Das Archiv der Knochen
Für Archäologen sind Knochen inzwischen eine Quelle von unschätzbarem Wert. Denn ihre genetische Analyse hilft, bisher nicht restlos geklärte Fragen der Menschheitsgeschichte zu beantworten: zum Beispiel, wie die Europäer sesshaft wurden.
Es ist die Zeit rund 3.300 vor Christus. Die Menschen in der heutigen Region Braunschweig leben in einfachen Hütten aus Holz und Lehm, suchen in ihnen Schutz vor Regen und Kälte. Die Landschaft, in der sie siedeln, ist von Mischwäldern aus Eichen, Buchen und Ulmen geprägt. Mit Steinbeilen schlagen die Menschen der damaligen Jungsteinzeit Holz. Auf ihren Äckern wächst Einkorn, als Nutztiere halten sie Rinder. Ackerbau und Viehzucht sind bereits fester Bestandteil ihrer Lebensweise.
Unter den Bewohnern einer solchen jungsteinzeitlichen Siedlung ist auch ein etwa 50-jähriger Mann. Ihn ereilte ein rätselhaftes und vermutlich grausiges Schicksal. Archäologen entdeckten seinen Schädel in einem Massengrab, erzählt die Direktorin des Braunschweiger Landesmusems Dr. Heike Pöppelmann.
"Das Grab ist schon in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts gefunden worden. Der Fundplatz ist Börnecke im Harzer Raum und es handelt sich um eine Kollektivbestattung in einer so genannten Totenhütte. Also, hier haben die Menschen einer Siedlung, einer Gruppe, über mehrere Generationen ihre Toten beigesetzt."
Anzeichen einer steinzeitlichen Schädel-OP
Unter den Knochen und Schädeln der mehr als 100 Menschen, die in der jungsteinzeitlichen Totenhütte bestattet wurden, ragt der Schädel des 50-jährigen Mannes hervor. Heute ist er im Braunschweiger Landesmuseum in einer gläsernen Vitrine aufgebahrt. Sein Nasenbein ist nur noch als Fragment erhalten, in seinem Hinterkopf klafft ein handballengroßes, kreisrundes Loch. Es deutet auf eine Operation hin, an die sich die Menschen der Jungsteinzeit mit einfachem Werkzeug aus Feuerstein gewagt haben.
"Also, ganz einfach gesagt, man hat ungefähr vor über 5000 Jahren diesen Schädel geöffnet, eine recht große Knochenplatte herausgenommen, und an den Kanten können sie erkennen, es gab einen Heilungsprozess. Also, die Anthropologen sagen, der Mann hat sicherlich diese Operation fünf bis zehn Jahre überlebt."
Die Knochenränder des Loches sind abgerundet und verheilt. Unterhalb des Loches ist der Schädelknochen grünlich verfärbt. Es sind die Spuren einer Kupferkappe, die der Mann auf dem Kopf getragen hat, vermuten die Forscher. Das Loch im Schädel konnte er durch die Kappe schützen. Gut möglich, dass sich der Mann bei einem brutalen Kampf verletzte. Denn die damaligen regionalen Kulturen, die Archäologen vor allem anhand der von ihnen gefertigten Keramiktöpfe unterscheiden, waren sich sicher nicht nur friedlich gesinnt.
"Der Mann lebte in einem Zeitraum, der sich durch große Änderungen auszeichnet. Wir haben hier lokale Gruppen, die Walter-Nienburger-Kultur, die Wartbergkultur und die Salzmünder-Kultur. Der Mann aus Börnecke gehört zur Walter-Nienburger-Kultur. Und der hat in einer Zeit gelebt, wo auf einmal eine neue Kulturgruppe aus dem Norden vordringt, die so genannte Tiefstichkeramische-Kultur. Also wir finden innerhalb des Raumes neue Fundstellen mit ganz anderer Keramik, die uns zeigt, dass Menschen aus dem Norden hier in die Region vorgestoßen sind."
Warum wurden die Menschen in Europa sesshaft?
