Palliativmediziner unterstützt Verbot gewerblicher Sterbehilfe
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Verbot gewerbsmäßiger Sterbehilfe geht in die richtige Richtung, meint der Palliativmediziner Michael de Ridder. Die Entscheidung gehöre "in den Intimraum von Arzt und Patient" und schließe Kommerzialität aus.
Deutschlandradio Kultur: Heute reden wir Tacheles über ein Tabuthema, dem sich gleichwohl niemand entziehen kann: Wir reden über das Sterben. Unser Studiogast hat viele hundert Menschen sterben sehen. Als Arzt hat er um ihr Leben gekämpft und ist dabei an die Grenzen seines Berufs gekommen. – Lebensverlängerung um jeden Preis oder würdevolles Sterben? Mit dieser Frage setzt sich Dr. Michael de Ridder seit Jahren auch öffentlich auseinander, etwa in seinem Buch "Wie wollen wir sterben?" Guten Tag, Herr de Ridder.
Michael de Ridder: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr de Ridder, zu den vielen Berufsbezeichnungen, die Ihnen zugeschrieben werden – Intensivmediziner und Notfallarzt, Palliativmediziner und Autor -, zählt auch die Bezeichnung: Heimkritiker. Und nun schicken Sie sich an, in Berlin ein Hospiz, also eine Einrichtung zur Sterbebegleitung zu eröffnen. Welches Konzept verfolgen Sie mit dem Vivantes Hospiz in Berlin-Tempelhof?
Michael de Ridder: Das Konzept des Hospizes ist ja eigentlich eines, was nicht aus dem Gesundheitswesen heraus entwickelt worden ist, weil, das Hospiz ist eine Einrichtung bürgerschaftlichen Engagements. Es hat überhaupt nichts mit Medizin zu tun. Es kommt aus England. Der Hospiz-Gedanke, der Begriff Hospiz ist natürlich wesentlich älter.
Früher waren Hospize Erholungs- und Behandlungsstätten für Pilger. Aber der Hospiz-Gedanke, so wie er heute existiert, existiert erst seit den 60er Jahren etwa, kommt aus England zu uns. Und er vereint Menschen, Bürger, die sich um das Lebensende von Patienten kümmern und deren Lebensende angesichts einer Krankenhausmedizin, die vielen Fragen am Lebensende nicht gerecht wird, nicht gerecht wurde und auch nicht gerecht werden kann aufgrund der Struktur des Krankenhauses, sich darum kümmert, dass Menschen ein friedliches und würdevolles Sterben ermöglicht wird.
Deutschlandradio Kultur: Wenn das von Ihnen geleitete Hospiz in vier Wochen denn eröffnet sein wird, dann haben wir in der Dreieinhalbmillionenstadt Berlin insgesamt knapp 200 Plätze. Ist das ausreichend?
Michael de Ridder: Die Indikation für einen Hospizplatz, wie man sagt, also, wer hat ein Recht oder wer ist sinnvoll in einem Hospiz aufgehoben, dieser Gedanke oder die Überlegungen dazu sind zweifellos im Fluss. Klassischerweise waren die onkologischen, also Tumorpatienten im Endstadium ihrer Krankheit, wie auch HIV-, also Aidskranke die klassischen Patienten.
Aber wir wissen heute, dass auch viele andere Patienten mit anderen Erkrankungen, also etwa Patienten mit endstelliger Herzerkrankung, mit Lungenerkrankung, mit neurologischen Erkrankungen, denken Sie an ALS, also, all die Patienten, die heute auch wesentlich länger aufgrund der technologischen Entwicklung in der Medizin – zum Teil – und deswegen auch der pharmakologischen Entwicklung länger überleben, dass die natürlich auch in einen Prozess am Lebensende hineingehen, wo sie eben nicht nur technische, klassische pflegerische Versorgung brauchen, sondern in einem ungewöhnlichen Maße auch Zuwendung in ihrer schweren, terminalen Erkrankung.
Das kann eben häufig nicht im Krankenhaus geleistet werden, obwohl wir hier ja die Palliativstationen haben, die aber den Schwerpunkt der Medizin natürlich haben und nicht den Schwerpunkt, den das Hospiz hat. Nämlich im Zentrum der hospizlichen Versorgung steht der Gedanke der Kommunikation und der Zuwendung. Die Engländer würden sagen, und das ist mir ein sehr sympathischer Gedanke: Low tech, high touch.
Also: So viel Medizin und Pflege, wie nötig, aber so viel Zuwendung und Kommunikation wie möglich, das ist das Prinzip. Und das zu leben, wird die große Herausforderung des Hospizes sein. Natürlich wird die Versorgung da stattfinden auf der Basis bester ärztlicher und pflegerischer Versorgung. Die ist sichergestellt. Aber das Hauptanliegen der im Hospiz arbeitenden Pflegekräfte und ehrenamtlichen Kräfte sind Zuwendung und Kommunikation, Spiritualität, all das, was sich sozusagen um die Fragen herumgruppiert, die ein Mensch am Lebensende hat, die er mit sich herumträgt. Und die aufzulösen, die zum Gegenstand zu machen, das ist die eigentliche Aufgabe. Und dem wollen wir gut entsprechen.
Deutschlandradio Kultur: Üblicherweise stirbt der Mensch in den eigenen vier Wänden, im Pflegeheim oder im Krankenhaus – sehr oft nach einem langen Leidensweg. Würden Sie sagen, dass es für einen Menschen, die dem Tod geweiht sind, zum Ende hin am besten ist, wenn er im Hospiz versorgt wird?
Michael de Ridder: Das Liebste ist den meisten Menschen, daheim zu sterben. Deswegen ist auch der Gedanke der hospizlichen Versorgung ja einer, der immer ein doppelter ist. Auch jedes Hospiz, jedes stationäre Hospiz muss, so auch wir, einen ambulanten Hospizdienst betreiben. Wir haben auch in der Stadt, Berlin ist hier relativ gut dran, ja nicht wenige. Es sind, glaub ich, mittlerweile 80 so genannte SAPV-Ärzte, das heißt, Ärzte, die eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung machen für Menschen, die in ihrem normalen Lebensumfeld eben leben und dort auch ihr Lebensende erleben möchten. Gemeinsam wird dieser Patient von einem Arzt und einem so genannten SAPV-Pflegeteam, also einem Pflegeteam, versorgt, das besonders in der Lebensendepflege ausgebildet ist, Palliativ Care Stichwort.
