Helfen und hassen im Dreieck
Die Atommacht Pakistan wählt ein neues Parlament. Premierminister könnte ein Ex-Kapitän der Cricket-Nationalmannschaft werden. Künftige Aufgaben: Feindschaft mit Indien pflegen und Afghanistan destabilisieren. Die drei Nachbarn leben kompliziert.
Zehn Jahre sind seit der Militärdiktatur in Pakistan vergangen und langsam entwickelt sich demokratischer Alltag im Land. Erneut könnte es zum friedlichen Machtwechsel ohne Militärputsch kommen, wenn heute rund 100 Millionen Pakistani ihre Stimme abgeben. Gute Chancen erstmals stärkste Partei zu werden, hat der Ex-Cricket-Star Imran Khan mit seiner "Bewegung für Gerechtigkeit", die vor allem gegen Korruption bei den beiden bisher regierenden Parteien mobil macht. Ein Konservativer mit Charisma und dem Vorteil des Außenseiters.
Wer lange im System ist, hat wie Ex-Premier Nawaz Sharif mit Korruptionsvergehen zu kämpfen. Seit kurzem sitzt der Kopf der Regierungspartei "Pakistans Muslim-Liga" (PML-N) in Haft wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Er wurde mit zehn Jahren Haft und lebenslangem Politikverbot bestraft. Somit hat er dieses Mal keine Chance der neue Regierungschef zu werden. Vielleicht springt sein Bruder ein. Oft laufen die Machtstrukturen in Pakistan über Familienbande.
Auch das Militär spielt immer noch eine gewichtige Rolle in Politik, Wirtschaft und der Medienöffentlichkeit. So klagen kritische Blogger über Folter und mussten ausreisen. Gewalt regelt oft auch das Verhältnis mit den Nachbarn: Indien im Osten und Afghanistan im Westen. Während Entspannung in der Kaschmir-Region nicht in Sicht ist, mischt der pakistanische Geheimdienst ISI in Afghanistan über die pakistanischen Taliban mit, um mehr Einfluss im Land zu erhalten. Afghanistan soll anders als Indien zu einem Partner werden.
"Kleines Kabul" in Indiens Hauptstadt
Wer die Beziehung zwischen Afghanen und Indern erkunden will, sollte nach Lajpat Nagar reisen, ein südlicher Stadtteil Neu-Delhis, in dem neben Hindi noch zwei weitere Sprachen zu hören sind: Dari und Paschto. Junge Männer in schön gestickten Gewändern trinken an den Straßenrändern Tee und Frauen, die ihr Kopftuch wie jene in Kabul oder in anderen afghanischen Städten tragen, flanieren die Straßen entlang, oftmals mit einer Einkaufstasche in der einen und einem Kind in der anderen Hand.
All dies erscheint wenig verwunderlich, denn Lajpat Nagar ist voll mit Afghanen. Mittlerweile leben circa 30.000 afghanische Familien in Neu-Delhi. Einheimische Inder bezeichnen Lajpat Nagar oftmals als "Kleines Kabul" oder als "afghanische Kolonie".
Tatsächlich gewinnt man in diesem Stadtteil teils den Eindruck, in Kabul zu sein. Afghanische Restaurants und Supermärkte sind mit entsprechender Beschilderung fast in jeder Straße zu finden. Selbiges gilt auch für kleine Essensstände und Apotheken, die sich klar und deutlich als "afghanisch" kennzeichnen.
Der große Unterschied – und das merkt man auch an den Gesichtsausdrücken der Menschen – ist allerdings der Umstand, dass hier das Leben von niemandem gefährdet ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass im nächsten Moment eine Autobombe explodieren könnte, liegt im Vergleich zu Kabul oder anderen afghanischen Städten bei Null. Die Afghanen wissen und schätzen das.
"Hier herrscht wirklich Frieden und Sicherheit. Man darf nicht einmal einem Hund Leid zufügen. Ansonsten wird man eingesperrt – und für viele Afghanen ist das mittlerweile etwas Ungewohntes."
Said betreibt gemeinsam mit seinem Sohn Mohammad Yunus einen kleinen Imbiss in Lajpat Nagar. Sie verkaufen Bolani, afghanische Teigtaschen, die mit klein gehackten Kartoffeln oder Lauch gefüllt sind. Saids Familie stammt aus Kabul. Doch aufgrund der eskalierenden Sicherheitslage in Afghanistan entschloss er sich vor drei Jahren, gemeinsam mit seiner Familie das Land zu verlassen.
"Meine meisten Kunden sind Afghanen. Inder essen unsere Speisen eher weniger. Die meisten Inder, die zu mir kommen, kaufen für ihre afghanischen Angestellten ein, die hier in der Gegend arbeiten."