Diese Neubesiedlung der Region durch Menschen der Tiefstichkeramischen-Kultur könnte konfliktreich gewesen sein: Befestigte Siedlungen, aus Stein gefertigte Totschläger und zertrümmerte Schädel aus der Zeit um 3.300 vor Christus sprechen dafür. Doch ob es tatsächlich unterschiedliche Kulturen waren, die hier aufeinander trafen und die sich bekämpften, können die Archäologen nur vermuten.
"Die Kulturen, die wir als Archäologen definieren, durch die Art der Keramik, wie sie verziert ist, durch die Art der Steinbeile beispielsweise, durch die Art, wie sie mit ihren Toten umgehen, definieren wir archäologische Kulturen. Das ist natürlich von außen interpretiert. Wir haben ja nicht irgendwelche Schriftquellen. Sondern wir versuchen als Archäologen zu rekonstruieren, ist das eine Gruppe, die man auch kulturell definieren kann."
Seit einigen Jahren gibt es außerdem eine Methode, die den Archäologen weitere Indizien liefert: die Paläogenetik. Bei ihr werden genetische Proben aus den Skeletten der Verstorbenen untersucht, die in steinzeitlichen Gräbern bestattetet wurden. Forscher haben so die DNA von Angehörigen der Tiefstichkeramischen-Kultur analysiert. Das Ergebnis ist faszinierend, erzählt Heike Pöppelmann.
"Und da haben eben die paläogenetischen Untersuchungen belegt, dass wir hier wirklich eine geschlossene Gruppe vor uns sehen, die aus dem Norden kommt, und das ist jetzt das Spannende daran, die von ihrem Genpool belegen, dass sie eben von den alten Jäger- und Sammlergruppen abstammen, die eben um 5.500 vor Christus durch die eingewanderten Bauernkulturen verdrängt worden sind. Die kommen aus dem Norden wieder zurück in den Mittelgebirgsraum."
Dass es die Tiefstichkeramische-Kultur als geschlossene Gruppe gab, belegt damit auch die Paläogenetik. Denn der so genannte Haplotyp ihrer Vertreter, also die spezifische Reihenfolge der Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin in ein und demselben Chromosom des Erbguts, unterscheidet sich deutlich von Angehörigen anderer regionaler Kulturen. Die Vertreter der Tiefstichkeramischen-Kultur lassen sich genetisch dadurch von den Gruppenmitgliedern der Walter-Nienburger-Kultur abgrenzen - zu der auch unser Mann mit dem Loch im Schädel gehörte.
Um 5.500 v. Chr. veränderte sich der Genpool
Wir befinden uns in der Zeit um 5.500 vor Christus. Die Mittelsteinzeit, das so genannte Mesolithikum, neigt sich dem Ende zu. Bisher waren die Menschen in Mitteleuropa vor allem als Jäger und Sammler aktiv. Sie töteten Wild mit Pfeilspitzen aus Steinen, sammelten Beeren und Pilze. Feste Hütten kannten sie nicht: Mit ihren Gruppen zogen sie umher, immer auf der Suche nach Nahrung.
Doch dann passiert es: Nach und nach etabliert sich eine neue Kultur in Mitteleuropa. Die Menschen werden sesshaft, sie bauen Hütten, halten Vieh, säen Getreide - die Jungsteinzeit, das Neolithikum, beginnt.
Lange Zeit war in der Archäologie unklar, wodurch sich diese neolithische Bauernkultur in Mitteleuropa etablierte. Übernahmen die alten Jäger- und Sammler-Kulturen, die auch als Wildbeuter bekannt sind, die landwirtschaftlichen Techniken von anderen Kulturen? Oder wanderten Menschen ein, die die neue Bauernkultur mit sich brachten? Die Paläogenetik hat in dieser alten Debatte entscheidende Hinweise geliefert, sagt Elke Kaiser, Professorin für prähistorische Archäologie an der Freien Universität Berlin.
