Kaczynski, Kafka und Corona
21:53 Minuten
Polen hat einen neuen alten Präsidenten: Andrzej Duda. Und Polen hat immer noch Corona. Die Kohlegruben in Schlesien gelten als Wuhan Europas. Das chaotische Krisenmanagement der PiS-Regierung wird genauso kritisiert wie ihr Kontrollwahn. Zu Recht?
Zehn Tage nachdem Polen die Grenze zu Deutschland für EU-Bürger geöffnet hat, am 22. Juni, ist die Autobahn der Freiheit, Richtung Osten wie leergefegt. Am Grenzübergang würde man Kontrollen, Wartezeiten und Fiebermessungen erwarten. Doch kurz vor der Grenze nur der alte, allen Pendlern vertraute Blitzer, der das Einhalten der Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern überwacht. Nur ein LKW wird von zwei Grenzbeamten herausgewunken.
Angekommen. Mitten auf dem Altmarkt in Posen, 300 Kilometer östlich von Berlin, im Westen des Landes. Im Garten eines Frühstückscafés, eines von denen, die in Polen schon vor zwei Wochen wiedereröffnet wurden. Monika ist der einzige Gast, Corona sei Dank.
Die schlanke Frau von 46 Jahren arbeitet als Dolmetscherin für Serbokroatisch und engagiert sich mit Haut und Haaren für etliche demokratische Bewegungen, unter anderem für das KOD – das Komitee zur Verteidigung der Demokratie, das Proteste gegen die Regierungspartei PiS veranstaltet.
"Man behandelt die Bürger wie Idioten"
Monika empört sich: Polen verzeichnet gerade die zweite Coronawelle. Und:
"Man hat den Lockdown verhängt, als wir in ganz Polen 300 Coronakranke am Tag hatten. Und jetzt gibt es über 500 Erkrankte täglich, weil sich herausgestellt hat, dass sich viele Bergleute infizieren. Die Verantwortlichen haben wohl vergessen, dass die Kumpels anderthalb Stunden zusammengequetscht in einem Aufzug runterfahren müssen, die Armen. Dann malochen sie in Staub und Hitze, und ständig in dem gleichen, eigenen Luftkreislauf.
Ich denke, die Kumpels wurden von unserer Regierung einfach vergessen. Anstatt ihre Arbeit anders zu organisieren und sie zu testen. Mich ärgert sehr, dass man die Bürger, wie Idioten behandelt, dass man sie nicht darüber informiert, wieso man Einschränkungen einführt und sie dann wieder aufhebt. Ich glaube, dass nur Polen, Schweden und die Ukraine zu den Ländern in Europa gehören, in denen die Pandemie noch nicht kontrollierbar ist."
"Die Friedhöfe geschlossen
Wegen der Ereignisse der letzten Wochen
Ich schaue auf die Tore und Tränen kommen mir
Genauso wie dir
Genauso wie dir."
Dieser Song mit dem Titel "Dein Schmerz ist besser als meiner" soll das im Juni erschienene Album "Die Seuche" des Kultsängers Kazik promoten. Darin kritisiert Kazik offen Jaroslaw Kaczynski, den Vorsitzenden der PiS Partei und faktischen Drahtzieher des gesamten politischen Lebens in Polen.
Kaczynski und seine Entourage hatten am 10. April den wegen COVID-19 geschlossenen Friedhof Powazki in Warschau betreten, um das Grab seines Bruders zu besuchen, der vor genau zehn Jahren bei der Flugzeugkatastrophe bei Smolensk ums Leben gekommen war. Alle anderen Angehörigen mussten draußen bleiben. Was einen Aufruhr in den oppositionellen Medien in Polen auslöste.
Willkür und Vetternwirtschaft der Klicke an der Macht
Ein Paradebeispiel für Willkür und Vetternwirtschaft der Klicke an der Macht – meint Monika. Doch besonders absurd sei, dass der Song weder dem Künstler Kazik, noch dem Image von Kaczynski Schaden zugefügt habe, sondern dem Journalisten, der es gewagt hatte, ihn im Radio zu spielen.
"Die sogenannte Dritte Rundfunkanstalt, öffentlich-rechtlich, war immer schon eine Ausnahme, weil sie hauptsächlich Musik spielen. Und obwohl unter der PiS sehr viele Journalisten sowohl Fernsehen als auch Radio verlassen hatten, und zu den oppositionellen, privaten Medien gewechselt waren, sind die Journalisten dort geblieben. Da werden unter anderem die Kult-Charts präsentiert, und zwar von Marek Niedzwiedzki, jede Woche samstags seit gefühlt 100 Jahren! Da es nicht um Politik geht und man nur Musik spielt, schluckt man den Frosch und bleibt für die Fans.
Auf dem ersten Platz der Charts lief der Song von Kazik mit dem Titel ´Dein Schmerz ist besser als meiner`. Ein einfaches Lied, in dem er besingt, wie der Herr Vorsitzende Kaczynski auf dem Friedhof Powazki Blumen niedergelegt hat. Kein anderer durfte so etwas tun. Das hat Kazik aufgeregt und deswegen schrieb er den Song."
