Ein Stück Identität in Ramallah
Im Westjordanland ist ein palästinensisches Nationalmuseum eröffnet worden. Das Gebäude ist spektakulär, aber noch sind die Ausstellungsräume leer. Und das ist kein Zufall: Viele offene Fragen verbinden sich mit dem Projekt.
Die etwas zerknitterte schwarz-weiß-Fotografie mit dem kaum sichtbaren Bleistiftvermerk ‚1928’ zeigt eine gut bürgerliche Familie im Stil der europäischen zwanziger Jahre: der Großvater mit weißen Haaren, gepflegtem Schnurrbart und runder Nickelbrille – umgeben von seinen Töchtern, Söhnen und Enkeln. Die Männer in gestärkten, weißen Hemden, dunklen Anzügen und Krawatten; die Frauen in modernen, lässig-eleganten Kleidern, leicht glänzenden Feinstrumpfhosen und zarten Riemchenschuhen. Einzig der von zwei Palmenwedeln flankierte orientalische Wandteppich, vor dem sich alle aufgestellt haben, weist darauf hin, dass dieses Foto nicht in Paris, Berlin oder Wien geschossen wurde.
Die Aufnahme ist 1928 in dem kleinen arabischen Hafenort Jaffa entstanden und zeigt die Mitglieder der palästinensischen Familie Sarouf bei ihrem alljährlichen, traditionellen Familientreffen. Die offenen, selbstbewussten Blicke der Abgebildeten machen neugierig: welche Stellung in der palästinensischen Gesellschaft ihrer Zeit haben sie wohl eingenommen, welche Berufe ausgeübt? Waren sie Ärzte, Professoren, Lehrer? Wie lange wohnte die Familie schon in Jaffa? Und wo leben ihre Nachkommen heute?
Auch wenn sich nicht alle Fragen im Detail beantworten lassen, ist das Bild mehr als eine private Erinnerung; es offenbart einen bürgerlich-kultivierten, westlich orientierten Lebensstil, der dem Klischee widerspricht, die Palästinenser seien damals vor allem Bauern und Dörfler gewesen. Und weil diese Facette der palästinensischen Geschichte nicht nur im Westen, sondern auch innerhalb der palästinischen Gesellschaft heute oft genug nicht wahrgenommen wird, gehört diese Fotografie in das neue palästinensische Museum, dessen Ziele die Menschenrechtsaktivistin Reem Abdul Hadi so formuliert:
"In diesem Museum wird sich alles um die Identität der Palästinenser drehen. Inzwischen haben wir die vierte und fünfte Generation, die nicht weiß, was Heimat wirklich bedeutet und für die der Begriff nur eine Idee ist. Es ist Zeit, dass die Geschichte der Palästinenser von den Palästinensern selbst erzählt wird – und nicht von irgendjemand anderem."
Der Weg von Ramallah, dem kulturellen und politischen Zentrum des Westjordanlandes, zu dem neuen palästinensischen Museum nahe der Universitätsstadt Birzeit ist kurz – nur knapp 15 Kilometer, die der Taxifahrer dank seines abenteuerlichen Tempos schnell hinter sich bringt. Am Ende aber muss er sich durchfragen; von dem neuen Museum hat er noch nie gehört – er hat es auch noch nie gesehen, denn trotz seiner exponierten Lage gleich neben dem Campus der bekannten Birzeit Universität liegt es fast unauffällig eingebettet in die umgebende Landschaft aus abwechselnd sanften und zackigen, steinig-grünen Hügeln.
An klaren Tagen kann man das Meer sehen
Bei der Ankunft erwartet uns Reem Abdul Hadi, die zusammen mit ihrer Kollegin Natalie Al Masri für die neue Institution arbeitet. Gemeinsam gehen wir auf die weitläufige Terrasse, die in Kürze von dem Museumscafé in Betrieb genommen werden soll. Der Blick schweift über einen weiten, hohen Himmel, endlose Hügel, moderne, z.T. nur halbfertige Neubauten und den stufenförmig angelegten Garten.