"Studien aus der Paläogenetik-Gruppe in Mainz, die haben halt relativ deutlich gezeigt, dass doch mit den Bestatteten, die in Gräbern gefunden werden, die wir wiederum mit den frühesten neolithischen Gemeinschaften hier in Mitteleuropa verbinden, dass da eine neue genetische Zusammensetzung auftritt. Bei den Wildbeutern, von denen wir zugegebenermaßen nur sehr wenige Bestattungen haben, ist diese genetische Zusammensetzung so nicht bislang bekannt. Und das spricht schon sehr stark dafür, dass tatsächlich Leute mit einem anderen genetischen Pool hier angekommen sind."
Eingewanderte Bauernkulturen aus dem Nahen Osten
Mittlerweile gilt es unter Archäologen als relativ sicher, dass die Bauernkulturen ursprünglich aus dem Vorderen Orient stammten. In den heutigen Gebieten Israels, Syriens, des Irak und der Türkei waren Landwirtschaft und Viehzucht bereits deutlich vor 5.500 vor Christus verbreitet. Schließlich machten sich einige der dortigen Bauern auf den Weg nach Nordwesten - ins heutige Mitteleuropa.
"Und dann gab es natürlich immer Stopps. Dann wurden andere Gebiete, zunächst mal auf dem Balkan, wurden neolithisiert. Das sind wirklich Prozesse, die über Generationen stattgefunden haben. Und dann scheint es wieder so zu sein, dass dann wieder mal eine Bewegung weiter nach Nordwesten ging, dann sag ich jetzt mal Karpatenbecken, und dort dann auch wieder längere Aufenthalte waren, bis die neue Subsistenzweise und auch die neue Lebensweise etabliert gewesen ist. Und dann, vom Karpatenbecken ausgehend, letztlich dann nach Mitteleuropa hinein."
Die Bauern siedelten in Mitteleuropa, auch wegen der fruchtbaren Böden. Ihre Kultur verfestigte sich. Die alten Jäger- und Sammler-Kulturen Mitteleuropas existierten eine Zeit lang parallel zu den Viehzüchtern und Ackerbauern. Dann gingen sie in ihnen auf oder wurden in andere Regionen verdrängt.
Die Paläogenetik stützt die Einwanderungs-Hypothese
Umfassende DNA-Analysen der menschlichen Skelette beider Kulturen zeigen deutliche Unterschiede in den Haplotypen. Die kulturelle Einteilung der Gruppen anhand ihrer Kulturartefakte deckt sich so mit den Ergebnissen der genetischen Analysen, sagt Albert Zink, biologischer Anthropologe und Mumienforscher aus Bozen.
"Man sieht eben gerade genetisch deutlich Unterschiede zwischen dem, was man archäologisch als Jäger und Sammler anspricht und den untersuchten Skeletten, die dann bereits in die Zeit des Neolithikums fallen, also, die man als Ackerbauern und Viehzüchter bezeichnet. Also man kann das ja archäologisch recht gut trennen und genetisch zeigen sich da auch deutliche Unterschiede."
Ohne diese Erkenntnisse der Paläogenetik würde die Hypothese, dass Ackerbauern und Viehzüchter nach Mitteleuropa eingewandert sind, bis heute vage bleiben.
Oft ist das Erbgut nur noch bruchstückhaft vorhanden
Mittlerweile gehören solche genetischen Untersuchungen fossiler Organe fest zum methodischen Repertoire der Archäologie. Realisieren lassen sie sich, weil sich die Analyse-Technik in den vergangenen Jahren enorm entwickelt hat.
"Der große technische Sprung kam sicher mit der so genannten Next-Generation-Sequencing, also der so genannten Gesamtgenom-Sequenzierung. Das ist eben eine Methode, die sich erst 2009, 2010 wirklich durchgesetzt hat, und die hat es eben dann erlaubt, aus einer einzigen Probe mit Hilfe einer einzigen Untersuchung das gesamte Erbgut, das in einer Probe steckt, zu untersuchen."
