Outsourcing moralischer Verantwortung

Die Banalität des Bösen ist allgegenwärtig

04:33 Minuten
Der Angeklagte Adolf Eichmann während seiner Vernehmung am ersten Prozeßtag in Israel.
Die "Banalität des Bösen" erkannte Hannah Arendt im Eichmann-Prozess, doch ihre Theorie ist über Einzeltäter hinaus aktuell. © picture-alliance / dpa
Überlegungen von Philip Kovce |
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Die massive Gleichgültigkeit, mit der die Nazi-Verbrechen begangen wurden, hat Hannah Arendt mit der „Banalität des Bösen“ auf den Punkt gebracht. Für den Philosophen Philip Kovce sind Arendts Überlegungen noch immer hoch relevant.
Es zählt zu den bleibenden Verdiensten der Philosophin Hannah Arendt, eine bestimmte Facette des Bösen auf den Punkt gebracht zu haben. Die Rede ist von der "Banalität des Bösen" – ein Begriff, mit dem Arendt das Gebaren Adolf Eichmanns zusammenfasste, der ab 1941 die sogenannte "Endlösung der Judenfrage" koordinierte und dafür später in Israel angeklagt, zum Tode verurteilt und schließlich hingerichtet wurde.
Zur Ironie, ja zur Tragik der Geschichte gehört freilich, dass Arendt die Banalität des Bösen ausgerechnet anhand eines Beispiels erkannte, angesichts dessen sie sich irrte. Denn Eichmann war – soweit wir dies heute wissen – alles andere als ein bloßer Mitläufer, kein kleines, funktionierendes Rädchen im großen, exekutierenden Getriebe.

Richtige Erkenntnis trotz Irrtum

Er war vielmehr glühender Nazi und überzeugter Schreibtischtäter – kurzum: weit mehr als nur ein banaler Bösewicht. Das Banale seines Auftritts vor Gericht maskierte ihn als Unschuldslamm und glich einem Pokerface, das ihm jedoch kein milderes Urteil einbrachte.


Trotz Arendts Irrtum in Bezug auf Eichmann ist ihre Erkenntnis von der Banalität als einer Erscheinungsform des Bösen ebenso treffend wie aktuell. Treffend schon allein deshalb, weil die Geschichte des deutschen Faschismus in der Tat nicht nur die Geschichte großer radikal-böser Männer, sondern auch die Geschichte unzähliger banal-böser Kollaborateure ist, deren mal lautstarker, mal stillschweigender Gehorsam die Nazi-Diktatur entscheidend zu etablierten half.

Banalität des Bösen ist immer noch aktuell

Aktuell wiederum ist die Erkenntnis von der Banalität des Bösen deshalb, weil es dabei letztlich um gewisse Verhaltensweisen geht, die keineswegs auf die Jahre zwischen 1933 und 1945 beschränkt sind. Im Gegenteil: Wann immer ich die Verantwortung für das, was ich tue oder lasse, anderen in die Schuhe schiebe, öffne ich aufgrund dieser selbstverschuldeten moralischen Unmündigkeit der Banalität des Bösen Tür und Tor.
Nehmen wir ein drastisches Beispiel: Moralisch gesehen ist noch gar nichts gewonnen, wenn ich Nazis bloß böse finde, weil mein Vater es auch tut, oder Fridays for Future bloß gut finde, weil meine Tochter es auch tut. Moralität im eigentlichen Sinne ist erst dann überhaupt möglich, wenn ich das verhängnisvolle Outsourcing moralischer Verantwortung beende und für mein eigenes Handeln persönlich einstehe.

Kein anderer kann einem Verantwortung abnehmen

Anders gesagt: So sehr ich mich an anderen orientieren kann, um möglichst viele Gesichtspunkte in ein Werturteil miteinzubeziehen, so wenig können andere dieses Urteil für mich fällen, ohne zugleich seinen moralischen Wert zu schmälern. Weder geistliche noch weltliche Autoritäten, kein Papst und keine Kanzlerin, keine Glaubenskongregation oder Ethikkommission sind an meiner statt moralisch handlungsfähig. Ich allein bin für mein Tun und Lassen selbst verantwortlich, kein anderer kann mir diese Verantwortung abnehmen.
Dass dies besonders betont werden muss, liegt nicht zuletzt daran, dass die Banalität des Bösen auch heute allgegenwärtig ist. Sie gedeiht im kranken Burnout-Kapitalismus der Selbst- und Fremdausbeutung ebenso prächtig wie in mehr oder minder gelenkten Demokratien, die Alternativlosigkeit säen und Politikverdrossenheit ernten.

Das Banale im Aktionismus oder amoralischen Desinteresse

Dabei äußert sich die Banalität des Bösen wahlweise als hypermoralischer Aktionismus oder amoralisches Desinteresse. Wer in fanatischer Mission andere gleichermaßen voreilig wie selbstgerecht an den Pranger stellt, der leistet ihr ebenso Vorschub wie jene Alltagsnihilisten, die einfach nur ihre Ruhe haben und irgendwie über die Runden kommen wollen.
Der programmatische Titel eines populären Hannah-Arendt-Aufsatzes lautet: "Die Freiheit, frei zu sein". Dieser Titel birgt im Kern das große Versprechen offener Gesellschaften, das ohne pluralistisch aufgeklärten ethischen Individualismus, ohne freie Willensbildung freier Bürger nicht einzulösen ist. Natürlich garantiert diese Selbstbehauptung des Individuums mitnichten, dass alles gut wird, aber sie widersteht wenigstens den Versuchungen der Selbstentmündigung, deren diabolische Ausgeburt die Banalität des Bösen darstellt.

Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg im Breisgau sowie am Basler Philosophicum. Er gab jüngst im Suhrkamp Verlag den Sammelband "Bedingungsloses Grundeinkommen. Grundlagentexte" sowie für die Insel-Bücherei "Die schönsten deutschen Aphorismen" heraus.

© Stefan Pangritz
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