Paare von heute auf Selbsterfahrungstrip

Von Wolf-Dieter Peter |
Christoph Loy hat Mozarts "Cosi fan tutte" an der Oper Frankfurt in ein schneeweißes Sanatorium verlegt. Zwei junge Paare agieren in diesem Selbsterfahrungsressort mit einem ergrauten Gruppenleiter. Ergebnis sind faszinierende dreieinhalb Stunden, in denen sich Theater und Musik nahezu perfekt durchdringen und ergänzen.
Über die Schwierigkeiten in der Liebe hat schon Moliere in seiner "Schule der Frauen", hat später Marivaux in seinen ganz rational-analytischen Dramen geschrieben. Einhundert Jahre vor Sigmund Freud hat dann Mozart die ganzen psychischen Untiefen des Liebesspiels in "Cosi fan tutte" ausgelotet – ein lange entweder als unmoralisch oder als albern-oberflächliches verkanntes Meisterwerk. Wenn der wegen seiner hochdifferenzierten Personenregie zweimal zum "Regisseur des Jahres" gewählte Christoph Loy Mozarts "Cosi" inszeniert, ist viel zu erwarten – was an Frankfurts Oper auch prompt zu erleben war.

Moliere und Marivaux schienen auf Frankfurts Bühne verarbeitet. Zu Freudscher Psycho-Tiefe kam aber auch der scharfsinnige Witz eines Oscar Wilde: "Es kommt häufig vor, dass wir mit anderen zu experimentieren glauben und dabei in Wahrheit mit uns selbst experimentieren" lautet einer der Wilde’schen Aphorismen – und auch ein weiterer Satz des spöttischen Briten scheint direkt auf Mozarts "Cosi fan tutte" zu zielen: "Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Sache spricht. Gib ihm eine Maske und er sagt dir die Wahrheit." In genau dieser Klarheit lässt Regisseur Christoph Loy die drei Männer zu der Erkenntnis finden: "So machen’s alle" stellen reichlich desillusioniert alle drei Männer fest und direkt in ihre enttäuschte Leere platzt Despina mit der Meldung ihres Sieges an der Frauen-Front …

Schon an dieser Kleinigkeit lassen sich die singulären Qualitäten der Frankfurter Neuinszenierung zeigen: Regisseur Christoph Loy und Dirigentin Julia Jones schätzen sich schon seit ihrer letzten gemeinsamen Mozart-Produktion. Nun haben sie ganze sechs Wochen miteinander und einem fabelhaften Ensemble an einer strichlosen "Cosi" gearbeitet. Ergebnis sind faszinierende dreieinhalb Stunden, in denen sich Theater und Musik nahezu perfekt durchdringen und ergänzen: mit solch blitzartigen Kontrasten, mit flüssigen Übergängen von hoch differenziert gestalteten Rezitativen in notwendigerweise gesungene Arien, die einfach laut gewordene Seelensprache sind, dann aber auch mit spannungsgeladenen Pausen – etwa dem Auftritt Despinas, in dem sie stumm, wütend und zugleich mit zwei unterschiedlichen Schlaggeräuschen in perfektem Rhythmus die Morgenschokolade anrührt – schallendes Gelächter und Szenenbeifall – bis hin zur Partnertausch-Szene, in der die vier jungen Menschen unsicher und verkrampft so quälend lange nebeneinander stehen und sich nicht trauen, dass sich die atemlose Spannung im Publikum schließlich durch Entspannungsklatschen entlädt.

All das findet in einem schneeweißen Sanatorium, einem Selbsterfahrungsressort, einer edlen Psychoklinik mit zwei jungen Paaren und dem ergrauten Gruppenleiter Don Alfonso statt – schwarze Kleidchen, schwarze Anzüge, weißes Hemd ohne Krawatte, keinerlei Türken-Kostüm-Mumpiz, sondern einfach farbige Shirts der Herren – Menschen von heute auf einem hoch riskanten Selbsterfahrungstrip – bis hin zum Zusammenbruch und einem illusionslos realistischen Blick auf sich und den Partner am Ende, Alfonso und Despina eingeschlossen.

Ausstatter Herbert Murauer hat Loy nur einen leeren Zentralraum mit zwei kleinen Vorzimmern bauen müssen – und Loy lässt die sechs hochbegabten Sängerdarsteller darin einen Liebesspiel-Kosmos durchspielen und durchleiden, der nur den früheren Traum-Inszenierngen eines Patrice Chéreau oder Peter Stein vergleichbar ist. Julia Jones steuert mit dem kleinbesetzten Museumsorchester einen unsentimental klaren, heftig pulsierenden Mozart-Klang bei und sechs erstklassige Stimmen lassen Mozarts Gesangslinien ganz selbstverständlich menschlich klingen – eine weitere Frankfurter Musiktheater-Sternstunde, die in einem Schlussappell an die Vernunft endet.