"Wir brauchen keine Islamhasser"
Terror aus der Mitte unserer Gesellschaft: Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor fürchtet die Radikalisierung labiler und haltloser Jugendlicher durch Salafisten - auch hier in Deutschland. Anfällig seien sie durch vielfältige Diskriminierungserfahrungen.
Nach Einschätzung der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor gehen Salafisten gezielt auf besonders labile und haltlose Jugendliche zu, um sie zu radikalisieren. Wichtig sei deswegen die Begegnung mit Muslimen auf Augenhöhe statt Diskriminierung und Ausgrenzung, so die Forderung der islamischen Religionspädagogin im Deutschlandradio Kultur.
Salafisten würden die Sehnsucht der Jugendlichen nach Zusammenhalt und Anerkennung ausnutzen, so Kaddor mit Blick auf fünf ihrer ehemaligen Schüler, die sich zeitweise den Terroristen des Islamischen Staates angeschlossen hatten. Die Jugendlichen seien mehrfach, vielleicht sogar täglich, Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt gewesen, das führe natürlich zu Frust. Auch den Familien sei es häufig nicht gelungen, den Jugendlichen Halt zu geben.
Fehlende Anerkennung ebnet den Boden für eine Radikalisierung
"Diese Jugendlichen werden nicht anerkannt", so Kaddor. "Selbst in der Schule haben manchmal Kollegen Probleme damit, diese Lebensentwürfe, diesen kulturellen Hintergrund, das Auftreten der Jugendlichen anzuerkennen." Das mache die Jugendlichen unheimlich anfällig. "Ich kann mir schon vorstellen: Das ist eigentlich gar nicht so schwierig, diese Jugendlichen nach und nach zu radikalisieren."
Entscheidend sei deswegen eine Begegnung auf Augenhöhe. "Beide Seiten [...] müssen bereit sein, aufeinander zuzugehen, gemeinsam auch zu streiten, kritisch zu denken." Aber sich auch gemeinsam gegen Extreme zu positionieren. "Wir brauchen weder Islamhasser oder Islamhass in diesem Land, noch brauchen wir religiösen Extremismus", so Kaddor.
Das Interview im Wortlaut:
André Hatting: Die größte Gefahr für uns geht von radikalisierten Rückkehrern aus – das hören wir seit Monaten von Geheimdienstexperten und Sozialwissenschaftlern. Das Massaker in Paris beweist diese These: Beide Täter sind gebürtige Frazosen, und einer der Brüder hatte sich offenbar im Jemen in einem Al-Kaida-Camp ausbilden lassen, wohl nicht nur waffentechnisch. Lamya Kaddor kennt das Problem von Radikalisierungen aus eigener Erfahrung. Die Islamwissenschaftlerin unterrichtet Religion in Dinslaken, und fünf ihrer Schüler sind nach Syrien gegangen, um sich dort den Terroristen des Islamischen Staates anzuschließen. Guten Morgen, Frau Kaddor!
Lamya Kaddor: Guten Morgen, hallo!
Hatting: Wie haben Sie eigentlich diese fünf Schüler im Unterricht erlebt?
Kaddor: Damals als sehr lebendige, junge Männer, die immer relativ auf Krawall gebürstet waren, häufig testosterongeladen, wie so junge Männer in ihrer Pubertät, in ihrer frühen Pubertät eben sind, also nichts wirklich Auffälliges, das waren ganz normale Jungs, Lebemänner, die mitten im Leben standen.
Hatting: Und gab es da irgendwelche Veränderungen, die Sie merken konnten?
Kaddor: Nein, dafür war es leider zu früh, denn die verließen alle längst die Schule, und der Älteste war 23 zu dem Zeitpunkt, als er nach Syrien ausreiste, und der Jüngste 19. Den Jüngsten hatte ich aber tatsächlich noch ein Jahr vorher. Alle anderen – das waren ja dann schon Jahre, vier, fünf Jahre. Aber das war trotzdem ... Diese Tendenzen sah man nicht, denn wir dürfen nicht vergessen: Diese Art der Radikalisierung versuchen die Salafisten – ähnlich wie andere Menschenfänger – immer auch am normalen Lebensumfeld dieser Jugendlichen vorbei, das heißt, sie isolieren sie ganz bewusst. Die wollen ja nicht, dass eben Familienangehörige oder andere Angehörige das merken.
Hatting: Trotzdem, Frau Kaddor, muss es ja Jugendliche geben, bei denen diese Isolierung leichter gelingt als bei anderen.
