Paavo Järvi: Es gibt zu viele Klischees über Beethoven

Paavo Järvi im Gespräch mit Ulrike Timm |
"Wir neigen dazu", Ludwig van Beethoven "für den unerbittlichen Kämpfer, den heroischen Löwen zu halten, der gegen die Ungerechtigkeit der Welt angeht", sagt der Dirigent Paavo Järvi. Solche Klischees hinderten daran "zu erkennen, dass Beethoven auch ein Mensch mit Humor war, dass er auch Freude empfinden konnte".
Ulrike Timm: Ein Ausschnitt aus Beethovens 7. Sinfonie in A-Dur, der dritte Satz, gespielt von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, musikalisch geleitet von Paavo Järvi. Alle neun Beethoven-Sinfonien hat dieses Team Kammerphilharmonie-Järvi aufgenommen. Zugleich ist ein Film entstanden, den die Deutsche Welle weltweit ausstrahlen wird und den es auch als DVD gibt: "Das Beethoven-Projekt", und Paavo Järvi wird zudem noch mit einem Echo-Preis Klassik als "Dirigent des Jahres" bedacht – viele äußere Gründe, ihn einzuladen, aber die Gelegenheit, den Dirigenten, den Musiker Paavo Järvi hier im "Radiofeuilleton" zu Gast zu haben, die freut mich einfach ganz besonders. Herzlich Willkommen, Paavo Järvi!

Paavo Järvi: Thank you!

Timm: Herr Järvi, die meisten Menschen verbinden mit Beethoven einen ziemlich knurrigen Komponisten, tatatata, die personifizierte klangliche Unerbittlichkeit. Eben hörten wir ganz fröhliche, ganz beschwingte Musik, liegt natürlich vor allem am Stück, trotzdem: Haben Sie noch ganz andere Züge an ihm entdeckt als den brummigen Griesgram?

Järvi: Diese Vorstellungen, die Sie erwähnen, gäben ja Stoff für eine ganze Sendung. Es sind genau diese festen Klischees, die zwar einerseits zutreffen mögen, die aber unser Denken auch in eine Zwangsjacke stecken. Sie hindern uns daran, zu erkennen, dass Beethoven auch ein Mensch mit Humor war, dass er auch Freude empfinden konnte. Wir neigen dazu, ihn für den unerbittlichen Kämpfer, den heroischen Löwen zu halten, der gegen die Ungerechtigkeit der Welt angeht. Das mag eine romantische Vorstellung sein, aber solche Mythen hindern uns daran, den Menschen zu sehen. Wenn wir von der 7. Sinfonie sprechen, so kommt diese eigentlich aus dem Tanz heraus. Wagner hat es auch sofort erkannt, als er die Partitur sah, er sprach davon, dass diese Sinfonie eine Apotheose des Tanzes sei.

Timm: Als der Film gedreht wurde, "Das Beethoven-Projekt", da haben Sie alle neun Sinfonien an drei Tagen nacheinander gespielt, in der Beethoven-Stadt Bonn. Ein Marathon – mental wie sportlich?

Järvi: Sowohl körperlich wie auch geistig ist das in der Tat ein Marathon. Was das Körperliche angeht, so kann man sich darauf natürlich vorbereiten. Was aber die Gefühle angeht, diesen emotionalen Eindruck zu verarbeiten, drei Sinfonien in einem Konzert zu spielen – das ist schon eine bedeutende Herausforderung, weil man eben diese Übergänge bewältigen muss von der einen Sinfonie zur anderen, die ja so unterschiedlich sind, als wären es unterschiedliche Kinder mit ihrem eigenen Charakter von denselben Eltern. Und die ganz unterschiedlichen Zeiten, zu denen Beethoven diese Sinfonien komponiert haben, brachten eben auch einen ganz bedeutenden Wandel mit sich.

Timm: Im Film sieht man, dass einige der Aufführungen nach draußen auf die große Leinwand übertragen werden, und plötzlich hat Beethoven 6000 Fans, darunter ganz viele junge Leute. Hat Beethoven das Zeug auch zum Zeitgenossen der MTV-Generation?

Järvi: Er hat sehr viel mehr zu bieten als nur ein zeitgenössischer Komponist für die MTV-Generation zu werden, denn das Paradoxe ist ja, dass die Popmusik in überwiegenden Anteilen in 20 Jahren nicht mehr gehört werden wird. Bei Beethoven dagegen sprechen wir über Hunderte von Jahren. Hier gibt es vielleicht ein Missverständnis, dass es als Image-Problem zu beschreiben gilt. Viele glauben ja, Beethoven sei Teil der Geschichte, er sei etwas für die Bildungsbürger und man müsse vorbereitet sein, um Beethoven zu hören. Das mag zwar helfen, aber es ist nicht nötig, sich vorzubereiten, um die 5. Sinfonie zu hören, denn diese Sinfonie verändert sich. Es ist nicht immer dieselbe Musik, und so seltsam das klingen mag: Beethoven wird eigentlich immer besser.