"Das Besondere an diesem Ort ist der Blick. An klaren Tagen kann man das Meer sehen. Und dann die Terrassen... - die sind typisch für diese Landschaft. Die Komposition des Gebäudes und des Gartens wurde von der Umgebung beeinflusst. Die Idee dieser Anlage ist, die Topographie so zu lassen, wie sie ist und möglichst wenig daran zu verändern."
Die von Terrassen eingefassten und von großen Felsblöcken gesäumten Gärten verströmen selbst an einem kühlen, windigen Tag wie diesem einen betörenden Duft nach Rosmarin, Lavendel, Salbei, Thymian und Oregano. Entworfen wurden sie von der Gartenarchitektin Lara Zureikat. Die Jordanierin hat sich bei der Gartengestaltung ganz auf die heimische Pflanzenwelt konzentriert:
"Die Inspiration für den Garten kam von der agrarisch geprägten Umgebung. Im Gebiet des heutigen Palästinas haben die Leute schon vor Jahrtausenden Landwirtschaft betrieben. (...) Deswegen finden sich in den unteren Abschnitten des Gartens auch Nutzpflanzen wie Weizen und Kichererbsen, die wichtige Bestandteile traditioneller Speisen wie Taboulé und Humus sind. Dann gibt es Oliven-, Granatapfel-, Feigen-, Aprikosen- und Mandelbäume, deren Früchte seit Jahrhunderten zu einheimischen Produkten verarbeitet werden."
Von den duftenden Gärten aus hat man einen freien Blick auf das imposante Gebäude, das sich farblich gut in die Umgebung einfügt. Ein mächtiger rautenförmiger Mittelteil wird von zwei dreieckigen Gebäudeeinheiten flankiert. Der helle Kalkstein, aus dem der asymmetrische Komplex besteht, kommt aus der Gegend um Bethlehem. Das flache Gebäude scheint tief in der Erde verankert zu sein; seine Skyline dagegen ist gezackt und erinnert an die umliegende Hügellandschaft. Ein Blickfang – zugleich beeindruckend und unaufdringlich.
Unschwer ist zu erkennen, dass Gebäude und Garten, Außen und Innen als zusammenhängendes Ganzes geplant und realisiert worden sind. Finanziert wurde dieses prestigeträchtige Projekt zum allergrößten Teil von der ‚Tawoon Welfare Association’, einer großen arabischen Stiftung für Kultur und Bildung.
Durch die großen, dreieckig angeordneten und von schwarzen Stahlrahmen einfassten Fensterfronten treten wir ins Innere des fast fertigen Museums.
Reem Abdul Hadi: "Das hier ist die Haupthalle – komplett nach den neuesten internationalen Sicherheitsstandards gebaut. Auch die klimatischen Besonderheiten der Gegend sind bei den Planungen mit einbezogen worden."
Das Innere des Museums überrascht durch seine überschaubaren Dimensionen. Lange Wege müssen hier nicht zurückgelegt werden, die Wirkung ist fast intim: die asymmetrische Ausstellungshalle umfasst 500 qm; Flure und Treppen strecken sich zwar luftig in die Höhe, aber sie sind schmal und laufen an vielen Stellen spitzwinkelig aufeinander zu.
Das Museum an sich ist ein Statement
Durchbrochene Sichtachsen verbinden die kleinteilig angeordneten Raumabschnitte und von fast überall geben große Fensterfronten den Blick auf den Garten und die Umgebung frei. Reem Abdul Hadi:
"Das palästinensische Museum an sich ist bereits ein politisches Statement. Es umfasst nicht nur das Gebäude, in dem wir uns gerade befinden, sondern muss darüber hinaus gedacht werden. Normalerweise kann ein Volk, dessen Kultur in einem Museum ausgestellt wird, dieses Museum auch jederzeit besuchen. Im Falle der Palästinenser ist das anders. Der Krieg von 1948, die Nakba, d.h. die palästinensische Katastrophe durch die Vertreibung und Enteignung sowie die Besatzung des Landes durch die Israelis haben zu einer vollständigen Zerstreuung der Bevölkerung geführt. 50% der Palästinenser leben nicht in Palästina, sondern im Exil, die meisten als Flüchtlinge. Deswegen haben wir darüber nachgedacht, wie dieses Museum konzipiert werden muss, wenn es als politisches Statement die ganze Nation und seine Geschichte umfassen soll."