Die Paläogenetik profitiert enorm von dieser Technik: DNA aus fossilen Skeletten und Mumien lässt sich jetzt relativ günstig und vor allem schnell analysieren. Herausfordernd ist die Untersuchung allerdings immer noch. Denn bei jahrtausendealten Skeletten ist das Erbgut nur bruchstückhaft vorhanden, sagt Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
"Sehr alte DNA ist in kurze Abschnitte zerlegt und liegt meist nur in kleinen Mengen vor. Außerdem ist sie durch Bakterien verunreinigt und chemisch verändert. Dann ist sie auch noch mit DNA der Menschen belastet, die sie untersuchen. Oft lässt sich daher nur weniger als ein Prozent des ursprünglichen Erbguts aus einem alten Knochen extrahieren. Erbgut, das dann auch tatsächlich von dem prähistorischen Menschen stammt."
Besonders geeignet: Mumien aus dem Eis
Je älter die Knochen sind, desto geringer ist meist die DNA-Ausbeute. Svante Pääbo untersucht allerdings auch fossile Skelettteile, die im Einzelfall über 400.000 Jahre alt sind. Die DNA der jungsteinzeitlichen Bauern ist meist deutlich besser erhalten – schließlich ist sie maximal 7.500 Jahre alt. Wie bruchstückhaft die Erbsubstanz vorliegt, hängt aber auch davon ab, welchen Umwelteinflüssen die Knochen ausgesetzt waren, erläutert Professor Volker Mosbrugger von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung.
"Also, vergleichsweise günstig sind immer Organismen, die in Eis erhalten sind. Das ist ja auch das, was man heute häufig macht, wenn wir Gewebeproben nehmen, dann gefrieren wir die tief und konservieren die gerne bei minus 70 Grad. Und deswegen sind natürlich Mumien im Eis immer bevorzugte Organismen bei solchen paläogenetischen Untersuchungen. Aber es geht eben auch bei anderen Formen, wo eben letztlich durch Trockenheit der Zerfall der DNA weitgehend reduziert ist."
Das Erbgut aus den fossilen Skelettknochen ist im günstigen Fall noch in Teilen vorhanden. Aus den vielen einzelnen und oft sehr kurzen Basensequenzen wird das Genom der Verstorbenen Stück für Stück zusammengesetzt. Nach und nach zeigt sich, wie sich die vier Grundbausteine der DNA, also die Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin, paarweise aneinanderreihen. Oft genügt schon eine kleine Probe, um das gesamte Erbgut zu rekonstruieren. Professor Michael Hofreiter, Evolutionsbiologe an der Universität Potsdam.
"Was man dann macht zunächst einmal, man schneidet ein Stückchen ab, man mahlt das zu Knochenmehl, und dann gibt man Puffer zu, der den Knochen auflöst. Das heißt, was an DNA noch da ist geht in Lösung. Dann reinigt man diese DNA auf und hat sie dann irgendwann sauber vorliegen, in einem relativ geringen Volumen. Und interessiert einen nur eine bestimmte Position, dann kann man das alles in allem eigentlich in zwei Wochen fertig haben."
Die Analyse solch eines einzelnen Gens ist bereits für einige hundert Euro möglich. Wird das gesamte Genom untersucht, kostet es auch schon mal 15.000 Euro, weiß Michael Hofreiter. Doch die Erkenntnisse, die dank dieser Untersuchungen möglich sind, können spektakulär sein. Besonders deutlich wird das bei der Geschichte vom Mann aus dem Eis.
Ötzis letzte Wanderung
In den letzten Tagen hatte er bereits weite Strecken zurückgelegt. Er war vom Tal die Berge hinauf gestiegen, wieder zurück ins Tal gegangen und den gleichen Weg noch einmal die Berge hoch gewandert. Sein aus Tierfellen genähter Pelz schütze ihn vor der Kälte, die die Gletscher auch im Frühjahr abgeben. Als er sich zu einer Rast setzte, wusste er nicht, dass es seine letzte Mahlzeit sein sollte. Es gab Fleisch vom Alpensteinbock, Einkorn, Beerenfrüchte. Gestärkt machte er sich wieder auf den Weg. Kurz darauf traf ihn der tödliche Pfeil. Er stürzte, blieb liegen, bis der Schneefall einsetzte und ihn für mehr als 5000 Jahre im Eis vergrub.