Kaddor: Ja, das ist tatsächlich so, und ich glaube auch, dass diese Jugendlichen gezielt nach ihrer Persönlichkeitsstruktur ausgesucht werden. Da geht es weniger darum, zu schauen, wer ist hier der der frömmste Muslim? Das interessiert die Salafisten erst mal gar nicht. Es geht darum, möglichst labile, haltlose junge Menschen zu bekommen, egal, ob Junge oder Mädchen, meistens zwar Jungen, aber die schauen eher darauf, wie labil jemand ist, wie haltlos der ist.
Hatting: Und waren diese Schüler, von denen wir gerade gesprochen haben, waren die so labil? Sie haben sie eigentlich als ganz normale Jugendliche beschrieben – na gut, in der Pubertät so auf Krawall gebürstet, aber das sind ja viele in der Pubertät.
Kaddor: Richtig. Ich glaube, die Labilität ... Trotz ihres dominanten Auftretens und vielleicht auch ihrer vermeintlichen Stärke waren sie schon so angelegt, dass sie natürlich mehrfach Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt waren, also mehrfach, wenn nicht sogar täglich. Das führt natürlich zu Frust. Ich glaube auch, dass die Familie natürlich eine sehr große Rolle spielt. Ich glaube, der Familie ist es häufig nicht gelungen, diesen jungen Menschen Halt zu geben. Das waren zum Teil auch junge Männer, die mehrfach vorbestraft waren, zwar wegen Kleindelikten, ja, aber dennoch, die waren vorbestraft. Das war kein Leben, das Grenzen wirklich kannte, die wir alle so kennen. Wenn man mit 15, 16 schon einschlägige Erfahrungen mit Gerichten in Deutschland gemacht hat, wie soll ich sagen, dann gibt es da vielleicht auch eine Anfälligkeit. Und ich glaube auch, dass Salafisten eben entsprechende Angebote gemacht haben, sprich, die Sehnsucht dieser Jugendlichen nach Zusammenhalt zu stärken, nach Halt-Geben, nach Orientierung-Geben, aber auch ...
Hatting: Familienersatz vielleicht auch?
Kaddor: Ja, es ist letztlich eine Ersatzfamilie geworden. Aber auch ganz wichtig ist Anerkennung. Diese Jugendlichen werden nicht anerkannt. Die werden zum Teil ... Also eigentlich werden sie gar nicht anerkannt. Selbst in der Schule haben manchmal Lehrerkollegen Probleme damit, diese Lebensentwürfe, diesen kulturellen Hintergrund, das Auftreten dieser Jugendlichen anzuerkennen, schlichtweg zu sagen: Okay, ich akzeptiere, dass du so bist. Viele geben diesen Jugendlichen das Gefühl, dass sie das alles total schlimm finden, wie die leben. Und ich glaube, wenn dann jemand kommt wie zum Beispiel so ein Salafist, der dann sagt, weißt du was, ich finde dein Muslimsein entgegen aller anderen Menschen und Meinungen total super, dann ist das als erster Schritt schon mal die Anerkennung, die sie gerne hätten. Endlich werden sie mal positiv angenommen. Und ich glaube, das macht die einfach unheimlich anfällig. Wenn die falsche Person zur falschen Zeit da ist und gerade in dieser Phase der Identitätssuche und -findung auftaucht und sagt, komm, lass uns doch mal zusammen Fußball spielen, komm, lass uns mal ein bisschen schnacken – ich kann mir schon vorstellen: Das ist eigentlich gar nicht so schwierig, diese Jugendlichen nach und nach zu radikalisieren.
Hatting: Ich kann Ihnen jetzt, Frau Kaddor, diese Frage leider nicht ersparen: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum ausgerechnet gleich fünf aus Ihrer Klasse sich den Salafisten angeschlossen haben?
Kaddor: Ja, die Erklärung ist relativ einfach: Vier von diesen fünf sind miteinander verwandt, und der fünfte ist der beste Freund einer dieser vier anderen. Die haben sich quasi zusammengeschlossen, und die sind auch alle von der gleichen Person angesprochen und radikalisiert worden, die saßen also alle gemeinsam in diesem Zirkel, wenn man so will, in dieser Lohberger Gruppe. Deshalb ist es jetzt nicht völlig verwunderlich.
Hatting: Was ist denn mit denen passiert? Haben sie abgeschworen dem IS oder was ist mit denen passiert?
Kaddor: Ja, die haben tatsächlich abgeschworen. Also ich konnte mit zwei, dreien inzwischen reden und da ist keine Faszination mehr, da ist man schon inzwischen ziemlich ernüchtert. Vielleicht liegt es auch daran: Die sind innerhalb kürzester Zeit wieder zurückgekommen. Ich glaube, ihr Aufenthalt in Syrien beschränkte sich auf etwa eine Woche, und sie wollten wirklich zurück nach Hause. Man sprach mit den Eltern am Telefon und sagten wirklich weinend: Wir wollen das nicht, wir wollen zurück. Das ist doch nicht so, wie wir vielleicht gedacht haben.