Das heißt also, dass die ambulante Versorgung von Menschen in ihrem häuslichen Umfeld immer die Priorität hat. Aber wir wissen gerade in Berlin, viele Menschen, die isoliert leben, viele Menschen auch, wo der pflegerische Aufwand am Lebensende so hoch ist, dass man sagt, das geht zu Hause nicht. Die sind in einem stationären Hospiz besser aufgehoben.
Wenn man jetzt das betrachtet, dann würde man sagen, dass es natürlich deutlich zu wenig Plätze sind in Berlin, in Deutschland überhaupt, dass hier sehr viel mehr getan werden muss. Darüber können wir vielleicht noch reden. Das betrifft ja auch eine tektonische Verschiebung sozusagen von dem Versorgungsauftrag, der überhaupt künftig zu leisten ist, weil, es wird nicht gehen ohne dem, dass aus der Akut-Medizin, von der immer weniger Menschen profitieren, sozusagen hin zu der chronisch kranken palliativ hospizlichen Medizin mehr sozusagen Mittel natürlich auch zur Verfügung gestellt werden müssen, weil die demographische Entwicklung das einfach erfordert.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal auf Ihr Buch zurückgekommen: "Wie wollen wir sterben?" Das ist vor zwei Jahren erschienen und da haben Sie unter anderem schlimme Zustände angeklagt in manchen Krankenhäusern – schwerkranke Menschen, die künstlich ernährt und beatmet werden, selbst wenn das überhaupt keinen Sinn mehr macht, weil ihnen nicht mehr geholfen werden kann.
Haben Sie den Eindruck, dass in den zwei Jahren seit dem Erscheinen Ihres Buchs sich irgendwas geändert hat zum Besseren?
Michael de Ridder: Konkret in den Situationen auf den Intensivstationen, in den Rettungsstellen, auf dem Feld der Wiederbelebung, ich würde sagen, eher nein. Genau müsste ich sagen, ich weiß es nicht genau, aber ich könnte es nicht belegen. Aber was sich verändert hat, und das ist mir wichtig: Es gibt, würde ich sagen, eine breite, den Beginn zumindest einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Wir können heute nicht mehr vom Tabu des Sterbens sprechen. Ich glaube, das ist wirklich vorbei.
Deutschlandradio Kultur: Dieser Bewusstseinswandel, den Sie erkennen, erkennen Sie den auch bei Ihren Kollegen, bei der Ärzteschaft? Oder gibt es nicht noch viele Ärzte, die es als Niederlage ansehen, wenn ihr Patient stirbt?
Michael de Ridder: Ich würde sagen, hier ist Wandel zu beobachten, aber der ist viel zu zögerlich. Und manchmal erscheint er mir auch, muss ich sagen, unverständlich. Und am meisten bedauere ich, weil, ich habe ja auch als leitender Arzt in der Rettungsstelle viele junge Kolleginnen und Kollegen mit ausgebildet, dass die Ausbildung auf diesem Feld noch mehr oder weniger sehr zu wünschen übrig lässt immer noch.
Ich sage Ihnen mal ein Beispiel: Bei mir hat es häufiger dann mit den jungen Leuten, jungen Kolleginnen und Kollegen Seminare gegeben, wo es dann um eine Lebensendeproblematik ging – künstliche Ernährung, Wiederbelebung oder Ähnliches. Und da fiel auf meiner Seite das Wort Palliativmedizin. Dann meldete sich einer, ein Student, und sagte, Herr de Ridder, können Sie mal gerade sagen, was das ist Palliativmedizin?
Deutschlandradio Kultur: Und wir sagen ganz schnell für die Hörer, die es auch nicht wissen: Das Prinzip ist, man will lindern, weil man nicht mehr heilen kann.
Michael de Ridder: Richtig. Man will lindern. Palliativmedizin bedeutet lindernde Medizin. Das heißt, vielleicht sprechen wir da noch drüber, das Verhältnis von kurativer und palliativer Medizin bedarf einer Neubestimmung aus meiner Sicht. Das heißt, das Hauptinteresse der Ärzteschaft liegt ja nach wie vor, vor allem der jungen Kolleginnen und Kollegen, auf dem kurativen Sektor. Man will operieren, man will endoskopieren, man will bildgebende Verfahren machen. Man will nicht im Heim als Arzt arbeiten. Man will nicht sozusagen das Gefühl haben, jetzt können wir nichts mehr tun, was ein schrecklicher Ausdruck ist. Medizin kann und muss immer etwas tun. Und das Lindern ist genauso wichtig wie das Kurieren.
Das muss in die Köpfe hinein, möchte ich sagen. Und das muss, auch sozusagen die ethische Gleichrangigkeit dieser beiden Pole medizinischer oder ärztlicher Arbeit muss auch deutlich gemacht werden, auch im Studium schon. Und es muss auch deutlich gemacht werden durch die Politik, nicht zuletzt dadurch, dass auch der Beruf derer, die pflegen – Altenpfleger, Krankenpfleger etc. -, dass die eine Aufwertung erfahren, sowohl, was die gesellschaftliche Achtung vor diesen Berufsbildern angeht, als auch, was die finanzielle Ausstattung angeht.
Deutschlandradio Kultur: Wann wird nach Ihrem Verständnis aus der Sterbebegleitung eines Patienten eine Sterbehilfe oder, wie man auch sagt, ein assistierter Suizid?
Michael de Ridder: Wenn ein Patient in einer aussichtslosen Krankheit sich befindet, im Terminalstadium einer aussichtslosen Krankheit, wenn er über alle Optionen, alle Möglichkeiten der Palliativmedizin gut informiert ist, wenn er seinen Willen klar und nachhaltig ohne äußere Beeinflussung gebildet hat, dann kann ärztlich assistierte Hilfe zum Sterben nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar in meinen Augen unter Umständen geboten sein.
Dieses hat ja auch in anderen Worten der ehemalige Ärztekammerpräsident Hoppe vertreten, indem er gesagt hat: Der ärztlich assistierte Suizid ist zwar keine ärztliche Aufgabe, aber er sollte möglich sein, wenn der Arzt dies mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Ethik ist eine Frage des Gewissens. Und hier muss der Freiraum des einzelnen Arztes in diesem Falle bleiben, um dieser wichtigsten und weitreichendsten aller ärztlichen Entscheidungen, die es gibt, einem Menschen im Sterben oder zum Sterben zu helfen, um das sicherzustellen.