Im September 1991 schließlich kam es zur spektakulären Entdeckung: Ein Ehepaar wanderte durch die Ötztaler Alpen und entdeckte eine Leiche – sie lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht im Schnee. Den Entdeckern fuhr der Schrecken in die Glieder, der sich jedoch bald legen sollte.
"Ja, der Ötzi ist besonders bedeutend, weil er zum einen natürlich die älteste Mumie ist, die wir in Europa haben. Das ist wirklich eine der wenigen prähistorischen Mumien, die es in Europa gibt. Und dazu kommt, dass er durch diese spezielle Mumifizierung in der Kälte, durch den Gletscher, durch das Eis, durch diese auch partielle Austrocknung, extrem gut erhalten ist. Also man kann wirklich hier noch mit sehr großem Erfolg DNA rekonstruieren, man kann sein Genom rekonstruieren, man findet noch Krankheitserreger in ihm und deswegen ist er wirklich eine einzigartige Quelle."
Ötzis Augen waren braun, zeigt die Gen-Analyse
Die Geschichte von Ötzi fasziniert Forscher und Öffentlichkeit seit 25 Jahren. In Bozen errichtete man sogar extra ein Museum für ihn. Der gefriergetrocknete Körper, der im Eis in den Südtiroler Ötztaler Alpen lag, ist rund 1,54 Meter lang und 13 Kilogramm schwer. Ötzi lebte um circa 3.200 vor Christus - und damit etwa in der gleichen Zeit wie der Mann mit dem eingeschlagenen Schädel aus Börnecke. Bei seinem Tod war Ötzi 45 bis 46 Jahre alt.
Seit seinem Fund ist der Eismann ausführlich untersucht worden. 2011 wurden die ersten Ergebnisse der Genom-Analyse bekannt. Zusammengesetzt wurde sein Erbgut wie bei einem Puzzel aus Abermillionen Basenpaaren, erzählt Mumienforscher Albert Zink.
"Die Länge, die Fragmentgröße der DNA ist natürlich sehr, sehr klein, das war beim Ötzi auch so. Wir haben überwiegend Fragmente, die vielleicht zwischen fünfzig bis hundert Basenpaaren waren und nur sehr wenige, die größer waren. Und wenn man sich vorstellt, dass ein menschliches Genom aus drei Milliarden Basen besteht, dann braucht man hier jetzt sehr, sehr viele kleine Fragmente, um dann am Ende wieder das gesamte Genom zusammenzufügen zu können."
Das Genom des Eismanns wurde anhand einer Probe aus seinem Beckenkamm von Computerprogrammen rekonstruiert und im Februar 2012 veröffentlicht. Entdeckt wurde unter anderem, dass Ötzi braune Augen hatte – und nicht blaue, wie ursprünglich vermutet. Bei seinen musealen Nachbildungen ist das bereits verändert. Weitreichender sind die Ergebnisse zu seiner Gesundheit.
"Ich denke, die wichtigste Erkenntnis bei der Analyse der DNA vom Ötzi waren vor allem auch die Krankheitsanlagen, die wir feststellen konnten. Also zum Beispiel, dass er sehr starke Veranlagungen hatte für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wir wissen auch, dass er bereits an Arteriosklerose litt, also an Gefäßverkalkungen. Und das wirft ein ganz neues Bild auf die Zeit. Wir haben immer gedacht, das sind alles moderne Erkrankungen, das sind so gennannte Zivilisationskrankheiten, die sich erst in den vielleicht letzten einhundert bis zweihundert Jahren wirklich ausgebildet haben, aber da hat sich das Bild jetzt vollkommen gewandelt. Wir wissen auch schon vor fünftausend Jahren waren diese so genannten Zivilisationskrankheiten vorhanden."
