Entdeckerin des aufrechten Gangs
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Madelaine Böhme schreibt die Vorgeschichte der Menschwerdung neu. Nicht in Afrika, sondern in Europa lernten unsere äffischen Vorfahren den aufrechten Gang, meint die Paläontologin. Ihr Zeuge heißt Udo, ist fast 12 Millionen Jahre alt und Ur-Bayer.
Mit wissenschaftlichem Namen heißt er Danuvius guggenmosi und war ein männlicher Menschenaffe, der vor 11,6 Millionen Jahren durchs vorzeitliche Allgäu streifte. Und das auf zwei Beinen - das liest seine Entdeckerin Madelaine Böhme aus den versteinerten Knochenresten des Urviechs. Als die Tübinger Paläontologin 2016 in einer Tongrube Überreste von Danuvius fand, lief im Radio Musik von Udo Lindenberg, der just an diesem Tag 70 geworden war. Und so hatte das Fossil seinen Spitznamen weg: Udo.
Udo erschüttert die herrschende Lehre
Durch weitere Funde wurde klar: Udo pflegte den aufrechten Gang, mit weitreichenden Folgen. "Von den Ohrenspitzen bis zur Fußspitze hat sich bei uns durch den aufrechten Gang nahezu alles verändert", sagt Böhme.
Ihr Fund wiederum hat die Wissenschaft verändert, nämlich die Lehrmeinung erschüttert, dass die Evolution vom Affen zum Menschen in Afrika stattfand. Für Madelaine Böhme zeigt Udo nun, dass aufrecht gehende Menschenaffen sich zuerst in Eurasien entwickelten und "später nach Afrika migriert sind". Geschichte mal anders herum.
Und da Madelaine Böhme nicht nur Paläontologin ist, also vorzeitliche Lebewesen erforscht, sondern sich auch mit Paläoklimatologie befasst, interessiert sie sich für die Umwelt ihres Danuvius guggenmosi. Der lebte inmitten einer reichen Tierwelt, auch Elefanten und ein früher Vorfahre des Pandabären bevölkerten das urzeitliche Allgäu. Artgenossen von Danuvius gab es überall im Voralpenland, da ist sich Madelaine Böhme sicher: "Gebt mir eine Grube in München und ich grabe euch dort den Danuvius aus."
"In jedem von uns steckt ein Entdecker"
Manchmal reicht Graben aber nicht, dann ist Detektivarbeit nötig. Jahrelang suchte Böhme nach einem verschollenen Unterkiefer einer anderen vormenschlichen Art, den ein deutscher Besatzungssoldat 1944 in Athen gefunden hatte. Fündig wurde sie schließlich in einem Safe, wo das wertvolle Fossil in einer Tupper-Dose lagerte. Eigentlich ist sie immer im Einsatz, auch bei Urlaubsreisen sucht sie überall nach Spuren der Vorzeit. "In jedem von uns steckt ein kleiner Entdecker und Fragender."
Das fing bei Madelaine Böhme schon früh an. Geboren wurde sie 1967 in Plovdiv in Bulgarien, der "am längsten permanent bewohnte Stadt Europas" mit 9000-jähriger Geschichte, sagt sie nicht ohne Stolz. Man komme dort "an Archäologie einfach nicht vorbei", und so war sie schon als Sechsjährige erstmals bei einer Ausgrabung dabei, mit zwölf buddelte sie im Abraum archäologischer Grabungen und fand dort Gegenstände aus der Bronzezeit.
Ihr Vater weckte ihr Interesse für Naturwissenschaften und speziell für die Evolution, erzählte ihr auf kindgerechte Weise von der Ursuppe, aus der das Leben entstanden ist.
Die bulgarisch-armenische Mutter starb bei der Geburt von Madelaine, ihr deutscher Vater kehrte mit ihr in seine Heimat in der DDR zurück, als Alleinerziehender. Das war schwer, erinnert sich Böhme: "In den 60er Jahren waren alleinerziehende Männer nicht etwa eine Minderheit, es gab sie de facto nicht." Und so musste ihr Vater erst einmal durchsetzen, dass er als Mann den in der DDR üblichen arbeitsfreien Haushaltstag für Frauen auch in Anspruch nehmen durfte.
Paläontologin dank der Wende
Madelaine Böhme wuchs zweisprachig und bikulturell auf, verbrachte die Ferien bei der bulgarischen Familie, studierte an der Bergakademie Freiberg Geologie. Doch in ihrem jetzigen Fach Paläontologie gab es in der DDR praktisch keine Berufsperspektiven. "Ohne die politische Wende in Ostdeutschland wäre ich keine Paläontologin geworden", ist sie sicher. Wahrscheinlich wäre sie als Geologin bei der Braunkohle gelandet.
Heute beschäftigt sich Madelaine Böhme als Paläoklimatologin mit der Entwicklung des Klimas in der Erdgeschichte, ihre Archive dafür liegen im Gestein. Um die richtigen zu finden, durchquert sie auch mal mit Beduinen wochenlang eine Wüste, legt hunderte von Kilometern zu Fuß zurück: "Weil wir nur über diese körperliche Erfahrung zu Gewissheiten kommen können."
Bei der Diskussion über die Restitution von Fundobjekten an die Länder, aus denen sie stammen, hat Böhme eine zurückhaltende Position: "Diese Stücke müssen der Wissenschaft zugänglich sein, und zwar jedem Wissenschaftler auf dieser Welt, und sie gehören der ganzen Welt. Ich bin nicht der Meinung, dass man etwas wieder an seinen Ursprungsort zurückbringen muss." Zumal der berechtigte Stolz von Menschen über bedeutende Funde in ihrer Heimat auch zu "nationalem Dünkel" führen könne.
Der Klimawandel ist nicht das Schlimmste
Als Paläoklimatologin schaut Madelaine Böhme natürlich auch auf den aktuellen Klimawandel. Der sei nicht nur menschengemacht, hinzu kämen auch natürliche Vorgänge, sagt sie. Dass die öffentliche Aufmerksamkeit sich so sehr auf den Klimawandel konzentriere, sei eine "völlige Verzerrung und Simplifizierung der schlimmen Situation, in der die Erde sich befindet". Mehr Angst als der Klimawandel machten ihr die Zerstörung der Ökosysteme, die Verringerung der Bodenfruchtbarkeit und die Überbevölkerung.
Zudem beobachtet Madelaine Böhme, dass die Wissenschaft immer mehr ideologisiert werde. Politiker sollten sich nicht nur auf wissenschaftliche Empfehlungen verlassen, sondern "ein viel größeres Spektrum von Problemen im Blick haben". Sie weiß, dass sie mit solchen Meinungen – oder ihren Erkenntnissen zur menschlichen Evolution – bisweilen aneckt, aber das mache Wissenschaft ja auch aus: "Wissenschaft ist eher Fragen stellen, keine Antworten geben."
(pag)