Deutschlandradio Kultur: Das Bundeskabinett hat in dieser Woche ein Gesetz auf den Weg gebracht, mit dem gewerbsmäßiger Sterbehilfe ein Riegel vorgeschoben werden soll. Der Entwurf, wie er bisher vorliegt, sorgt für viel Zündstoff, ist darin doch auch vorgesehen, dass zumindest dann Straffreiheit herrschen soll, wenn nichtkommerzielle Sterbehilfe, also nicht mit Geld bezahlte Sterbehilfe, im engsten Familienkreis oder von nahestehenden Personen geleistet wird, wozu auch der vertraute Arzt zählen kann.
Ist "nahestehend" nicht ein ziemlich schwammiger Begriff, der Missbrauch ermöglicht?
Michael de Ridder: Das ist richtig. Das ist ein schwammiger Begriff. Und ich würde auch diesen Entwurf, der hier vorgelegt worden ist von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, zunächst mal als eine Arbeitsgrundlage ansehen wollen. Den kann man so aus meiner Sicht nicht umsetzen. Und es ist, wird auch nicht leicht sein, hier eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die tragfähig ist und auf die man sich einigen könnte.
Aus meiner Sicht aber geht der Entwurf in die ganz richtige Richtung. Denn ich bin auch der Auffassung, und ich habe mit Frau Leutheusser-Schnarrenberger das Vergnügen gehabt, darüber auch sprechen dürfen in Bayreuth auf einem Juristenkongress, dass ärztliche Sterbehilfe, eben weil ihr wesentlich eine Gewissensentscheidung des Arztes zugrunde liegt, ein Ereignis ist, was, ich sag mal, in den Intimraum von Arzt und Patient gehört – soweit es jetzt erstmal nur um Ärzte geht, noch nicht um andere Beteiligte. Und das ist etwas, was Kommerzialität, was Gewerbsmäßigkeit für mich ausschließt.
Wie wir das handlen, wie wir einem Arzt auch hier, ich sag mal, eine gewisse Vergütung, es ist ja auch eine, ich sag mal, Leistung in Anführungszeichen, er wendet Zeit auf etc., wie ja auch die Beratung zu einer Patientenverfügung ja auch irgendwie vergütet werden muss, was ja auch noch nicht der Fall ist, wie man das regelt, da würde ich mich jetzt zurückhalten wollen. Das weiß ich nicht, welche Möglichkeiten und welche guten Wege sich da eröffnen könnten.
Aber grundsätzlich ändert das nichts daran, dass ein Patient, der – wie Frau Koch beispielsweise, deren Schicksal ja auch durch die Medien gegangen ist, eine querschnittsgelähmte Patientin, die beatmet war und deren Mann den Antrag gestellt hat sozusagen auf ein Medikament, was den Tod herbeiführt, was sie auf ihren eigenen Wunsch hin einnehmen wollte. Das ist ihr verwehrt worden. Sie ist in die Schweiz gefahren und hat sich bei Dignitas mit deren Hilfe suizidiert, was im Übrigen nicht notwendig gewesen wäre. Das muss ich hier doch mal deutlich sagen. Diese Frau hätte hier friedlich und in den Armen ihres Mannes, sage ich mal ganz pathetisch jetzt, sterben können, weil jede Behandlung, die ein Patient akzeptiert, muss er gewollt haben, er muss sie konsentieren. Das ist die eine Bedingung. Und die andere ist die ärztliche Indikation.
Wenn der Patient sagt in einer solchen Situation, wo er beatmet ist und einen hohen Querschnitt hat, ich möchte nicht mehr beatmet werden, dann muss diese Beatmung beendet werden, wobei zuvor der Patient zu sedieren ist, tief zu sedieren ist, und dann in diesem Zustand die Beatmung abgestellt werden kann.
Deutschlandradio Kultur: Wäre Frau Koch Ihre Patientin gewesen, hätte Frau Koch in Deutschland sterben können?
Michael de Ridder: Absolut, ja. Absolut ja. Und es gibt viele Patienten, und das ist das, was mir ganz wichtig ist, und deswegen müssen wir diese Debatte auch führen, von den geschätzten drei- oder vierhundert Patienten in Deutschland, die die Schweiz aufsuchen, weil sie glauben, hier nicht sozusagen ihr Leben auf eine Weise beenden zu können nach ihren eigenen Vorstellungen, ich bin sicher, es sind 60, 70, 80 Prozent unter diesen Menschen, die hier nicht korrekt beraten worden sind, die weder die nötige medizinische Aufklärung, noch die juristische korrekte Beratung bekommen haben. Denn das hätte nicht passieren dürfen. Frau Koch hätte klar erklären können, ich verweigere die Beatmung. Ich will sie nicht mehr. Ich will sterben. Und dem hätte man nachkommen müssen. Und Ähnliches gibt es bei vielen anderen Patienten auch.
Und deswegen habe ich den Vorschlag gemacht, man möge doch für schwerstkranke Patienten, für terminal kranke Patienten, die sich mit Suizidgedanken tragen aufgrund ihrer Erkrankung, man möge doch nach dem Vorbild von pro familia hier eine Beratungsmöglichkeit schaffen. Wobei man die Beratung zunächst einmal ausrichtet auf das, was palliativ möglich ist, eben um zu verhindern, dass Menschen sich suizidieren, wo wirklich andere Optionen, mindestens gleichrangige, wenn nicht gar bessere Optionen der Palliativmedizin offen stehen. Das muss man ihnen ja erklären und muss man ihnen ja sagen.
Und wenn das der Fall ist, und wenn diese Gespräche gelaufen sind, dann wird es immer noch Menschen geben, wo man sagen könnte, aus meiner Sicht auf jeden Fall, hier ist ein assistierter Suizid nachvollziehbar, plausibel. Aber das wird mit Sicherheit ein viel kleinerer Kreis sein.
Deutschlandradio Kultur: Beim Fall der Frau Koch, den Sie angesprochen haben, kann es sicherlich jedermann nachvollziehen, dass es ihr freier und nachvollziehbarer Wille war zu sterben. Aber können Sie als Arzt immer sicher sein, dass ein Patient, der Sie um Hilfe beim Sterben bittet, das wirklich aus freien Stücken tut oder vielleicht nicht doch auch unter Druck steht? Es gibt ja viele, gerade auch ältere Leute, die Angst haben, jemandem zur Last zu fallen, wenn sie weiter am Leben bleiben.
Michael de Ridder: Der Patient, der eine Hilfe zum Sterben von mir erwartet, muss die Bereitschaft haben, mit mir in einen Dialog zu treten. Das muss ich erwarten dürfen, weil, ich bin Beteiligter. Ich bin häufiger in solchen Situationen gewesen, wo es um dieses Problem ging. Und ich habe immer diese Situation vorgefunden, dass jemand auch die Bereitschaft hatte, über alles mit mir zu sprechen und alles zu erörtern.
