Realistischer als Rossini
Statt Rossinis Version zeigt das Theater an der Wien Paisiellos "Barbier von Sevilla". Die Inszenierung setzt die bekannten Figuren in neues musikalisches Licht und zeichnet die Charakteren mit ausgeprägtem Realitätssinn – eine Bereicherung!
Am Theater an der Wien beschäftigt man sich derzeit mit Beaumarchais Figaro-Trilogie und hat zum Auftakt nicht etwa Rossinis beliebte Vertonung des "Barbiere di Siviglia" gewählt, sondern das über 30 Jahre früher komponierte Werk von Giovanni Paisiello. Der schrieb seinen Barbier für den Hof der russischen Zarin Katharina II. im Jahr 1782 und hatte großen Erfolg damit, bis ihm Rossini den Rang ablief.
Das Regie-Duo Moshe Leiser und Patrice Caurier verortet die Handlung ins Spanien der Franko-Diktatur, wobei das dunkle, gutbürgerliche Altbau- Wohnzimmer von Bühnenbildner Christian Fenouillat mit seinen Antiquitäten in jeder europäischen Großstadt der 40er Jahre stehen könnte. Spanisches Kolorit spielt am Theater an der Wien also keine Rolle. Feine Personenführung und dezente Komik waren dem Regieteam offensichtlich wichtiger.
Figuren erscheinen realistischer und weniger überzeichnet
Paisiello orientiert sich sehr genau an Beaumarchais, und so erscheinen seine Figuren realistischer und weniger überzeichnet, als in der späteren Version Rossinis. Figaro ist ein erfolgloser Dichter und Musiker. Den Barbiersberuf wählt er nur aus der Not. Aber er ist jung und lässt sich die gute Laune nicht so leicht verderben. Jung ist auch das Sängerensemble: André Schuen als Arbeiterklassen-Figaro weiß wie auch Mari Eriksmoen als verletzliche, biedere und mädchenhafte Rosina zu überzeugen. Deutlich aufgewertet ist bei Paisiello die Figur des unglücklich verliebten Doktor Bartolo. Pietro Spagnioli verkörpert ihn großartig! Man leidet mit ihm, wenn er sich aus Liebeskummer umbringen will, und auch die komische Einschlafszene in der Musikstunde im dritten Akt gelingt ihm hervorragend.
René Jacobs steigert die musikalische Spannung wie auch die akustische Balance kontinuierlich über die vier Akte. Er zeigt mit dem Freiburger Barockorchester deutlich die enge Verbindung zu Mozart, dessen "Hochzeit des Figaro" nur vier Jahre später entstand. Wie aus Rosina in kurzer Zeit als Ehefrau des Grafen Almaviva die unglückliche Contessa werden kann, ist mit dieser Vorgeschichte viel besser nachzuvollziehen.
Sicher, die Version von Rossini bietet spektakulärere Arien und mehr direkten Witz, aber ich bin dem Theater an der Wien dankbar für diese Repertoire-Erweiterung. Sie setzt die alt bekannten Figuren aus dem Barbier von Sevilla in neues musikalisches Licht – eine echte Bereicherung!