Hatting: Sie sind auch Gründungsvorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes und auch in dieser Funktion zurzeit eine vielgefragte Expertin. Frau Kaddor, die Mehrheit der Deutschen hat mittlerweile richtig Angst vor dem Islam. Können Sie das nachvollziehen?
Kaddor: Ja, natürlich kann ich das nachvollziehen, das ist auch nicht nur mittlerweile, diese Zahlen sind seit längerer Zeit schon so, seit einigen Jahren so. Ich kann das nachvollziehen. Allerdings stimmt es mich natürlich traurig, denn es sind nicht die normalen Muslime, die Probleme machen, es ist auch nicht das normale Islamverständnis, das einem eigentlich Angst machen sollte, sondern was ihnen und auch mir übrigens als Muslimin Angst macht und machen sollte, sind religiöse Fanatiker, die wir übrigens aus jeder Religion kennen, die aber gerade im Namen des Islams vermehrt auftauchen und ihre Hochzeit sozusagen versuchen, gerade zu feiern. Die müssen uns Angst machen, die, die sagen, wir missbrauchen ganz bewusst Religion, um politischen Terror zu inszenieren und durchzuführen. Die sollten uns Angst machen. Und es ärgert mich wirklich auch ein Stück weit, wenn man eben nicht differenzieren will. Häufig wollen die Mitmenschen nicht differenzieren. Die stehen wirklich bewusst vor mir und sagen, trotzdem finde ich Muslime scheiße – Entschuldigen Sie den Ausdruck, aber es gibt noch viel schlimmere Sachen, die ich hören muss. Und dann denke ich mir auch: Na ja, wenn ihr schon mit Menschen wie mir nicht klar kommt, die hier geboren und aufgewachsen sind, sich als völlig normalen Teil dieser Gesellschaft begreifen, wenn ihr mich schon nicht wollt, mit welchen Muslimen ist es euch denn dann genehm?
Hatting: Was ist Ihrer Meinung nach das beste Mittel gegen diese Angst?
Kaddor: Eine Begegnung auf Augenhöhe: Menschen müssen bereit sein, also beide Seiten, wenn man so will, obwohl ich da eigentlich ungern von Seiten spreche, Muslime wie Nichtmuslime, aufeinander zuzugehen, gemeinsam auch zu streiten, kritisch zu denken, aber sich auch gemeinsam gegen Extreme zu positionieren. Wir brauchen weder Islamhasser in diesem Land oder Islamhass, noch brauchen wir religiösen Extremismus, den brauchen wir auch nicht. Ich denke, wir müssen ein gemeinsames ‚Wie' und auch eine gemeinsame Position finden. Das letztlich stärkt und verbindet uns doch eigentlich.
Hatting: Heimtückische und perfide Terroranschläge wie jetzt der in Paris, die werden wir ja nie verhindern können. Wie können wir denn dazu beitragen, dass es keine Menschen mehr gibt, die so etwas im Namen von Allah tun?
Kaddor: Ich denke, das ist eine langfristige Aufgabe. Ich denke nie, dass wir an dieses Ziel kommen, zu sagen: Es wird nie wieder religiös motivierten Terror geben, weder im Namen des Islams, also Allahs, oder im Namen einer anderen Religion. Auch in anderen Religionen kommt sowas vor – denken Sie an Buddhisten in bestimmten Teilen in dieser Welt, die auch religiös motiviert sind, an evangelikale Christen in Amerika, die Abtreibungsärzte erschießen. So was haben Sie immer, Gott sei Dank im Randbereich. Im Moment ist es halt im Islam besonders stark. Ich denke, dass wir da langfristig denken müssen und gerade den Muslimen hier in Europa das Gefühl geben müssen, dass sie hier eine Heimat haben, dass es ihre Heimat ist. Wir müssen ihnen auch zugestehen, sich hier zu Hause fühlen zu dürfen, und nicht immer mit dem Finger auf sie zeigen: Aber Ihr Muslime habt doch ein Problem mit Aufklärung, Ihr habt ein Problem mit Frauen, Ihr habt ein Problem mit keine Ahnung was. Ich denke, damit macht man es uns unheimlich schwer, weil wir ständig in diesen Rechtfertigungsdruck kommen. Und das darf eigentlich nicht mehr passieren. Wir müssen als normaler Bestandteil dieser Gesellschaft angesehen werden.
Hatting: Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin. Fünf ihrer Schüler in Dinslaken sind nach Syrien in den Dschihad gegangen, die meisten Gott sei Dank wieder zurückgekommen. Im Februar erscheint von Lamya Kaddor ein Buch dazu. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Kaddor: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.