Ich glaube, und das weist wieder auf diesen Intimraum von Arzt und Patient hin, wenn ich mir diese Zeit nehme und auch die innere Bereitschaft habe als Arzt, mich so einzulassen auf einen Patienten, dann heißt das nicht, dass ich die Distanz verliere. Das muss man auch klar sagen. Empathie hat nichts mit Distanzlosigkeit zu tun. Und das muss man natürlich für sich selber auch klar haben und da muss man sich selber selbstkritisch sehen können. Aber ich würde sagen, wenn das gegeben ist, dann ist die Möglichkeit des Irrtums natürlich niemals letztendlich auszuschließen. Zweifel bleiben immer. Und ich bin ein Zweifler. Aber wir müssen auch entscheiden in der Medizin, das habe ich gelernt, trotz mancher Zweifel. Wir müssen uns entscheiden.
Und jetzt kommt das, was ich wichtig finde, nämlich: Es geht darum, Entscheidungen zu treffen nach bestem Wissen und Gewissen. Und da muss ich mich prüfen: Habe ich mich – ich sage mal vereinfacht – auf der einen Seite ausreichend schlau gemacht, was das Wissen angeht? Und habe ich meine innere Haltung, meine eigene Interessenlage, was alles an Nichtwissen, was die Gewissensseite betrifft, genügend berücksichtigt? Und wenn ich das bejahen kann, dann würde ich sagen, jenseits jetzt auch von ärztlicher Sterbehilfe, ich würde sagen, ein solcher Arzt hat meine Achtung, auch wenn er irrt, wenn er im Ergebnis geirrt hat.
Wenn ich vorgeführt bekomme, hier hat jemand nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet und entschieden, dann darf er auch irren, auch wenn er letztlich dann zu Schäden, die objektiv entstanden sind, stehen muss und vielleicht auch zur Verantwortung gezogen wird.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben über Palliativmedizin, wir haben über Hospize gesprochen und über das kontroverse Thema Sterbehilfe. Ist das eine vielleicht nicht wirklich Teil der Lösung für das andere, nämlich mehr Hospize auf der einen Seite und mehr auch Palliativversorgung auf der anderen Seite, damit eben weniger Menschen am Ende ihres Lebens um Verkürzung ihrer Leiden bitten müssen?
Michael de Ridder: Ja. Das liegt an. Das heißt aber, dass der Palliativgedanke, der ja heute auch noch sehr eng verstanden wird, dass der sozusagen noch mal völlig neu von der Ärzteschaft aufgenommen werden muss.
Ich meine damit: Palliativmedizin ist ja symptomatische Medizin. Palliativmedizin kümmert sich um Beschwerden, nicht nur am Lebensende. Der Palliativgedanke ist ja ein Gedanke, der viel weiter geht, wenn man ihn am Kurativgedanken misst. Was können wir schon wirklich kurieren in der Medizin? Ganz wenige Dinge. Wenn Sie eine Lungenentzündung haben und ein Antibiotikum nehmen, dann kommt es zur – wie wir sagen – restitutio ad integrum, das heißt, zu dem Zustand voller Gesundheit, wenn alles gut geht, der auch vorher bestanden hat.
Ein Diabetiker, ein Hochdruckkranker, die werden ja nicht kurativ behandelt, sondern sie werden im Kern alle palliativ behandelt. Das heißt, wir haben Mittel und Wege gefunden in der Medizin, durch Technik, durch Forschung, die den Menschen ein Leben ermöglichen unter weitestgehender Beschwerdefreiheit und unter der Vorstellung, dass die Krankheit sich nicht weiter ausdehnt.
Und das ist ja auch der Palliativgedanke beim Tumorpatienten, das ist ja auch der, das ist ja nicht nur Leidensminderung, sondern es gibt ja beispielsweise auch eine palliative Chemo-Therapie, die auch durch Verkleinerung der Metastasen möglicherweise dazu führt, dass die Schmerzen geringer werden und dass der Krankheitsprozess sich nicht weiter ausdehnt. Das ist ja viel weiter gedacht als zu sagen, ich muss mich um die Luftnot des Patienten, die Übelkeit und andere so naheliegende Symptome am Lebensende kümmern.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen zu mir in die Rettungsstelle und haben Kopfschmerzen. Was erwarten Sie von mir? Sie erwarten zwei Dinge, erstens, dass ich Ihnen die Kopfschmerzen nehme – das ist das Palliative, das Symptomatische. Ich gebe Ihnen eine Spritze oder Tablette, irgendetwas, was angemessen ist – und zweitens dann erst wolle Sie wissen, was ist die Ursache. Dann erst kommt der Kurativgedanke. Was ist denn die Ursache dieser Kopfschmerzen? Ein Hirntumor oder eine Infektion oder sonst irgendetwas?
Und so muss noch mal deutlich werden, dass der Palliativgedanke in der Medizin ja viel mehr ist. Wenn der Doktor sich mehr sozusagen auf das Palliative, das Palliative wichtiger nimmt, als er das bisher tut, dann gibt’s auch eine höhere Patientenzufriedenheit.
Deutschlandradio Kultur: Warum tut er es denn nicht?
Michael de Ridder: Ja, warum tut er es nicht? Weil er völlig anders gebahnt wird, schon im Studium. Wo werden die Karrieren gemacht? Sie werden eben nicht gemacht im Bereich der Gesprächsmedizin, im Bereich der Leidenslinderung, obwohl das nicht ganz richtig ist. Aber die großen Felder, auf denen man sich bewährt und die man anstrebt, die haben etwas zu tun mit Technologie in der Medizin. Und das ist das Dominante. Und davon müssen wir weg.
Und Palliativmedizin hat ganz viel zu tun mit nichttechnologischer Medizin, eben mit Gespräch, mit da Sein, mit Zeithaben und Ähnlichem, wie sozusagen auch der fließende Übergang dann zum Hospiz ja auch dann zeigt. Und das ist etwas, wo ich sage, wir müssen die Medizinkultur ändern. Aber ich bin mir auch sehr klar darüber, dass ich etwas erwarte oder etwas fordere, was völlig gegenläufig ist zu dem, was heute geforscht wird und was sozusagen von der Mehrheit für gut befunden wird.
Deutschlandradio Kultur: Herr de Ridder, wenn der Gevatter Tod Sie fragen würde, wie Sie lieber sterben würden, entweder unerwartet und sanft im Schlaf oder bei vollem Bewusstsein, was würden Sie ihm antworten?
