"Wir sind in Bezug auf Autismus ein Entwicklungsland"
Autistische Kinder lächeln nicht, reagieren nicht auf Berührung, lernen schlecht oder gar nicht sprechen. Die Eltern merken früh, dass mit ihrem Baby oder Kleinkind etwas nicht stimmt. Doch an wirkungsvoller Frühförderung mangele es, kritisiert Hermann Cordes vom Institut für Autismus-Forschung in Bremen.
"Nicht krank, sondern anders" oder "Entwicklungsstörung mit unbekannter Ursache" – das sind Überschriften, die man heute zum Welttag des Autismus in den Zeitungen findet.
Jeder Autismus-Fall ist anders, das Spektrum an Symptomen ist groß. Autisten oder Menschen mit dem milderen Asperger-Syndrom etwa sind oft zuverlässig und loyal, auch geradezu verletzend ehrlich. Sie lösen Aufgaben mit Perfektionismus und verfügen manchmal über ein hohes Spezialwissen. Und sie sind zwanghaft und unflexibel.
Wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind Autist ist? Und vor allem – wie können sie dafür sorgen, dass es die richtig betreut und gefördert wird?
Das ist das Spezialgebiet des Instituts für Autismus-Forschung in Bremen. Wir haben mit dem Leiter Hermann Cordes gesprochen.
Eltern merken früh, dass etwas nicht stimmt
Üblicherweise werde Autismus im zweiten oder dritten Lebensjahr diagnostiziert, sagte Cordes. Die Eltern hätten aber oft bereits im ersten Lebensjahr an dem Kind etwas bemerkt, dass sie als "andersartig" oder "seltsam" bezeichneten.
"Ihnen konnte aber niemand helfen, Kinderärzte nicht, Kliniken nicht und so weiter. Und sie haben deshalb den berühmten Gang durch die verschiedenen Institutionen gemacht von einem Arzt zum anderen und keiner konnte ihnen helfen."
Das "Kernsyndrom" des frühkindlichen Autismus seien Kommunikationsstörungen, sagte Cordes. Das Kind komme autistisch auf die Welt, ohne dass man es zunächst merke. Doch dann wunderten sich die Eltern, dass das erste Lächeln nicht komme, dass das Kind sie nicht ansehe oder sich nicht darüber freue, wenn es angefasst und liebkost werde. Kinder, erst recht wenn sie zu sprechen beginnen, würden ja normalerweise sehr schnell lernen, sagte Cordes, doch die schwer gestörten Autisten könnten das eben nicht.
Therapiestunden viel zu knapp bemessen
Sobald die Eltern schließlich die Diagnose hätten, könnten sie zwar Eingliederungsmaßnahmen beantragen, doch diese seien viel zu knapp bemessen, bemängelte Cordes im Hinblick auf die Möglichkeiten einer frühen Behandlung des Autismus. In Bayern werde nur eine Stunde pro Woche für die Frühförderung genehmigt, in Bremen immerhin vier. Letztlich seien aber auch vier Stunden zu wenig, denn autistische Kinder müssten an "vielen Stellen" lernen:
"Sie müssen lernen, richtig zu essen. Sie müssen lernen, richtig sich anzuziehen, und natürlich sollen sie lernen, zu sprechen und Emotionen zu durchschauen."
Zudem sei der Stand der Autismus-Forschung in Deutschland nicht besonders hoch. "Wir sind in Bezug auf Autismus ein Entwicklungsland", sagte Cordes. Das zeige sich daran, dass autistische Kinder hierzulande nach Verfahren therapiert würden, deren Wirkung wissenschaftlich nicht belegt sei – die Behandlungsformen seien nicht "evidenzbasiert". Es gebe in Deutschland in größeren Städten zwar insgesamt etwa 60 Autismus-Therapiezentren. Behandelt werde dort aber "irgendwie".
"Eltern müssen trainiert werden"
Unverzichtbar sei, das wisse man sicher, dass die Eltern in die Therapie mit einbezogen würden und dass nicht nur das Kind behandelt würde.
Cordes: "Die Eltern müssen nicht nur einbezogen werden, die Eltern müssen trainiert werden. Denn die Kinder leben ja zu Hause und wenn sie aus dem therapeutischen Feld wieder zurück nach Hause kommen, dann kommt dieselbe Reaktion wieder: Die Eltern wissen wieder nicht, was sie mit ihnen machen sollen, und viele, viele Eltern sind am Ende verzweifelt - und haben im Grunde den Kampf schon aufgegeben."