Dennoch, das fügt Reem Abdul Hadi noch an, soll das palästinensische Museum kein Nationalmuseum werden. Hier werden keine Kunstschätze der Vergangenheit gezeigt und es wird keine Dauerausstellungen geben. In den ersten Jahren – so die derzeitigen Planungen – wird die Aufmerksamkeit der Museumsmacher auf der eigenen Recherche liegen. Eines der ersten Projekte, mit dem die Mitarbeiter des Museums schon vor über einem Jahr begonnen haben, heißt ‚Familienalbum’. Für das sammeln sie Hunderte von persönlichen Dokumenten, die etwas über das alltägliche Leben der Palästinenser in den letzten 150 Jahren erzählen: Fotografien wie die der bürgerlichen Familie Sarouf aus den zwanziger Jahren, aber auch von muslimischen und christlichen Festen; von Picknicks, die in den vierziger Jahren in den Hügeln des Westjordanlandes abgehalten wurden; von den ersten Autos, die von palästinensischen Bauern angestaunt werden und von jungen Frauen aus den siebziger und achtziger Jahren, von denen einige Kopftuch und sehr viele Jeans und ärmellose T-Shirts tragen.
Reem Abdul Hadi: "Für das Familienalbum-Projekt sind wir direkt zu den Leuten hingegangen und haben lange Interviews mit ihnen geführt. Als wir zusammen mit ihnen ihre alten Fotos angeschaut haben, ist die Vergangenheit wieder richtig aufgelebt. Jedes Foto erzählt von historischen Details – den alltäglichen Ritualen, der Kleidung und den Festen, dem Essen und auch über die Unterschiede zwischen den Generationen. Dabei haben wir vor allem ganz normale Leute befragt, nicht wichtige Repräsentanten oder Politiker, die in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz oben stehen, sondern einfache Menschen – aus Palästina, der Diaspora oder auch den Flüchtlingslagern. Das macht das Projekt für die Leute so ansprechend: dass ihre Stimmen gehört werden und all’ ihre schönen, aber auch traurigen Erinnerungen einen Wert haben. Das alles wird nicht archiviert, um es wegzuschließen, sondern um es am Leben zu erhalten und für weitere Recherchen zur Verfügung zu stellen."
Nach und nach soll aus der Summe der Einzelschicksale ein vielschichtiges, heterogenes Bild der palästinensischen Gesellschaft entstehen – ein Bild, das nicht frei von Widersprüchen und Ambivalenzen ist, sondern, im Gegenteil, viele unterschiedliche Erlebnisse, Lebensformen, Haltungen und kulturelle Einflüsse widerspiegelt - aber auch zeigen soll:
Natalie Al Masri: "Wir sind hier! Wir sind seit langer Zeit hier und wir werden auch hier bleiben! Mit dem Familienalbum-Projekt wollen wir vor allem zeigen: Wir sind nicht erst vor einigen Jahrzehnten gekommen, sondern wir sind die ursprünglichen Bewohner dieses Landes!"
Ein Netzwerk für die vielen Communities
Die Zerstreuung als Realität des palästinensischen Volkes findet ganz direkten Eingang in die Konzeption der neuen Institution: das mit so viel monetärem und intellektuellem Aufwand konzipierte und konstruierte Gebäude in Birzeit ist zwar das zentrale Mutterschiff des Museumsprojekts, aber nur einer von vielen Orten, an dem Ausstellungen gezeigt werden sollen.