Michael de Ridder: Ich würde es, glaube ich, so annehmen, wie es kommt. Wenn ich wirklich wählen könnte, würde ich sagen: Ein plötzlicher Tod wäre mir willkommen. Denn ich versuche so zu leben, dass ich ein solches plötzliches Ereignis würde annehmen können.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr de Ridder.
Michael de Ridder: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr de Ridder, zu den vielen Berufsbezeichnungen, die Ihnen zugeschrieben werden – Intensivmediziner und Notfallarzt, Palliativmediziner und Autor -, zählt auch die Bezeichnung: Heimkritiker. Und nun schicken Sie sich an, in Berlin ein Hospiz, also eine Einrichtung zur Sterbebegleitung zu eröffnen. Welches Konzept verfolgen Sie mit dem Vivantes Hospiz in Berlin-Tempelhof?
Michael de Ridder: Das Konzept des Hospizes ist ja eigentlich eines, was nicht aus dem Gesundheitswesen heraus entwickelt worden ist, weil, das Hospiz ist eine Einrichtung bürgerschaftlichen Engagements. Es hat überhaupt nichts mit Medizin zu tun. Es kommt aus England. Der Hospiz-Gedanke, der Begriff Hospiz ist natürlich wesentlich älter.
Früher waren Hospize Erholungs- und Behandlungsstätten für Pilger. Aber der Hospiz-Gedanke, so wie er heute existiert, existiert erst seit den 60er Jahren etwa, kommt aus England zu uns. Und er vereint Menschen, Bürger, die sich um das Lebensende von Patienten kümmern und deren Lebensende angesichts einer Krankenhausmedizin, die vielen Fragen am Lebensende nicht gerecht wird, nicht gerecht wurde und auch nicht gerecht werden kann aufgrund der Struktur des Krankenhauses, sich darum kümmert, dass Menschen ein friedliches und würdevolles Sterben ermöglicht wird.
Deutschlandradio Kultur: Wenn das von Ihnen geleitete Hospiz in vier Wochen denn eröffnet sein wird, dann haben wir in der Dreieinhalbmillionenstadt Berlin insgesamt knapp 200 Plätze. Ist das ausreichend?
Michael de Ridder: Die Indikation für einen Hospizplatz, wie man sagt, also, wer hat ein Recht oder wer ist sinnvoll in einem Hospiz aufgehoben, dieser Gedanke oder die Überlegungen dazu sind zweifellos im Fluss. Klassischerweise waren die onkologischen, also Tumorpatienten im Endstadium ihrer Krankheit, wie auch HIV-, also Aidskranke die klassischen Patienten.
Aber wir wissen heute, dass auch viele andere Patienten mit anderen Erkrankungen, also etwa Patienten mit endstelliger Herzerkrankung, mit Lungenerkrankung, mit neurologischen Erkrankungen, denken Sie an ALS, also, all die Patienten, die heute auch wesentlich länger aufgrund der technologischen Entwicklung in der Medizin – zum Teil – und deswegen auch der pharmakologischen Entwicklung länger überleben, dass die natürlich auch in einen Prozess am Lebensende hineingehen, wo sie eben nicht nur technische, klassische pflegerische Versorgung brauchen, sondern in einem ungewöhnlichen Maße auch Zuwendung in ihrer schweren, terminalen Erkrankung.
Das kann eben häufig nicht im Krankenhaus geleistet werden, obwohl wir hier ja die Palliativstationen haben, die aber den Schwerpunkt der Medizin natürlich haben und nicht den Schwerpunkt, den das Hospiz hat. Nämlich im Zentrum der hospizlichen Versorgung steht der Gedanke der Kommunikation und der Zuwendung. Die Engländer würden sagen, und das ist mir ein sehr sympathischer Gedanke: Low tech, high touch.
Also: So viel Medizin und Pflege, wie nötig, aber so viel Zuwendung und Kommunikation wie möglich, das ist das Prinzip. Und das zu leben, wird die große Herausforderung des Hospizes sein. Natürlich wird die Versorgung da stattfinden auf der Basis bester ärztlicher und pflegerischer Versorgung. Die ist sichergestellt. Aber das Hauptanliegen der im Hospiz arbeitenden Pflegekräfte und ehrenamtlichen Kräfte sind Zuwendung und Kommunikation, Spiritualität, all das, was sich sozusagen um die Fragen herumgruppiert, die ein Mensch am Lebensende hat, die er mit sich herumträgt. Und die aufzulösen, die zum Gegenstand zu machen, das ist die eigentliche Aufgabe. Und dem wollen wir gut entsprechen.
Deutschlandradio Kultur: Üblicherweise stirbt der Mensch in den eigenen vier Wänden, im Pflegeheim oder im Krankenhaus – sehr oft nach einem langen Leidensweg. Würden Sie sagen, dass es für einen Menschen, die dem Tod geweiht sind, zum Ende hin am besten ist, wenn er im Hospiz versorgt wird?
Michael de Ridder: Das Liebste ist den meisten Menschen, daheim zu sterben. Deswegen ist auch der Gedanke der hospizlichen Versorgung ja einer, der immer ein doppelter ist. Auch jedes Hospiz, jedes stationäre Hospiz muss, so auch wir, einen ambulanten Hospizdienst betreiben. Wir haben auch in der Stadt, Berlin ist hier relativ gut dran, ja nicht wenige. Es sind, glaub ich, mittlerweile 80 so genannte SAPV-Ärzte, das heißt, Ärzte, die eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung machen für Menschen, die in ihrem normalen Lebensumfeld eben leben und dort auch ihr Lebensende erleben möchten. Gemeinsam wird dieser Patient von einem Arzt und einem so genannten SAPV-Pflegeteam, also einem Pflegeteam, versorgt, das besonders in der Lebensendepflege ausgebildet ist, Palliativ Care Stichwort.
Das heißt also, dass die ambulante Versorgung von Menschen in ihrem häuslichen Umfeld immer die Priorität hat. Aber wir wissen gerade in Berlin, viele Menschen, die isoliert leben, viele Menschen auch, wo der pflegerische Aufwand am Lebensende so hoch ist, dass man sagt, das geht zu Hause nicht. Die sind in einem stationären Hospiz besser aufgehoben.