Aber das Geschäft am Bolani-Stand ist zäh. Said betont, dass er am Existenzminimum lebt und dass das Leben in Delhi teuer geworden ist.
Tausende Afghanen sind "Nicht-Bürger" in Indien
Den klassischen Flüchtlingsstatus genießen Said und seine Familie, ähnlich wie die meisten anderen Afghanen in Indien, nicht. Offiziell gibt es im ganzen Land gerade einmal 10.000 afghanische Geflüchtete. Den Rest will die indische Regierung nicht als solche anerkennen. Konkret bedeutet dies: Afghanen können ein Visum beantragen, einreisen und dann unter Duldung im Land verweilen. Das bürokratische Prozedere hierfür ist relativ unkompliziert und kostengünstig. Gleichzeitig bedeutet dies allerdings auch, dass man vollkommen auf sich allein gestellt ist. Staatliche Unterstützungen gibt es nicht – und so friedlich Indien auch sein mag, die Rechte der Afghanen sind im Endeffekt extrem begrenzt, was sie zu ungleichen "Nicht-Bürgern" macht. Viele Geflüchtete tauchen nach dem Ablauf des Visums unter.
In vielen anderen Staaten würden Menschen wie Said und seine Familie als Geflüchtete gelten. Immerhin herrscht in Afghanistan seit fast 40 Jahren Krieg. Laut einem Bericht der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) wurden im Jahr 2017 10.453 zivile Kriegsopfer am Hindukusch dokumentiert, über 3400 davon waren Todesopfer. Besonders wichtig ist hierbei die Tatsache, dass hier lediglich Mindestzahlen genannt werden. Es ist wahrscheinlich – und dies betont die UN selbst immer wieder – dass viel mehr unschuldige Menschen getötet wurden.
"In Afghanistan können uns Bomben töten, hier der Hunger"
Viele Afghanen in Lajpat Nagar sind aufgrund der eskalierenden Lage in ihrer Heimat besorgt. Gleichzeitig spüren sie, dass sie auch in Indien nicht willkommen sind und praktisch keine Rechte haben. Für Harun, der seit einem Jahr einen kleinen Essensstand führt, gibt es keinen Grund für Optimismus.
"In Afghanistan könnten uns Bomben töten, doch hier könnte uns der Hunger auslöschen. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Von dem, was ich verdiene, können wir hier kaum leben. Außerdem befinden wir uns ohnehin schon einer Situation, in der wir leicht ausgebeutet werden können. Mein indischer Vermieter macht mir jeden Monat die Hölle heiß und droht mir regelmäßig, mich bei den Behörden anzuzeigen. Er sagt mir immer wieder, dass wir Afghanen nicht hierher gehören würden."
Harun stammt aus Kabul. Aufgrund seiner prekären Situation spielt er mittlerweile mit dem Gedanken, gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern nach Kabul zurückzukehren. Seine Kritik gilt auch für die Repressalien der indischen Regierung sowie dem Rassismus innerhalb der Gesellschaft gegenüber Geflüchteten.
"Es gibt keine Hilfe – und zwar von niemandem. Auch die UNHCR hilft nicht. Wir haben lediglich diesen blauen Zettel bekommen, der alle drei Monate abgestempelt wird. Im vergangenen Januar habe ich wieder einen Stempel erhalten, und zwar für sechs Monate. Das war es dann auch schon. Mehr können wir von denen nicht erwarten. Wir haben hier keine Rechte. Niemand interessiert sich für Afghanen. Man ist vollkommen auf sich alleine gestellt."
Gemeinsame Historie: Afghanen hinterließen Spuren in Indien
Kurz und bündig lässt sich der Umgang Indiens mit Afghanen allerdings nicht zusammenfassen. Tatsächlich betrifft die beschriebene Art der Verachtung vor allem ärmere Geflüchtete, die in den letzten Jahren nach Indien gekommen sind. Afghanische Migrations- und Fluchtwellen nach Indien sind allerdings nichts Neues sondern haben eine lange Tradition. Schon vor über 100 Jahren – im Jahr 1892 – schrieb der bengalische Dichter und Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore seine berühmte Kurzgeschichte "Kabuliwala", in der es um einen Afghanen in Kalkutta geht, der fernab von seiner Heimat Kabul lebt.
Und bereits in den Jahrhunderten zuvor wurde die Geschichte des indischen Subkontinents auch von afghanischen Herrschern beeinflusst. Dies betraf vor allem den Norden Indiens, wo sich ihre Spuren bis heute finden lassen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Lodi-Gärten in Neu-Delhi, die nach der gleichnamigen Dynastie benannt sind und von dieser im 15. Jahrhundert errichtet wurden. Die ursprüngliche Heimat des Lodi-Stammes liegt in Afghanistan, wo sich deren Stammesstrukturen bis heute finden lassen.