Als Flaggschiff der ‚Tawoon Welfare Association’, der arabischen Stiftung für Kultur und Bildung, wurde bereits vor fast zwanzig Jahren mit den Überlegungen für das Museumsprojekt begonnen. Der in Oxford ausgebildete, palästinensisch-kuwaitische Mäzen Omar Al Qattan wurde als Vorsitzender des Museumskomitees mit der Konzeption und Organisation betraut:
"Die erste Herausforderung war: wo soll das Museum gebaut werden? Natürlich waren wir alle für Jerusalem, aber zugleich war uns klar, dass das wahrscheinlich unmöglich sein würde, solange die Israelis ganz Jerusalem besetzen. Und es war auch klar, dass es für viele Palästinenser immer schwierig sein würde, das Museum zu erreichen – egal, wo wir es bauen würden. Also entwickelten wir die Idee eines Zentrums mit einer Reihe von Partnerfilialen an jenen Orten, an denen es bedeutende palästinensische Communities gibt, wie z.B. Haifa, Jerusalem natürlich, Gaza, Libanon und Jordanien und sogar in Santiago de Chile, wo es eine große palästinensische Gemeinde gibt."
Eher Netzwerk als klassisches Museum, eher Kommunikationsplattform als repräsentative Kunstinstitution, eher ein Ort der Gegenwart und Zukunft als einer der Vergangenheit – so formulieren die Museumsmacher um Omar Al Qattan die heutige Position des neuen palästinensischen Museums. Die ursprüngliche Idee Ende der neunziger Jahre war allerdings, eine Gedenkstätte für die Nakba, die palästinensische Katastrophe von 1948, zu bauen.
Omar Al Qattan erinnert sich an die Diskussionen zwischen den älteren Mitgliedern der Stiftung und den Jüngeren, die als zweite Generation die Vertreibungen und Enteignungen nicht selbst miterlebt hatten.
"Wir protestierten gegen die Idee einer Gedenkstätte und argumentierten, dass die Nakba natürlich ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte des palästinensischen Volkes gewesen sei, dass aber ein potentielles Museum auch die Gegenwart feiern sollte – und uns vor allem helfen, Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Außerdem wollten wir unter keinen Umständen einen Bezug herstellen zwischen der Nakba und dem Holocaust. Die Palästinenser haben absolut nichts mit dem Holocaust zu tun und natürlich ist es unmöglich, die Leiden zweier Völker miteinander zu vergleichen oder sie gar miteinander konkurrieren zu lassen. Für uns sind beide Tragödien getrennt voneinander zu sehen und sollen als solche auch respektiert werden. Den zynischen Missbrauch des Leidens als Rechtfertigung für die eigenen Taten, wie es in Israel z.T. betrieben wird, akzeptieren wir nicht. Im Gegenteil – wir wollen unbedingt vermeiden, in dieselbe Falle zu geraten."
Im Laufe einer fast zehnjährigen Findungsphase hat sich die zweite Generation durchgesetzt. Das neue palästinensische Museum stellt – ganz am Puls der Zeit – Rechercheprozesse, Debattenkultur und Partizipation der Bevölkerung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Vor Ort in Birzeit wird die unmittelbare Nähe zur Universität ein großer Vorteil sein; Studierende und Lehrende sollen in viele der geplanten Aktivitäten einbezogen werden. Mit der Anbindung an starke Partnerinstitutionen inner- und außerhalb des Nahen Ostens sichert sich das Museum dagegen nicht nur internationale Präsenz, sondern auch eine erweiterte Erreichbarkeit. Auch den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der Palästinenser soll Rechnung getragen werden, betont Omar Al Qattan.
"Wir sind inzwischen nicht nur ein verstreutes Volk, sondern auch eine sehr diverse Kultur. Die Palästinenser, die in Chile leben, sind ja ganz anders als die aus der Westbank oder im Libanon. (...) Heute gibt es unter den Palästinensern Menschen, die nicht religiös sind, die nicht arabisch sprechen oder die überhaupt keine Verbindung mehr zu ihren Wurzeln haben – dennoch gehören alle diese Menschen zu uns."
