Was der Fall Edathy über unsere Gesellschaft verrät
Am Schreckbild des Kinderschänders entlädt sich das schlechte Gewissen einer hypersexualisierten Gesellschaft. Fehlt uns eine "Ars erotica"? - das fragt die Journalistin Andrea Roedig.
Andere Zeiten haben die Dinge anders bewertet. In Platons berühmtem Dialog "Symposion" etwa, gilt die Beziehung eines älteren Mannes zu einem jüngeren nicht als verwerflich. Im Gegenteil, die Knabenliebe wird als die höchste und reinste Form des Eros gelobt. Das war damals schon nicht ganz unumstritten, und Pausanias, der Verfechter dieses Eros im Dialog, betont, dass der rechte Liebhaber "nicht Knäblein liebt", sondern erst solche Jungen, bei denen sich der Bartwuchs schon zeigt. Für unsere Maßstäbe wäre das immer noch zu jung.
Zurück in die Gegenwart: Der Schutz von Minderjährigen hat lange nichts gegolten, und er ist heute – sehr zu Recht – ein hohes Gut. Das Argument gegen die Kinderpornografie ist vor allem eines der Produktionsbedingungen. Es gibt verschiedene Stufen der Härte pornografischer Darstellungen, aber auch schon für sich harmlos gebende Posing-Bilder gilt: Es werden hier reale Kinder zur Befriedigung sexueller Fantasien missbraucht. Der zuständige Strafrechtsparagraf 184b geht noch weiter. Er verbietet nicht nur Fotos und Filme, sondern auch gemalte Bilder, die realistisch wirken, Mangas etwa, oder Schriften – also solches Material, an dessen Herstellung Kinder gar nicht beteiligt sind. Verboten ist nicht nur die Verbreitung solcher Inhalte, sondern schon der bloße Besitz. Wir sind hier im Giftschrank: Diese Bilder und Fantasien, egal wie sie hergestellt wurden, dürfen nicht sein.
Der Pädosexuelle rührt an einem Tabu - und wird zum Sündenbock
Sebastian Edathy behauptet, er habe kein strafrechtlich relevantes Material besessen. Er beruft sich zudem auf seine Privatsphäre und auch darauf, dass es in der Kunstgeschichte von Kinder- und Jugendakten nur so wimmele. Jenseits des juristischen Streits zeigt der Fall, wo derzeit die gesellschaftlichen Verunsicherungen und vor allem die Ängste liegen. Der Pädosexuelle rührt an ein Tabu, doch die empörte Zurückweisung seines Begehrens ist problematisch. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er auch als Sündenbock fungiert.
Am Schreckbild des Kinderschänders entlädt sich das schlechte Gewissen einer hypersexualisierten Gesellschaft, in der noch jede Zahnpasta-Reklame voll ist mit Anspielungen aufs Geschlecht. Wir alle schauen ja die ganze Zeit auf mehr oder weniger offen erotisierte Bilder – auch von Kindern und Jugendlichen. Wir sind konfrontiert mit einer Welt – und wehren uns nicht gegen sie – die voll ist mit sexualisierten Posen, die von Kindern und Jugendlichen natürlich auch nachgeahmt werden. Der Bilderflut und den Abgründigkeiten des Begehrens, des erwachsenen wie des der Jugendlichen und Kinder, stehen wir hilflos gegenüber und suchen eine feste Grenze, einen Schuldigen, den wahren Perversen. Die Grenzen aber, das wissen wir, sind fließend, und nur ein reflektierter, achtsamer, einfühlsamer Umgang mit ihnen kann helfen.
Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch behauptet, es gebe in unserer Kultur so viel sexuelle Gewalt, weil sie keine wirkliche "Ars erotica" entfaltet habe. Das hieße eine positive Kultur des angstlos liebenden Begehrens, das die Grenze des Anderen im Überschreiten immer achtet. "In einer wirklich liberalen, um nicht zu sagen freien Gesellschaft könnte auch der Pädophile offen und ohne Sanktionen zu seinem Begehren stehen; es auszuleben könnte aber selbst dann nicht toleriert werden", schreibt Sigusch. Das ist eine heikle Gratwanderung, aber die darf einer "aufgeklärten" Gesellschaft zugemutet werden.