Timm: Kommen wir mal zu dem Dokumentarfilm "Das Beethoven-Projekt". Da haben Sie sich ja mit der Kamera zuschauen lassen. Sie wurden geschminkt, Sie mussten reden statt nur zu musizieren. Schauen Sie sich gerne zu im Film?

Järvi: Nein, ich gehöre zu jenen, die sich nicht gerne im Fernsehen anschauen, und ich höre auch nicht gerne meine eigenen Aufnahmen an und bin eigentlich nie mit mir selbst zufrieden.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Dirigenten Paavo Järvi. Herr Järvi, Sie kommen als Musiker vom Schlagzeug, ähnlich wie Simon Rattle. Ist das eine gute Voraussetzung, Dirigent zu sein, wenn man vom Rhythmus her denkt?

Järvi: Nun ist in der Tat eine Art Präzedenzfall da, ob es nun Zufall ist oder nicht, jedenfalls – das Schlagzeug ist eben ein Instrument, das von Anfang an sehr stark aufs Ensemblespiel hin angelegt ist. Man sitzt nicht stundenlang im Zimmer wie ein Geiger oder Pianist und übt vor sich hin, sondern Schlagzeug spielen verlangt nach der Gruppe, und man wird sehr früh hineingeführt in die Welt des Orchesters. Von Anfang an kam ich immer wieder in Berührung mit diesem großen Körper des Orchesters. Daneben ist es für jeden Dirigenten sehr ratsam, wenn er ein gutes Rhythmusgefühl hat, denn bei all den Feinheiten und Subtilitäten, die die Musik sonst noch birgt – ganz fundamental ist es doch, den Rhythmus zu kennen, und das hilft jedem Dirigenten.

Timm: Sie sollen in Estland in den 70er-, 80er-Jahren in einer Rockband gespielt haben. Wie war das?

Järvi: Ich bin ja in einer Musikerfamilie groß geworden, bei uns lag immer Musik, klassische Musik in der Luft. Im Alter von 13, 14, 15 Jahren kamen einige Freunde mit der Idee auf mich zu, eine Rockband zu gründen, wobei ich natürlich dann am Schlagzeug sitzen sollte. Es war ein geselliges Zusammensein, das eben auch rebellisch war und das uns auch auf andere Gedanken gebracht hat. Aber es war nie allzu ernst gemeint.

Timm: Aber einer Ihrer Rockband-Kompagnons ist Erkki Tüür, und Sie führen bis heute besonders gerne Werke estnischer Komponisten auf. Ist das Passion, ist das Lokalpatriotismus? Was ist das?

Järvi: Nun, ich glaube, dass sehr viele der heutigen, wichtigen zeitgenössischen Komponisten weniger von der Darmstädter Schule oder von der Neuen-Musik-Bewegung herkommen, sondern dass gerade die Interessantesten unter ihnen mehr von der Rockmusik beeinflusst sind oder Anregungen von Strawinsky, Debussy, Ravel bekommen. Diese Kombination aus der Popkultur und einer klassischen Richtung, die macht das Neuartige, das Wesentliche aus. Was nun Tüür angeht, den Komponisten, nun, so haben wir sehr viel zusammengearbeitet. Es ist eigentlich nicht so sehr nur Patriotismus, sondern auch das Bewusstsein, gemeinsam in einer Umgebung aufgewachsen zu sein. Er hat ja zunächst als Rockmusiker für seine eigene Band geschrieben, ehe er dann nach und nach in andere Bereiche übergegangen ist. Aber bis zum heutigen Tag führt er noch mit einer Rockband seine Werke auf.

Timm: Der Dokumentarfilm, der ein Anlass ist für unser Gespräch, der führt auch nach Estland, und man hat den Eindruck, das ist ein Land voller Musik. Da singen Tausende Leute auf einem Platz. Klingt plump, aber ist das etwas so Selbstverständliches dort? Sind die Esten eine besonders musikalische Nation?

Järvi: Ja, das ist so, und ich hoffe auch, dass die Menschen überall mit Estland Musik verknüpfen, dass Estland eben als singendes Land erinnert wird oder dass man daran denkt. Jeder und jede singt in Estland, es gibt mehr Chöre in dem Land als irgendwo sonst. Alle vier Jahre haben wir das große Gesangsfest, wo 30.000 Menschen zusammenkommen, die zwar nicht jetzt professionell singen, aber die professionell vorbereitet sind und dann gemeinsam auf die Bühne treten. Hinzu kommen dann noch 100.000 bis 150.000 Zuhörer im Publikum. Das zu hören ist wirklich sehr beeindruckend, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Esten im Lande ja nur etwa eins oder eins Komma noch etwas Menschen sind. Es legt auch Zeugnis ab von der einigenden Kraft der Musik. Das mag jetzt klischeehaft klingen, aber da steckt schon ein Korn Wahrheit drin, wenn man sich das anschaut und wenn man daran denkt, wie wir für die Wiedergewinnung unserer Unabhängigkeit als Land kämpften – keiner musste damals sterben, denn selbst die Sowjets hätten es nicht fertiggebracht, in eine singende Menge zu schießen. Deshalb sprechen wir ja auch von der Singenden Revolution.