Wenn man jetzt das betrachtet, dann würde man sagen, dass es natürlich deutlich zu wenig Plätze sind in Berlin, in Deutschland überhaupt, dass hier sehr viel mehr getan werden muss. Darüber können wir vielleicht noch reden. Das betrifft ja auch eine tektonische Verschiebung sozusagen von dem Versorgungsauftrag, der überhaupt künftig zu leisten ist, weil, es wird nicht gehen ohne dem, dass aus der Akut-Medizin, von der immer weniger Menschen profitieren, sozusagen hin zu der chronisch kranken palliativ hospizlichen Medizin mehr sozusagen Mittel natürlich auch zur Verfügung gestellt werden müssen, weil die demographische Entwicklung das einfach erfordert.
Deutschlandradio Kultur: Noch mal auf Ihr Buch zurückgekommen: "Wie wollen wir sterben?" Das ist vor zwei Jahren erschienen und da haben Sie unter anderem schlimme Zustände angeklagt in manchen Krankenhäusern – schwerkranke Menschen, die künstlich ernährt und beatmet werden, selbst wenn das überhaupt keinen Sinn mehr macht, weil ihnen nicht mehr geholfen werden kann.
Haben Sie den Eindruck, dass in den zwei Jahren seit dem Erscheinen Ihres Buchs sich irgendwas geändert hat zum Besseren?
Michael de Ridder: Konkret in den Situationen auf den Intensivstationen, in den Rettungsstellen, auf dem Feld der Wiederbelebung, ich würde sagen, eher nein. Genau müsste ich sagen, ich weiß es nicht genau, aber ich könnte es nicht belegen. Aber was sich verändert hat, und das ist mir wichtig: Es gibt, würde ich sagen, eine breite, den Beginn zumindest einer breiten gesellschaftlichen Debatte. Wir können heute nicht mehr vom Tabu des Sterbens sprechen. Ich glaube, das ist wirklich vorbei.
Deutschlandradio Kultur: Dieser Bewusstseinswandel, den Sie erkennen, erkennen Sie den auch bei Ihren Kollegen, bei der Ärzteschaft? Oder gibt es nicht noch viele Ärzte, die es als Niederlage ansehen, wenn ihr Patient stirbt?
Michael de Ridder: Ich würde sagen, hier ist Wandel zu beobachten, aber der ist viel zu zögerlich. Und manchmal erscheint er mir auch, muss ich sagen, unverständlich. Und am meisten bedauere ich, weil, ich habe ja auch als leitender Arzt in der Rettungsstelle viele junge Kolleginnen und Kollegen mit ausgebildet, dass die Ausbildung auf diesem Feld noch mehr oder weniger sehr zu wünschen übrig lässt immer noch.
Ich sage Ihnen mal ein Beispiel: Bei mir hat es häufiger dann mit den jungen Leuten, jungen Kolleginnen und Kollegen Seminare gegeben, wo es dann um eine Lebensendeproblematik ging – künstliche Ernährung, Wiederbelebung oder Ähnliches. Und da fiel auf meiner Seite das Wort Palliativmedizin. Dann meldete sich einer, ein Student, und sagte, Herr de Ridder, können Sie mal gerade sagen, was das ist Palliativmedizin?
Deutschlandradio Kultur: Und wir sagen ganz schnell für die Hörer, die es auch nicht wissen: Das Prinzip ist, man will lindern, weil man nicht mehr heilen kann.
Michael de Ridder: Richtig. Man will lindern. Palliativmedizin bedeutet lindernde Medizin. Das heißt, vielleicht sprechen wir da noch drüber, das Verhältnis von kurativer und palliativer Medizin bedarf einer Neubestimmung aus meiner Sicht. Das heißt, das Hauptinteresse der Ärzteschaft liegt ja nach wie vor, vor allem der jungen Kolleginnen und Kollegen, auf dem kurativen Sektor. Man will operieren, man will endoskopieren, man will bildgebende Verfahren machen. Man will nicht im Heim als Arzt arbeiten. Man will nicht sozusagen das Gefühl haben, jetzt können wir nichts mehr tun, was ein schrecklicher Ausdruck ist. Medizin kann und muss immer etwas tun. Und das Lindern ist genauso wichtig wie das Kurieren.
Das muss in die Köpfe hinein, möchte ich sagen. Und das muss, auch sozusagen die ethische Gleichrangigkeit dieser beiden Pole medizinischer oder ärztlicher Arbeit muss auch deutlich gemacht werden, auch im Studium schon. Und es muss auch deutlich gemacht werden durch die Politik, nicht zuletzt dadurch, dass auch der Beruf derer, die pflegen – Altenpfleger, Krankenpfleger etc. -, dass die eine Aufwertung erfahren, sowohl, was die gesellschaftliche Achtung vor diesen Berufsbildern angeht, als auch, was die finanzielle Ausstattung angeht.
Deutschlandradio Kultur: Wann wird nach Ihrem Verständnis aus der Sterbebegleitung eines Patienten eine Sterbehilfe oder, wie man auch sagt, ein assistierter Suizid?
Michael de Ridder: Wenn ein Patient in einer aussichtslosen Krankheit sich befindet, im Terminalstadium einer aussichtslosen Krankheit, wenn er über alle Optionen, alle Möglichkeiten der Palliativmedizin gut informiert ist, wenn er seinen Willen klar und nachhaltig ohne äußere Beeinflussung gebildet hat, dann kann ärztlich assistierte Hilfe zum Sterben nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar in meinen Augen unter Umständen geboten sein.
Dieses hat ja auch in anderen Worten der ehemalige Ärztekammerpräsident Hoppe vertreten, indem er gesagt hat: Der ärztlich assistierte Suizid ist zwar keine ärztliche Aufgabe, aber er sollte möglich sein, wenn der Arzt dies mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Ethik ist eine Frage des Gewissens. Und hier muss der Freiraum des einzelnen Arztes in diesem Falle bleiben, um dieser wichtigsten und weitreichendsten aller ärztlichen Entscheidungen, die es gibt, einem Menschen im Sterben oder zum Sterben zu helfen, um das sicherzustellen.
Deutschlandradio Kultur: Das Bundeskabinett hat in dieser Woche ein Gesetz auf den Weg gebracht, mit dem gewerbsmäßiger Sterbehilfe ein Riegel vorgeschoben werden soll. Der Entwurf, wie er bisher vorliegt, sorgt für viel Zündstoff, ist darin doch auch vorgesehen, dass zumindest dann Straffreiheit herrschen soll, wenn nichtkommerzielle Sterbehilfe, also nicht mit Geld bezahlte Sterbehilfe, im engsten Familienkreis oder von nahestehenden Personen geleistet wird, wozu auch der vertraute Arzt zählen kann.