Derartige historische Gemeinsamkeiten haben unter anderem auch dazu geführt, dass Indien und Afghanistan auf politischer Ebene oftmals ein gutes Verhältnis pflegen – und einen gemeinsamen Feind haben, nämlich Pakistan. Sowohl Kabul als auch Neu-Delhi machen den vergleichsweise jungen Staat für zahlreiche Miseren verantwortlich. Die Entstehung des pakistanischen Staates hatte für viele Afghanen und Inder weitreichende Folgen. Indien wurde zwar unabhängig, allerdings auch geteilt.
Teilweise betraf dies auch Afghanistan – diese Meinung vertreten zumindest viele Nationalisten im Land. Denn als Pakistan entstand, wurden auch jene paschtunischen Stammesgebiete, die einst zu Afghanistan gehörten und Ende des 19. Jahrhunderts an die Briten abgetreten wurden, pakistanisch. Das Gebiet, das durch die sogenannte Durand-Linie – benannt nach dem verantwortlichen britischen Diplomaten – getrennt wird, gilt bis heute als Unruheherd.
Ungleiche Augenhöhe zwischen Indien und Afghanistan
Die darauffolgenden Kriege und Konflikte verschärften Islamabads Verhältnis zu Kabul und Neu-Delhi. Heute betrifft dies weiterhin den Kaschmir-Konflikt sowie den Krieg in Afghanistan. In beiden Fällen wird Pakistan vorgeworfen, "Terroristen", etwa Separatisten in Kaschmir oder die Taliban in Afghanistan – zu unterstützen, um seine Nachbarstaaten zu destabilisieren. Hier wird auch oft das Haqqani-Netzwerk erwähnt: Eine Gruppierung, die den Militärchef der afghanischen Taliban stellt, Sirajuddin Haqqani, und den Ruf hat, besonders Pakistan-nah zu sein.
Für Terroranschläge, die in den letzten Jahren in beiden Ländern stattfanden, wurde stets mehr oder weniger die pakistanische Regierung oder deren mächtiger Geheimdienst, der ISI, verantwortlich gemacht.
Diese Rhetorik wird auch von Präsident Ashraf Ghani und seinem Amtskollegen Narendra Modi regelmäßig angeschlagen. Die beiden verstehen sich prächtig. Indien will seine Zusammenarbeit mit Afghanistan verstärken, in das Land investieren und afghanische Sicherheitskräfte ausbilden.
Wer hinter die Kulissen blickt, wird allerdings schnell bemerken, dass das Machtverhältnis zwischen Kabul und Neu Delhi sehr einseitig ist und dass Letzterer vor allem ein Interesse daran hat, Afghanistan weiterhin als politisches Schachbrett gegen Pakistan zu missbrauchen – nur eben auf die sanfte und nette Weise. Während Pakistan als böser Bub gilt, präsentiert sich Indien als Charmeur.
Für muslimische Afghanen kaum Flüchtlingsstatus in Indien
Für die Afghanen in Indien spielt die große Politik allerdings keine Rolle. Die meisten von ihnen haben nichts von den guten Beziehungen zwischen Kabul und Neu-Delhi. Dabei ist auffallend, wie unterschiedlich die indische Regierung mit Afghanen verschiedenen Glaubens umgeht. Während etwa Hindus und Sikhs – beide Konfessionen existieren bis heute in Afghanistan und waren vor Massenmigrationen zahlreich vorhanden – nicht nur als Geflüchtete anerkannt wurden, sondern mittlerweile auch zu indischen Staatsbürgern geworden sind, genießen Muslime nicht einmal den Geflüchtetenstatus.
Wenige Ausnahmen stellen hierbei im besten Fall wohlhabende Afghanen aus der politischen Klasse dar.
Von der Lage seiner Landsmänner kann auch Mohammad Wali ein Lied singen. Der junge Afghane lebt seit einem Jahr mit seiner Familie in Lajpat Nagar und betreibt eine Eisdiele mit seinem Vater. In seiner Heimatstadt Mazar-e Sharif im Norden Afghanistans ging Mohammad Wali zur Schule. Doch als Geflüchteter ist nun auch seine Zukunft ungewiss.
"Ich bin seit circa einem Jahr hier - aufgrund der Unruhe in Afghanistan. Man konnte dort nicht in Ruhe leben und hatte stets Angst um das eigene Leben. Wo die Zukunft meiner Familie sein wird, ist allerdings unklar. Vielleicht bleiben wir hier oder uns zieht es in eine andere indische Stadt. Oder wir gehen zurück nach Afghanistan, wenn die Lage sich verbessert und es friedlicher wird. Ich denke allerdings nicht, dass die dortige Lage sich verbessert. Es wird nur noch schlimmer und nicht besser."