen Vorteil hat, dass ein solches Medikament wirklich nur die Krebszelle trifft, nicht aber normale oder gesunde Zellen des Körpers. Das ist ja ganz anders bei Bestrahlung und Chemotherapie. Dieses Imatinib ist aber nicht das einzige Beispiel. Ein zweites bekanntes Beispiel ist das Medikament Herceptin. Das ist ein Antikörper, der mittlerweile große Erfolge hat bei der Behandlung von Brustkrebs. Dieses Herceptin richtet sich gegen ein Eiweiß auf der Oberfläche von Brustkrebszellen, was den Zellen ständig das Signal gibt, zu wuchern oder zu wachsen und in gewisser Weise stellt das Medikament diesen Schalter einfach ab, wodurch die Zellen aufhören zu wachsen.

König: Nun gab es aber auch Berichte, wonach bei manchen Frauen nach der Verwendung des Medikaments Herceptin immer wieder Herzprobleme auftraten.

Wiestler: Das ist richtig, ja.

König: Kommt das Mittel also nicht für jede Frau in Frage? Oder wenn doch, dann nur, wie soll ich sagen, nach genauen Nutzen- und Risikoabwägungen?

Wiestler: Ja, es ist ja in der Medizin leider so, dass jedes Medikament, das wirksam ist, auch Nebenwirkungen hat. Und das trifft auch auf diese neuen maßgeschneiderten Medikamente zu. In der Tat hat man beobachtet, dass eine langfristige Behandlung mit Herceptin zu Störungen in der Herzfunktion führen kann. Das heißt nicht, dass dieses Medikament nicht mehr angewandt werden darf, aber das heißt, dass man erstens bei allen Frauen, die länger behandelt werden, auf das Herz achten muss und dass man besonders vorsichtig sein muss, wenn bereits Herzerkrankungen bekannt sind.

König: Kommen wir noch mal kurz auf Imatinib und die Leukämie zurück: Manche Forscher sprechen schon davon, Leukämie heilbar zu machen. Ist das zu vorschnell?

Wiestler: Das ist zu vorschnell. Also, das Imatinib ist ein sehr wirksames Medikament mit wenigen Nebenwirkungen. Viele Patienten mit einer ganz bestimmten Form von Leukämie, der sogenannten chronischen myeloischen Leukämie, reagieren ganz exzellent auf das Medikament. Allerdings hat man in den letzten Jahren gelernt, dass die Substanz wahrscheinlich nicht alle Krebszellen abtötet. Wenn man nämlich dieses Imatinib absetzt, kommt es häufig dazu, dass der Blutkrebs wieder zurückkommt. Das scheint damit zu tun zu haben, dass sogenannte Krebsstammzellen im Knochenmark dieser Patienten nicht auf Imatinib ansprechen. Das ist ein Thema, an dem im Moment intensiv geforscht wird, weil man natürlich auch diese Zellen noch erwischen möchte.

König: Sie haben geschildert, Herr Wiestler, wie man Nebenwirkungen durch die maßgeschneiderte Therapie zumindest minimieren kann. Welche Risiken bleiben?

Wiestler: Ja, zunächst mal bleibt das Risiko, dass jedes neue Medikament gelegentlich völlig überraschende Nebeneffekte hat. Das muss natürlich bei all diesen Substanzen geprüft werden. Ein weiteres "Risiko", in Anführungszeichen, was bleibt, ist das Risiko, dass Krebszellen leider auch gegen diese neuen maßgeschneiderten Medikamente Resistenzen entwickeln können, das heißt, dass sie widerstandsfähig werden können. Und auch dieses Phänomen muss im Auge behalten werden. Bei der Leukämie zum Beispiel und dem Imatinib beobachtet man tatsächlich, dass es immer mal wieder vorkommt, dass Krebszellen Widerstandsfähigkeit entwickeln und dann nicht mehr auf dieses neue Medikament ansprechen. Dann müssen weitere Medikamente für diese Leukämie hergestellt werden. Ein anderes Problem, was wir haben, ist folgendes: Es gibt beim Menschen etwa 500 verschiedene Krebserkrankungen, die praktisch jedes Organ und jedes Gewebe betreffen können. Diese einzelnen Krebsformen unterscheiden sich sehr stark in den Molekülveränderungen, die zur Entstehung von Krebs führen. Deshalb braucht man wahrscheinlich sehr viele maßgeschneiderte Medikamente, um all diese Krebserkrankungen kontrollieren oder behandeln zu können. Und deshalb liegt eine so ungeheuer große Herausforderung im Moment vor der Forschung.

König: Alles zusammengenommen, wenn Sie den heutigen Forschungsstand sich anschauen, wie schätzen Sie die Zukunft der maßgeschneiderten Therapie ein? Denn ich kann mir vorstellen, viele Hörerinnen und Hörer legen jetzt große Hoffnungen in eine solche neue Strategie.

Wiestler: Ich glaube, diese Hoffnung ist berechtigt. Das ist wirklich eine völlig neue Ära, die vor der Krebsmedizin steht. Die Zukunft wird so aussehen, dass wir zunehmend solche Medikamente in die Hand bekommen, es wird international intensiv, sowohl in Forschungseinrichtungen als auch in der Arzneimittelindustrie, an solchen Substanzen gearbeitet und praktisch monatlich werden neue erprobt. Das wird dazu führen, dass Krebserkrankungen zunehmend besser behandelbar werden. Ob man diese Erkrankungen heilen kann, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber ich glaube, es wird auf jeden Fall gelingen, diese Krankheiten langfristig unter Kontrolle zu bekommen und damit aus Krebs eine praktisch chronische Krankheit zu machen, die sich sehr gut über lange Zeit kontrollieren und behandeln lässt. Ein zweiter Trend, der kommen wird, ist, man wird natürlich diese verschiedenen Behandlungsformen kombiniert gemeinsam einsetzen, diese neuen maßgeschneiderten Medikamente mit Chemotherapie, maßgeschneiderte Medikamente mit Bestrahlung, da wo es Sinn macht. Auch da gibt es sehr vielversprechende erste Ergebnisse und auch da setzen wir durchaus große Hoffnungen.

König: Heute beginnt in Genf der Weltkrebskongress. Über die Möglichkeiten der maßgeschneiderten Therapie ein Gespräch mit Prof. Otmar Wiestler, dem Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Herr Wiestler, vielen Dank!

Wiestler: Bitte sehr!