Timm: Das heißt, Musik taugt auch zum Widerstandsmittel?

Järvi: Für ein kleines Land mit 1,5 Millionen Einwohnern wie Estland gibt es gar keine andere Art, sich zu behaupten. Wir könnten uns in keiner Weise militärisch etwa gegen Russland zur Wehr setzen, wirtschaftlich gesehen sind wir auch hoffnungslos unterlegen. So ist es also die einzige Art, sich Gehör zu verschaffen mit dieser, wenn man so will, Unbedarftheit der Menschen, die eben waffenlos daherkommen. In kleinen Ländern wie etwa Estland kommt der Kultur darüber hinaus eine ganz entscheidende, prägende Bedeutung zu, sie ist nicht nur irgendwie eine Zutat, sondern sie ist identitätsstiftend. Wir sind ein kleines Land, wir wollen aber nicht als kleines Land irgendwo im Einflussbereich Russlands gesehen werden, das über billige Arbeitskräfte verfügt oder touristisch interessant ist. Nein, wir wollen eben als Kulturvolk gesehen werden.

Timm: Sie sind seit 1980 Amerikaner, kommen aus einer ganz musikalischen Familie, Vater Neeme Järvi, Bruder Kristjan Järvi – alle Järvis dirigieren. Mich würde mal interessieren: Wie ist das bei Järvischen Familientreffen, macht man da Musik oder gerade eben nicht?

Järvi: Musik ist immer in der Luft, und es gibt auch eben diesen Hauptgrund, weshalb wir alle mit der Musik leben, das ist wohl die Gestalt meines Vaters, der immer noch diese Fähigkeit hat, uns zu inspirieren. Und wenn wir heute zusammentreffen, dann sind es ja drei Generationen, die zusammenkommen, mein Vater, der jetzt 72 Jahre alt ist, ich bin 47, Kristjan ist 37. Wir alle bringen unsere Erfahrungen zusammen. Und wenn man als Dirigent arbeitet, dann hat man natürlich nichts so gerne wie die Erfahrung, denn beim Dirigieren zählt eben Erfahrung, Erfahrung, Erfahrung.

Timm: Sie haben aber mal gesagt, dirigieren sei was für die zweite Lebenshälfte, Dirigent sei man erst mit über 50. Sie sind noch keine 50, was sind Sie denn jetzt?

Järvi: Ich glaube, alles, was ich jetzt mache, dient im Grunde der Vorbereitung für diese zweite Hälfte. Es gibt so vieles, was man wissen muss, was man auch tatsächlich erst einmal erfahren haben muss, ehe man es beherrscht, denn es einmal ausprobiert zu haben, reicht ja nicht aus, um es wirklich zu kennen. Und man merkt auch, dass man nicht für alles gleichermaßen geschaffen ist. Man muss also eine Auswahl treffen. Und diese Entscheidung zu treffen, ist ein langer verwickelter Weg, man will ja am Anfang alles Mögliche erkunden, man möchte sich tummeln, und dann stellt man fest: Man kann nur bestimmte Dinge wirklich gut ausführen, und denen widmet man sich dann mit aller Kraft.

Timm: Wir halten fest: Paavo Järvi, noch nicht 50, wird noch Dirigent. Sie leiten derzeit die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Orchester des Hessischen Rundfunks, das Orchestre de Paris und das Sinfonieorchester von Cincinnati in den USA. Sie müssen immense Handyrechnungen haben und ständig Jetlag. Wie schaffen Sie das?

Järvi: Nun, das stimmt, der Jetlag und auch die hohen Telefonrechnungen sind ständige Begleiter, aber das führt mich auch die Freude vor Augen, die ich dabei empfinde, dass ich eben auf so unterschiedlichen Ebenen mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten, wie es diese Orchester sind, Musik machen darf. Ich weiß, ich werde nicht unbegrenzte Zeit diese vier Ensembles führen können. Irgendwann wird vielleicht eines oder zwei Orchester übrig bleiben. Aber ich habe eben die Möglichkeit, ein breites Repertoire kennenzulernen und auszuprobieren, von den französischen Standardkomponisten über Bruckner und Beethoven bis hin zu den Komponisten des 20. Jahrhunderts, Lutoslawsky, Bartók, Strawinsky – alles das gibt mir diesen großartigen Einblick, den ich so sehr genieße.