Ötzi hatte vermeintlich moderne Zivilisationskrankheiten
Der Eismann aus den Ötztaler Alpen faszinierte damit nicht nur die Öffentlichkeit. Er revolutioniert auch die Forschung. Er zeigt, wie evolutionsgeschichtlich bedeutend unsere genetische Ausstattung für diese Krankheiten ist.
Bekannt ist auch, dass Ötzi laktoseintolerant war, er also keine Milchprodukte vertrug. Als persönliche Einschränkung lässt sich das aber nicht interpretieren, sagt Albert Zink.
"Also, die Laktoseintoleranz wird ja bestimmt durch eine bestimmte genetische Variante. Und wir wussten ja bereits, dass die ursprüngliche Variante war, dass die Menschen intolerant sind. Weil es in der Menschheitsgeschichte, bevor es die Viehzüchtung gab, überhaupt nicht zur Diskussion stand, dass man im Erwachsenenalter überhaupt Milch zu sich nimmt.
Und deswegen haben wir auch beim Ötzi eigentlich erwartet, dass er noch laktoseintolerant ist, weil wir auch wissen aus anderen Untersuchungen zu der Zeit, also dem Ende des Neolithikums, war das noch nicht so verbreitet, die Möglichkeit, im Erwachsenenalter wirklich viel Milchzucker zu verdauen."
Ötzi - ein früher Ackerbauer und Viehzüchter
Die Fähigkeit, Milchzucker zu verarbeiten, entwickelte sich erst später. Neuere Untersuchungen an fossilen Skeletten legen nahe, dass die Laktoseintoleranz in der Jungsteinzeit noch weit verbreitet war. Im Mittelalter konnten dann bereits die meisten Menschen Milchzucker verdauen.
Der genetische Anpassungsprozess hat also vermutlich viele tausend Jahre gedauert. Ackerbau und Viehzucht kamen in der Jungsteinzeit daher wohl noch ohne Milchwirtschaft aus. Bei Ötzi und seiner Gruppe wird es ähnlich gewesen sein.
"Also, wir wissen, dass der Ötzi bereits zu einer sesshaften Kultur gehört hat. Also zu Ackerbauern und Viehzüchtern. Man weiß, dass sie bereits Getreide angebaut haben. Es wurden auch Schafe und Ziegen bereits gezüchtet. Und die genetischen Informationen vom Ötzi zeigen, er war bereits einer dieser frühen Ackerbauern und Viehzüchter und er zeigt also kaum noch oder wenig Spuren von den früheren Jägern und Sammlern, die sicher dort auch in Südtirol vorhanden waren."
Auch die DNA der Tiere beantwortet kulturhistorische Fragen
Es ist Frühjahr im Braunschweiger Raum, in einem Jahr um 3.300 vor Christus. Der 20-jährige, kräftige Mann wischt sich Schweiß von der Stirn. Zusammen mit den Männern seiner Siedlung hat er bereits ein kleines Stückchen Wald gerodet. Mit Steinäxten haben sie Baum um Baum gefällt und den Boden freigelegt. Sie brauchen ihn, damit ihre Tiere auf dem fruchtbaren Grund weiden können. Auch Getreide wollen sie hier anbauen, vor allem Einkorn. Manchmal backen sie daraus einfaches Brot und verzehren es zusammen mit dem Fleisch von Schafen und Rindern, das sie über dem Feuer gegart haben.
"Die Anfänge der Landwirtschaft in Mitteleuropa liegen in der Mitte des sechsten Jahrtausends vor Christus. Da sind die ersten Siedlungen nachweisbar, in denen bestimmte Kulturpflanzen auftreten, Weizen zum Beispiel und auch Erbsen, also Hülsenfrüchte. Und an Haustieren treten Rind, Schwein, Schaf und Ziege auf. Das sind die ältesten Haustiere, die in unserem Raum in dieser Zeit das erste Mal nachweisbar sind."