Ist "nahestehend" nicht ein ziemlich schwammiger Begriff, der Missbrauch ermöglicht?
Michael de Ridder: Das ist richtig. Das ist ein schwammiger Begriff. Und ich würde auch diesen Entwurf, der hier vorgelegt worden ist von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, zunächst mal als eine Arbeitsgrundlage ansehen wollen. Den kann man so aus meiner Sicht nicht umsetzen. Und es ist, wird auch nicht leicht sein, hier eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die tragfähig ist und auf die man sich einigen könnte.
Aus meiner Sicht aber geht der Entwurf in die ganz richtige Richtung. Denn ich bin auch der Auffassung, und ich habe mit Frau Leutheusser-Schnarrenberger das Vergnügen gehabt, darüber auch sprechen dürfen in Bayreuth auf einem Juristenkongress, dass ärztliche Sterbehilfe, eben weil ihr wesentlich eine Gewissensentscheidung des Arztes zugrunde liegt, ein Ereignis ist, was, ich sag mal, in den Intimraum von Arzt und Patient gehört – soweit es jetzt erstmal nur um Ärzte geht, noch nicht um andere Beteiligte. Und das ist etwas, was Kommerzialität, was Gewerbsmäßigkeit für mich ausschließt.
Wie wir das handlen, wie wir einem Arzt auch hier, ich sag mal, eine gewisse Vergütung, es ist ja auch eine, ich sag mal, Leistung in Anführungszeichen, er wendet Zeit auf etc., wie ja auch die Beratung zu einer Patientenverfügung ja auch irgendwie vergütet werden muss, was ja auch noch nicht der Fall ist, wie man das regelt, da würde ich mich jetzt zurückhalten wollen. Das weiß ich nicht, welche Möglichkeiten und welche guten Wege sich da eröffnen könnten.
Aber grundsätzlich ändert das nichts daran, dass ein Patient, der – wie Frau Koch beispielsweise, deren Schicksal ja auch durch die Medien gegangen ist, eine querschnittsgelähmte Patientin, die beatmet war und deren Mann den Antrag gestellt hat sozusagen auf ein Medikament, was den Tod herbeiführt, was sie auf ihren eigenen Wunsch hin einnehmen wollte. Das ist ihr verwehrt worden. Sie ist in die Schweiz gefahren und hat sich bei Dignitas mit deren Hilfe suizidiert, was im Übrigen nicht notwendig gewesen wäre. Das muss ich hier doch mal deutlich sagen. Diese Frau hätte hier friedlich und in den Armen ihres Mannes, sage ich mal ganz pathetisch jetzt, sterben können, weil jede Behandlung, die ein Patient akzeptiert, muss er gewollt haben, er muss sie konsentieren. Das ist die eine Bedingung. Und die andere ist die ärztliche Indikation.
Wenn der Patient sagt in einer solchen Situation, wo er beatmet ist und einen hohen Querschnitt hat, ich möchte nicht mehr beatmet werden, dann muss diese Beatmung beendet werden, wobei zuvor der Patient zu sedieren ist, tief zu sedieren ist, und dann in diesem Zustand die Beatmung abgestellt werden kann.
Deutschlandradio Kultur: Wäre Frau Koch Ihre Patientin gewesen, hätte Frau Koch in Deutschland sterben können?
Michael de Ridder: Absolut, ja. Absolut ja. Und es gibt viele Patienten, und das ist das, was mir ganz wichtig ist, und deswegen müssen wir diese Debatte auch führen, von den geschätzten drei- oder vierhundert Patienten in Deutschland, die die Schweiz aufsuchen, weil sie glauben, hier nicht sozusagen ihr Leben auf eine Weise beenden zu können nach ihren eigenen Vorstellungen, ich bin sicher, es sind 60, 70, 80 Prozent unter diesen Menschen, die hier nicht korrekt beraten worden sind, die weder die nötige medizinische Aufklärung, noch die juristische korrekte Beratung bekommen haben. Denn das hätte nicht passieren dürfen. Frau Koch hätte klar erklären können, ich verweigere die Beatmung. Ich will sie nicht mehr. Ich will sterben. Und dem hätte man nachkommen müssen. Und Ähnliches gibt es bei vielen anderen Patienten auch.
Und deswegen habe ich den Vorschlag gemacht, man möge doch für schwerstkranke Patienten, für terminal kranke Patienten, die sich mit Suizidgedanken tragen aufgrund ihrer Erkrankung, man möge doch nach dem Vorbild von pro familia hier eine Beratungsmöglichkeit schaffen. Wobei man die Beratung zunächst einmal ausrichtet auf das, was palliativ möglich ist, eben um zu verhindern, dass Menschen sich suizidieren, wo wirklich andere Optionen, mindestens gleichrangige, wenn nicht gar bessere Optionen der Palliativmedizin offen stehen. Das muss man ihnen ja erklären und muss man ihnen ja sagen.
Und wenn das der Fall ist, und wenn diese Gespräche gelaufen sind, dann wird es immer noch Menschen geben, wo man sagen könnte, aus meiner Sicht auf jeden Fall, hier ist ein assistierter Suizid nachvollziehbar, plausibel. Aber das wird mit Sicherheit ein viel kleinerer Kreis sein.
Deutschlandradio Kultur: Beim Fall der Frau Koch, den Sie angesprochen haben, kann es sicherlich jedermann nachvollziehen, dass es ihr freier und nachvollziehbarer Wille war zu sterben. Aber können Sie als Arzt immer sicher sein, dass ein Patient, der Sie um Hilfe beim Sterben bittet, das wirklich aus freien Stücken tut oder vielleicht nicht doch auch unter Druck steht? Es gibt ja viele, gerade auch ältere Leute, die Angst haben, jemandem zur Last zu fallen, wenn sie weiter am Leben bleiben.
Michael de Ridder: Der Patient, der eine Hilfe zum Sterben von mir erwartet, muss die Bereitschaft haben, mit mir in einen Dialog zu treten. Das muss ich erwarten dürfen, weil, ich bin Beteiligter. Ich bin häufiger in solchen Situationen gewesen, wo es um dieses Problem ging. Und ich habe immer diese Situation vorgefunden, dass jemand auch die Bereitschaft hatte, über alles mit mir zu sprechen und alles zu erörtern.