Zeitgleich mit der Einweihung des Gebäudes in Birzeit wird die erste Satelliten-Ausstellung in Beirut eröffnet und zeigt palästinensische Stickerei. Ausstellungskuratorin Rachel Dedman interessiert an der traditionellen Handwerkskunst palästinensischer Frauen nicht nur deren Ausdrucks- und Variantenreichtum, sondern auch ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung.
Wie einfache Frauen sich politisierten
Ob Kreuz-, Perl-, Stern- oder Schlingstich, ob Kleider, Umhänge, Kopfbedeckungen oder Tücher – die Vielfalt an Farben, Formen und Mustern erscheint unendlich. Bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte jedes Dorf in Palästina eigene Formen der Stickerei. Arabische Frauen, die sich auf den Marktplätzen in Jerusalem, Ramallah oder Bethlehem trafen, konnten gegenseitig sofort an der Kleidung erkennen, aus welchem Dorf sie kamen.
Als 1975 der Hauptsitz der PLO nach Beirut verlegt wurde und einige Jahre später die erste Intifada begann, politisierten sich auch die einfachen Frauen aus den arabischen Dörfern des heutigen Westjordanlandes. Ausstellungskuratorin Rachel Dedman:
"Besonders die Frauen aus den Dörfern rund um Hebron und dem Qalandiya-Flüchtlingslager waren an vorderster Front im Widerstand aktiv. Zu dieser Zeit z.B. haben die Israelis jede palästinensische Fahne, die gehisst wurde, sofort konfisziert. Also begannen die Frauen, nationale Motive auf die Kleidung zu sticken. Entweder zeigten sie traditionelle Muster in den palästinensischen Farben grün, weiß, rot und schwarz. Oder sie stickten, statt Vogel- und Blumenmotive, den Felsendom, die palästinensische Flagge oder die Silhouette eines vereinten Palästinas auf die Dekolletés. Aus Protest haben die Frauen diese Kleidung jeden Tag getragen. Ihre Körper wurden damit Ansichten eines aktiven politischen Widerstandes! In den Texten aus dieser Zeit kann man lesen, dass die Näherinnen ganz explizit als politische Kämpferinnen wahrgenommen wurden, die durch ihr Handwerk einen Beitrag zum Widerstand leisteten – und darüber hinaus an der wirtschaftlichen Zukunft des Landes arbeiteten."
Über die sogenannten ‚Intifada-Kleider’ und die Geschichte der palästinensischen Stickerei hat die Britin Rachel Dedman im Auftrag des palästinensischen Museums zwei Jahre recherchiert. Das Westjordanland, Gaza, den Libanon und Jordanien hat sie dafür bereist und mit unzähligen Frauen über ihr Handwerk, ihre persönlichen Erlebnisse und ihren politischen Einsatz gesprochen. Videoaufzeichnungen dieser Interviews begleiten die Ausstellung und öffnen den Blick auf den persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Kontext der ausgestellten Stücke, die von einfachen Patchwork-Alltagskleidern bis zu kostbaren Festtagsgewändern reichen.
Die ‚Oral History’, die mündlich weitergegebene Geschichte in Form von Geschichten, ist ein weiteres zentrales Element in der Konzeption des palästinensischen Museums. Unabhängig davon, welche politische oder religiöse Haltung man selbst einnähme, keine Seite solle zum Schweigen verurteilt werden, betont Menschenrechtsaktivistin Reem Abdul Hadi:
"Die Frage der politischen Positionierung ist eine Herausforderung für uns. Selbst unter uns Museumsmachern herrschen ganz unterschiedliche politische Ansichten, genau wie in der Bevölkerung. Aber es soll nicht nur eine Seite oder eine Sicht gezeigt werden. Die Grundidee des Museums ist, dass alle Stimmen gehört werden, um den jeweiligen politischen oder ökonomischen Hintergrund zu verstehen. Durch die unterschiedlichen Lebensrealitäten gibt es unter den Palästinensern große Konflikte: Erziehung, Bildung, Gesundheitswesen, Frauenrechte, Bewegungs- und Redefreiheit – das sind Themen, die innerhalb unserer Gesellschaft kritisch diskutiert werden. Das palästinensische Museum will diese Debatten befördern."