Der Archäozoologe Professor Norbert Benecke vom Deutschen Archäologischen Institut in Berlin ist ein intimer Kenner der frühen Haustierrassen. Domestizierte Schafe und Ziegen etwa, deren Knochen sich in vielen jungsteinzeitlichen Siedlungen Mitteleuropas finden, sind aus einer weit entfernten Region in diese Gegend gekommen.
"Die Wildverwandten von Schafen und Ziegen zum Beispiel gibt es in Mitteleuropa gar nicht. Das heißt, die Tiere, die wir dann als Schafe und Ziegen hier im archäologischen Material nachweisen können, müssen aus anderen Regionen stammen, und zwar aus den Regionen, wo die entsprechenden Wildverwandten heimisch sind. Und das ist, was Schafe und Ziegen anbelangt, der Vordere Orient."
Auch das Hausschwein kommt aus dem Nahen Osten
Die domestizierten Schafe und Ziegen kamen demnach mit Ackerbauern und Viehzüchtern nach Mitteleuropa: Über die Türkei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn gelangten sie in das Gebiet des heutigen Deutschlands. Datierungen der Tierknochen, die in jungsteinzeitlichen Siedlungen gefunden wurden, belegen das ebenfalls. Auch Schweine und Rinder nahmen diesen Weg. Eine erstaunliche Erkenntnis. Möglich wurde sie, weil Forscher die DNA von frühen Hausschweinen und Rindern rekonstruiert haben.
"Die Genetik gibt nun Hinweise darauf, dass zum Beispiel bei Rindern und Schweinen, dass die Tiere auch aus dem Vorderen Orient direkt in unser Gebiet importiert worden sind, und nicht, wie man ja vermuten könnte, weil, bei Schweinen und Rind gibt es ja die Wildverwandten, den Ur und das Wildschwein, ja auch in Mitteleuropa, nicht hier am Ort domestiziert worden sind.
Sondern die genetischen Merkmale, die so genannten Haplotypen, die man bei den Rindern und Schweinen in den frühesten bäuerlichen Siedlungen Mitteleuropas hat, entsprechen den Haplotypen, die im Vorderen Orient heimisch sind."
Auch die jungsteinzeitlichen Knochen von Schweinen und Rindern belegen einmal mehr, dass Ackerbauern und Viehzüchter nach Mitteleuropa eingewandert sind. Für einen Fall aus der nachfolgenden Bronzezeit um circa 2000 vor Christus konnten die Forscher sogar detailliert nachweisen, aus welcher Region die dort entdeckten Schweine ursprünglich stammten.
"Wir haben zum Beispiel in einer Fundstelle in Thrakien, also, das liegt im Grenzgebiet zwischen Bulgarien und der Türkei, also auf dem europäischen Kontinent, Schweine in einer frühbronzezeitlichen Siedlung nachweisen können und die genetisch untersuchen lassen. Und die tragen Haplotypen, die eigentlich für die Kaukasusregion typisch sind. Und von daher wissen wir, dass diese Schweine irgendwann mal auf Wegen, die wir nicht kennen, also vielleicht auf dem Seeweg oder auf dem Landweg, aus der Kaukasusregion in die Region Thrakiens gelangt sein müssen."
Der Fund könnte dafür sprechen, dass zwischen den Kulturen gehandelt wurde. Möglicherweise wurden Schweine als Handelsware mit Schiffen über das Schwarze Meer transportiert. Die genetische Untersuchung der Schweineknochen ermöglicht diese Spekulation zumindest.
Eine vielfältige Migrationsgeschichte
Generell aber lassen sich dank der Paläogenetik vor allem die großen Wanderungsbewegungen der frühen Völker nachweisen, konstatiert der Archäologe Professor Harald Meller. Er ist Direktor des Landesmusems für Vorgeschichte in Sachsen-Anhalt.