"Das Tor wird geöffnet, und ich glaub es kaum
Vielleicht wird es doch anders sein
Ich lauf´ hin, deine Bodyguards schreien: Halt!
Dein Schmerz ist besser als meiner!
Dein Schmerz ist besser als meiner!
Der total schräge Geisteszustand der Regierenden
"Und die Chefredaktion hat die Charts nach nur einer Stunde von der Homepage genommen, weil sie Angst hatte, dass der Vorsitzende sich vielleicht beleidigt fühlen könnte! Es folgte die Info, dass sie ungültig seien, weil Niedzwiedzki beim Stimmenzählen manipuliert habe. Das Lied hatte ohne jeden Zweifel gewonnen.
Das Ergebnis: Niedzwiedzki hat den Sender verlassen und innerhalb von zehn Tagen auch noch weitere Journalisten. Von den guten Alten ist keiner geblieben. Der Geisteszustand in dem sich unsere regierende Partei und die Menschen, die von ihr abhängig sind, befinden, ist total schräg. Damit der Herr Vorsitzende nicht sauer wird, nimmt man besser mal schnell, sozusagen präventiv, den Song vom Sender."
Bei Katarzyna, der 47-jährigen Dozentin an der Politologischen Fakultät an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen streiten die Kinder: der 13-jährige Antek und die achtjährige Tosia. Und zwar um den Computer mit der Kamera. Es gibt nur einen in diesem Haushalt, den eigentlich Katarzyna selbst für ihren digitalen Unterricht mit den Studierenden benutzen sollte.
Dariusz, der Vater der Familie, der trotz Corona zwei Tage in der Woche in der Verwaltung der Universität arbeitet, ist gerade nicht zu Hause. Erst nach dem Abendessen, als die kleine Tosia in ihrem Bett liegt, wird es etwas ruhiger.
"Etwas ist faul im Staate Polen"
Das Wohnzimmer der Wohnung, die Katarzyna geerbt hat, ist winzig. Klein, aber mein – lacht Katarzyna. Gäbe es nicht diese Erbschaft, hätten sich die Akademiker aus eigener Kraft nie eine Eigentumswohnung leisten können. Ebenso wie Monika sind Katarzyna und Dariusz überzeugt: etwas ist faul im Staate Polen.
Die Entscheidungen der national-konservativen Partei PiS, die schon vor der Coronakrise absurd waren, wie zum Beispiel die von der EU angeprangerte Justizreform, sind jetzt noch absurder geworden. Aber haben diese Gesetze auch einen praktischen Einfluss auf das tägliche Leben der Familie?
"Klar, das hat auch unser Leben beeinträchtigt. Wir führen gerade einen Kampf um Entschädigung nach einem Wasserschaden. Normalerweise würde es höchstens anderthalb Jahre dauern. Jetzt nach der Reform dauert unsere Gerichtssache schon fast vier Jahre und kein Ende ist in Sicht."
"Die Justizreform war ein provokatives Brechen des Gesetzes und verfassungswidrig."
"Man macht alles, damit die Menschen auf ihr Recht verzichten. Gleich zu Beginn müssen sie als Kläger hohe Gebühren bezahlen. Es wird alles getan, um es den Menschen zu verleiden. Die Gerichte werden manipuliert und sind ineffizient. Das war keine Reform, sondern eine politische Aktion, um eigene Leute in den Gerichten zu positionieren."
Und dann klinkt sich überraschenderweise der 13-jährige Antek in das Gespräch ein. Zu der Regierungspartei in Polen hat er eine ganz klare Meinung.
"Der Mangel an Rechtsstaatlichkeit gefällt mir in unserem Land nicht, und dass die Gesetze einfach geändert werden, dass man sie zurechtbiegt, oft eben gesetzeswidrig."
"Und das alles weißt du schon mit deinen 13 Jahren?", frage ich.
"Wir sind ein sehr politisiertes Volk!", sagt Antek. "Die Einschränkungen, die ohne gesetzliche Grundlage auferlegt werden, sind für mich problematisch, ich fühle mich ungerecht behandelt."
"Zum Beispiel: das Gymnasium wurde abgeschafft", erzählt seine Mutter.
"Ein anderes Beispiel ist auch die Verschiebung der Prüfungen", sagt Antek.
Und Mutter Katarzyna ergänzt: "Ohne, dass ein Ausnahmezustand verhängt wurde."
"Und ohne dass ein Notstand verkündet wurde", ärgert sich Antek.
"Du klingst, als ob du bald emigrieren willst", frage ich noch einmal nach.
"Das habe ich vor. Ich will in den USA studieren, da gibt es gute Unis."
"Aber das wäre doch wie vom Regen in die Traufe – von Kaczynski zu Trump", sage ich.
Das Kind schult die Professoren
Der Junge hilft in der Coronazeit den Akademikern an der Universität die Homeschooling-App "Teams" zu installieren und zu bedienen. Seine Eltern Dariusz und Katarzyna halten es für absurd, dass sie keine professionelle Unterstützung von ihrem Arbeitgeber bekommen.