So unterschiedlich die Positionen, Erfahrungen und religiösen oder nicht-religiösen Lebensweisen der Palästinenser auch sind – sie alle sind durch eine politische Realität miteinander verbunden: die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Der Mikrokosmos des neuen Museums bildet diese omnipräsente Tatsache ab: denn auch, wenn das Repräsentationsprojekt im Westjordanland relativ ungehindert realisiert werden konnte, sehen sich doch Mitarbeiter, assoziierte Kollegen, Journalisten und natürlich potentielle Besucher mit der Besatzung auf unterschiedliche Weise konfrontiert. Seien es Einschränkungen der Bewegungsfreiheit innerhalb der palästinensischen Gebiete, nicht erteilte Ein- oder Ausreisegenehmigungen oder bürokratische und militärische Kontrollen – die Präsenz der Besatzungsmacht Israel ist überall deutlich zu spüren.
"Die pure Existenz der Nicht-Juden wird bedroht"
Ein Besuch bei dem Kunstexperten Jack Persekian gibt Einblicke in die derzeit besonders heikle Lage der Palästinenser in Ost-Jerusalem. Aus Gründen, über die er sich nicht näher auslassen will, ist Jack Persekian als Direktor des Museums zwar ausgestiegen, bleibt der neuen Institution aber durch gemeinsame Ausstellungsprojekte verbunden. Als Kurator ist er international sehr gefragt. Er hat die in der Altstadt Jerusalems ansässige Kunststiftung Al-Ma’mal gegründet sowie die palästinensische Kunstbiennale ‚Qalandiya International’ ins Leben gerufen.
An einem stillen, sonnigen Freitagnachmittag sitzen wir zusammen auf dem flachen Dach der Al-Ma’mal-Stiftung, direkt am Neuen Tor in der Altstadt Jerusalems. Mit schwarzem Humor erzählt Jack Persekian von den Schwierigkeiten, als Palästinenser in Ost-Jerusalem zu leben und zu arbeiten. Würde er, wie viele andere Kollegen, nach einem neuen Job suchen und auch nur für ein halbes Jahr eines der gut bezahlten Kuratoren-Angebote aus Brüssel, Berlin oder London annehmen oder aus finanziellen Gründen seinen Wohnsitz in einen der wachsenden Vororte Jerusalems verlegen – er würde sofort die Aufenthaltsgenehmigung für seine Heimat- und Geburtsstadt verlieren. Und – die Härte der israelischen Behörden geht noch weiter – er würde sogar das Haus verlieren, in dem seine Familie seit Generationen lebt:
"Als Palästinenser hier in Jerusalem zu leben ist an und für sich schon ein politisches Statement. Dein Leben hier wird ständig bedroht: von dem Land, in dem du lebst, von der israelischen Regierung, die andauernd neue Gesetze und Regularien schafft und die über den öffentlichen Raum nur zu einem einzigen Zweck bestimmt: so viele nicht-jüdische Bewohner aus Ost-Jerusalem rauszuschmeißen wie möglich und Jerusalem zu einem exklusiv- üdischen Ort zu machen. Und das gilt im Grunde für ganz Israel. Unsere pure Existenz als ‚Nicht-Juden’ – so wie ich mich jetzt mal bezeichnen würde, wird ständig bedroht, beobachtet, kontrolliert und klassifiziert – seien es unsere Pässe, seien es die Orte, an denen wir leben oder die Dienstleistungen, die wir in Anspruch nehmen dürfen."