Ich glaube, und das weist wieder auf diesen Intimraum von Arzt und Patient hin, wenn ich mir diese Zeit nehme und auch die innere Bereitschaft habe als Arzt, mich so einzulassen auf einen Patienten, dann heißt das nicht, dass ich die Distanz verliere. Das muss man auch klar sagen. Empathie hat nichts mit Distanzlosigkeit zu tun. Und das muss man natürlich für sich selber auch klar haben und da muss man sich selber selbstkritisch sehen können. Aber ich würde sagen, wenn das gegeben ist, dann ist die Möglichkeit des Irrtums natürlich niemals letztendlich auszuschließen. Zweifel bleiben immer. Und ich bin ein Zweifler. Aber wir müssen auch entscheiden in der Medizin, das habe ich gelernt, trotz mancher Zweifel. Wir müssen uns entscheiden.
Und jetzt kommt das, was ich wichtig finde, nämlich: Es geht darum, Entscheidungen zu treffen nach bestem Wissen und Gewissen. Und da muss ich mich prüfen: Habe ich mich – ich sage mal vereinfacht – auf der einen Seite ausreichend schlau gemacht, was das Wissen angeht? Und habe ich meine innere Haltung, meine eigene Interessenlage, was alles an Nichtwissen, was die Gewissensseite betrifft, genügend berücksichtigt? Und wenn ich das bejahen kann, dann würde ich sagen, jenseits jetzt auch von ärztlicher Sterbehilfe, ich würde sagen, ein solcher Arzt hat meine Achtung, auch wenn er irrt, wenn er im Ergebnis geirrt hat.
Wenn ich vorgeführt bekomme, hier hat jemand nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet und entschieden, dann darf er auch irren, auch wenn er letztlich dann zu Schäden, die objektiv entstanden sind, stehen muss und vielleicht auch zur Verantwortung gezogen wird.
Deutschlandradio Kultur: Wir haben über Palliativmedizin, wir haben über Hospize gesprochen und über das kontroverse Thema Sterbehilfe. Ist das eine vielleicht nicht wirklich Teil der Lösung für das andere, nämlich mehr Hospize auf der einen Seite und mehr auch Palliativversorgung auf der anderen Seite, damit eben weniger Menschen am Ende ihres Lebens um Verkürzung ihrer Leiden bitten müssen?
Michael de Ridder: Ja. Das liegt an. Das heißt aber, dass der Palliativgedanke, der ja heute auch noch sehr eng verstanden wird, dass der sozusagen noch mal völlig neu von der Ärzteschaft aufgenommen werden muss.
Ich meine damit: Palliativmedizin ist ja symptomatische Medizin. Palliativmedizin kümmert sich um Beschwerden, nicht nur am Lebensende. Der Palliativgedanke ist ja ein Gedanke, der viel weiter geht, wenn man ihn am Kurativgedanken misst. Was können wir schon wirklich kurieren in der Medizin? Ganz wenige Dinge. Wenn Sie eine Lungenentzündung haben und ein Antibiotikum nehmen, dann kommt es zur – wie wir sagen – restitutio ad integrum, das heißt, zu dem Zustand voller Gesundheit, wenn alles gut geht, der auch vorher bestanden hat.
Ein Diabetiker, ein Hochdruckkranker, die werden ja nicht kurativ behandelt, sondern sie werden im Kern alle palliativ behandelt. Das heißt, wir haben Mittel und Wege gefunden in der Medizin, durch Technik, durch Forschung, die den Menschen ein Leben ermöglichen unter weitestgehender Beschwerdefreiheit und unter der Vorstellung, dass die Krankheit sich nicht weiter ausdehnt.
Und das ist ja auch der Palliativgedanke beim Tumorpatienten, das ist ja auch der, das ist ja nicht nur Leidensminderung, sondern es gibt ja beispielsweise auch eine palliative Chemo-Therapie, die auch durch Verkleinerung der Metastasen möglicherweise dazu führt, dass die Schmerzen geringer werden und dass der Krankheitsprozess sich nicht weiter ausdehnt. Das ist ja viel weiter gedacht als zu sagen, ich muss mich um die Luftnot des Patienten, die Übelkeit und andere so naheliegende Symptome am Lebensende kümmern.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen zu mir in die Rettungsstelle und haben Kopfschmerzen. Was erwarten Sie von mir? Sie erwarten zwei Dinge, erstens, dass ich Ihnen die Kopfschmerzen nehme – das ist das Palliative, das Symptomatische. Ich gebe Ihnen eine Spritze oder Tablette, irgendetwas, was angemessen ist – und zweitens dann erst wolle Sie wissen, was ist die Ursache. Dann erst kommt der Kurativgedanke. Was ist denn die Ursache dieser Kopfschmerzen? Ein Hirntumor oder eine Infektion oder sonst irgendetwas?
Und so muss noch mal deutlich werden, dass der Palliativgedanke in der Medizin ja viel mehr ist. Wenn der Doktor sich mehr sozusagen auf das Palliative, das Palliative wichtiger nimmt, als er das bisher tut, dann gibt’s auch eine höhere Patientenzufriedenheit.
Deutschlandradio Kultur: Warum tut er es denn nicht?
Michael de Ridder: Ja, warum tut er es nicht? Weil er völlig anders gebahnt wird, schon im Studium. Wo werden die Karrieren gemacht? Sie werden eben nicht gemacht im Bereich der Gesprächsmedizin, im Bereich der Leidenslinderung, obwohl das nicht ganz richtig ist. Aber die großen Felder, auf denen man sich bewährt und die man anstrebt, die haben etwas zu tun mit Technologie in der Medizin. Und das ist das Dominante. Und davon müssen wir weg.
Und Palliativmedizin hat ganz viel zu tun mit nichttechnologischer Medizin, eben mit Gespräch, mit da Sein, mit Zeithaben und Ähnlichem, wie sozusagen auch der fließende Übergang dann zum Hospiz ja auch dann zeigt. Und das ist etwas, wo ich sage, wir müssen die Medizinkultur ändern. Aber ich bin mir auch sehr klar darüber, dass ich etwas erwarte oder etwas fordere, was völlig gegenläufig ist zu dem, was heute geforscht wird und was sozusagen von der Mehrheit für gut befunden wird.
Deutschlandradio Kultur: Herr de Ridder, wenn der Gevatter Tod Sie fragen würde, wie Sie lieber sterben würden, entweder unerwartet und sanft im Schlaf oder bei vollem Bewusstsein, was würden Sie ihm antworten?
Michael de Ridder: Ich würde es, glaube ich, so annehmen, wie es kommt. Wenn ich wirklich wählen könnte, würde ich sagen: Ein plötzlicher Tod wäre mir willkommen. Denn ich versuche so zu leben, dass ich ein solches plötzliches Ereignis würde annehmen können.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank, Herr de Ridder.