"Mitteleuropa nach unser Erkenntnis heute besteht bis 5.500 vor Christus aus Jägern und Sammlern. Dann kommt es zu dem massiven Einwanderungsimpact, wie wir heute wissen, aus dem Vorderen Orient. Und dann bleiben diese sozusagen Bandkeramiker, diese Gene, diese Leute aus dem Vorderen Orient, die bleiben dann hier bis circa 2.800 vor Christus. Und dann gibt es wieder einen massiven Impact, eine wahrscheinlich Einwanderung aus der Steppe, durch Reitervölker, durch Schnurkeramiker und ähnliches, und dann, zum Schluss, gibt es dann noch eine Bewegung, die uns trifft aus Spanien wahrscheinlich, aus der iberischen Halbinsel so sieht‘s aus, Glockenbecher nennt sich das. Und dann ist der europäische Mix schon fertig mit der frühen Bronzezeit, und diese Gene tragen wir bis heute in uns."
Die großen Linien unserer Herkunft seit der Jungsteinzeit sind damit recht gut bekannt. Wir tragen also den genetischen Mix aus vieler Herren Länder und diverser Himmelsrichtungen in uns. Doch im Kleinen bleiben Rätsel – paradoxerweise gerade wegen der Paläogenetik.
Woher kommt der Magenkeim Helicobacter?
Bei seiner Wanderung, die ihn den Berg hinaufführte, musste Ötzi einige Male innehalten. Er presste sich die Hand auf den Magen, stand leicht gekrümmt da, atmete tief durch. Sein Blick wanderte den Berg hinauf und die Strecke entlang, die er noch vor sich hatte. Die Magenschmerzen waren unangenehm, manchmal richtig schmerzhaft. Sie würden ihn aber nicht daran hindern, weiter den Berg hinaufzusteigen. Entschlossen schritt er vorwärts.
"Ja, wir waren uns nicht sicher, ob wir den Helicobacter pylori, also diesen Magenkeim, beim Ötzi wirklich finden können. Wir haben mal auf gut Glück danach gesucht, weil wir eben die Möglichkeit hatten, Magenproben zu untersuchen. Und tatsächlich ist es uns dann gelungen, dieses Bakterium zu identifizieren und vor allem auch das gesamte Genom von diesem Helicobacter pylori zu entschlüsseln."
Den Magenkeim Helicobacter pylori trägt heute die Hälfte aller Menschen in sich, weiß Albert Zink. Vor allem im Alter kann der Keim zu Magenschmerzen, Gastritis und Geschwüren führen. Auch Ötzi könnte daran gelitten haben. Paradoxerweise fanden die Forscher nicht den europäischen Helicobacterstamm bei Ötzi, sondern eine asiatische Variante. Der heutige europäische Stamm, der aus dem asiatischen und einem afrikanischen Stamm hervorgegangen ist, hat sich demnach erst später gebildet.
"Dieses Vorhandensein eines asiatischen Stammes zeigt, dass auch nach dem Neolithikum, nach dieser Sesshaftwerdung, der Ausbreitung der frühen Farmer, dass dann immer noch neue Populationen eingewandert sind und das sich dann immer noch neue Vermischungen ergeben haben."
Was die kleineren Wanderungsbewegungen betrifft, ist die vorhistorische Besiedlungsgeschichte Mitteleuropas vermutlich hoch komplex. Die paläogenetischen Erkenntnisse zum Helicobacter pylori legen das nahe. Denn wodurch genau und warum sich der europäische Heliobacter-Stamm erst so spät gebildet hat, ist bis heute unklar. Fossile Knochen und Mumien bekommen so für die Archäologie eine ganz neue Bedeutung. Vor allem für die kulturwissenschaftliche Forschung zur europäischen Besiedlungsgeschichte werden sie künftig hochinteressant sein, konstatiert Volker Mosbrugger.
"Ich nutze jetzt mehr und mehr naturwissenschaftliche Methoden, um kulturwissenschaftliche Fragen zu beantworten. Das heißt, die Grenze zwischen den Naturwissenschaften und den Kulturwissenschaften verschwimmt. Man stellt eben fest, dass viele der kulturwissenschaft-lichen Fragen mit naturwissenschaftlichen Methoden geklärt werden können. Also, in der Kombination entsteht ein ungeheurer Mehrwert, den man so vorher nicht gesehen hat."