Aus diesen Gründen würden junge Künstler und Intellektuelle in Scharen das Land verlassen, fügt Jack Persekian noch an, oder sich politisch immer stärker radikalisieren und das auch in ihrer Kunst auch zum Ausdruck bringen. Doch nicht trotz, sondern gerade wegen all’ dieser Schwierigkeiten plädiert auch er dafür, an einem differenzierten Bild der palästinensischen Kultur und Gesellschaft zu arbeiten.
"Wenn man immer nur über die Frage der Grenzen spricht, bleibt man in einer bipolaren Argumentation stecken und ist nicht fähig, das ganze Bild zu sehen. Die Geschichte und Kultur Palästinas liegen jenseits rein geographischer Fragen. (...) Man muss über Grenzen und Kulturen hinausdenken, (...) um die Wandlungen und Veränderungen, die die palästinensische Kultur durchlaufen hat, genau wahrzunehmen."
Trotz der über Jahre erfahrenen Gängelungen und Schikanen lässt Jack Persekian, wie auch andere palästinensische Künstler und Intellektuelle, seine Kontakte zu linken israelischen Freunden und Kollegen nicht abbrechen. Auch die Museumsmacher trennen klar zwischen einzelnen israelischen Bürgern und Israel als Staat. Auf die Frage nach potentiell interessierten Museumsbesuchern aus Israel antwortet der Mäzen Omar Al Qattan:
"Wir sind auf jeden Fall daran interessiert, auch Israelis mit unseren Programmen zu erreichen. Unglücklicherweise verbietet es die israelische Armee ihren Bürgern, das sogenannte ‚Gebiet A’, also den größten Teil des Westjordanlandes, zu betreten. Aus israelischer Sicht wäre es also illegal, wenn Israelis unser Museum besuchen würden. Ich bin überzeugt, dass einzelne israelische Bürger, die offen sind und sich mit der palästinensischen Geschichte auseinander setzen wollen, mehr als willkommen sind. Anders ist es mit staatlichen oder zionistischen Institutionen. Mit denen werden wir auf keinen Fall zusammenarbeiten, denn wir sind ein Museum in einem besetzten Land und der israelische Staat ist die Besatzungsmacht!"
Wie alle Palästinenser sehen sind die Museumsmacher permanent der Entscheidungsgewalt der israelischen Behörden ausgesetzt, welcher der über die ganze Welt verstreuten Mitarbeiter ein- oder ausreisen darf oder welche potentiellen Ausstellungsstücke irgendwann einmal ein- oder ausgeführt werden dürfen. Zunehmend Sorgen bereiten Omar Al Qattan auch die gewaltbereiten jüdischen Siedler in der Nähe des Museums, die – seiner Beobachtung nach – die israelische Armee immer weniger unter Kontrolle zu haben scheint.
Doch für den Augenblick steht alles im Zeichen der feierlichen Eröffnung des Museumsbaus in Birzeit.
Nach einigen Wechseln in der Führungsriege des Museums ist inzwischen auch ein neuer Direktor präsentiert worden: Mahmoud Hawari, der bisherige Chefkurator der British Museums in London. Omar Al Qattan ist stolz – und bringt die symbolische, aber auch ganz konkrete Dimension des Museumsprojekts auf den Punkt.
"Natürlich spiegelt sich in diesem Museum die Realität des palästinensischen Volkes, das über die ganze Welt verstreut ist. Aber zugleich ist es auch eine Möglichkeit, diese Realität zu überwinden. Wir setzen auf Spitzenklasse und moderne Technologie – einerseits, um die Zerstreuung unserer Landsleute zu überwinden und andererseits um zu zeigen, dass es einer Gruppe von Palästinensern gelingen kann, sich zusammenzutun und ein Museum zu schaffen, das zu den führenden Institutionen in seinem Bereich gehören wird! Das ist extrem wichtig und symbolisch und ein Grund, sehr stolz zu sein – hoffentlich nicht nur für uns, sondern auch für den Rest Palästinas."