"Unsere Informatiker waren telefonisch nicht erreichbar und schrieben uns zurück, dass sie keinen blassen Schimmer davon haben und Schluss. Antek hilft jetzt dabei, den digitalen Unterricht einzurichten. Eigentlich hat er uns geschult. Uns, die akademischen Lehrer, hat man damit völlig allein gelassen. Wir haben überhaupt keine Vorbereitung bekommen. Der Rektor der Universität hat uns Mails geschrieben nach dem Motto: Ich drücke Ihnen die Daumen."
"Ich habe der Frau Professorin geholfen."
"Nicht nur einer Frau Professorin, sondern mehreren. Selbst Profs, die noch mich unterrichtet hatten, lernten von Antek. Er hat sie in die Geheimnisse der Teams-App eingeführt, damit sie an dem Fakultätsrat teilnehmen konnten, alles dank Antek."
Als der Junge endlich ins Bett geschickt wird, lassen die Eltern ihrem Frust freien Lauf. Schon vor der Pandemie war das Leben unter dieser Regierung skurril. Jetzt ist es unerträglich, finde sie.
"Man fühlt sich wie eine Marionette, die herumgeschubst wird. Genauso war es mit den Masken: Zuerst mussten wir sie überall tragen, dann stellte sich heraus, dass das nur in geschlossenen Räumen notwendig ist. Gemeinsam mit dieser Anordnung haben sie verkündet, dass man Hochzeiten bis zu 150 Personen organisieren kann, also für eine ganze Schar.
Auch meine Studenten sagen mir, dass sie nicht verstehen, wieso sie zur Prüfung an der Uni nicht einreisen dürfen, sie sind ja nur 30, wenn sie zur Hochzeit bei Onkel Stach fahren dürfen. Und zwar nach Schlesien, wo in den Kohlewerken kaum einer nicht infiziert ist."
Drohung per Corona-Virus-Gesetz
Schon am 8. März wurde in Polen das Corona-Virus-Gesetz verabschiedet. Die Opposition kritisierte diese Lösung. Auch Katarzyna ist gegen das hastig erlassene Gesetz. Es wäre passender gewesen, den Notstand auszurufen, glaubt sie. Doch dann hätten die an der Macht die Präsidentschaftswahlen nicht durchboxen können.
"Das Corona-Virus-Gesetz ist eine Art Attrappe, eine Prothese. Auf dieser Grundlage hat man Geldstrafen eingeführt, die die Gesundheitsbehörde verhängen kann, wenn sie eine sanitäre Bedrohung feststellt. Und diese Bedrohung kann zum Beispiel im öffentlichen Raum entstehen, wenn man den Abstand nicht einhält oder die Maske nicht trägt. Und dann stellte sich heraus, dass dies eine sehr wirksame Maßnahme ist, um den Menschen zu drohen.
Es gab zum Beispiel zwei Radfahrer, die mit einem Antiregierungsposter herumgefahren sind: Sie haben den Abstand eingehalten, sie waren ja auf ihren Rädern. Und dann kam die Polizei, und stellte fest: Die zwei mit dem Plakat stellen eine sanitäre Bedrohung dar. Und die Gesundheitsbehörde verhängte eine Strafe, aufgepasst – wieviel: 10.000 Zlotych."
Also etwa 2500 Euro.
"Es war absurd, die Strafen waren unproportioniert hoch. Und es gab keine Möglichkeit, einen Widerruf einzulegen. Sie konnten nur vor Gericht gehen, aber das ist eigentlich eine Fiktion."
"Es sind Umstände wie bei Kafka."
Das Leben dieser polnischen Familie in Coronazeiten war und ist eine Zerreißprobe. Die Einschränkungen der ersten Coronawelle waren in Polen besonders drastisch. Eltern wie Kinder waren die ganze Zeit zu Hause, sie durften nicht einmal in den Wald spazieren gehen. Mit den ersten aktuellen Lockerungen wurde es etwas besser. Doch man sieht Katarzyna die Erschöpfung dieser Wochen an. Sie versucht nicht einmal, den Streit zwischen den Kindern zu schlichten. Der Junge – älter und stärker – gewinnt. Gleich fängt seine Polnischstunde an.
Ist Polen ein tolerantes Land?
Die ganze Klasse im digital Homeschooling. Die Lehrerin diskutiert mit den Teenagern anhand einer Lektüre über typisch polnische Nationalmerkmale. Ein skurriles Thema für einen Literaturunterricht.
"Wir haben viele wunderbare Eigenschaften, meine Herrschaften, über die Ausländer mit Bewunderung sprechen: unsere Gastfreundlichkeit, Offenheit und hmm… auch Toleranz, trotz allem."
Polen, ein tolerantes Land? Selbst der 13-jährige Antek hält das für groben Unfug. Als Einziger in der Klasse bietet er der Lehrerin Paroli.
"Aber ich denke, dass die Polen eben diese Merkmale nicht haben, die sie aufgezählt haben. Diese Eigenschaften haben zum Beispiel die Finnen, oder die Norweger. Eben die skandinavischen Völker, die sehr offenherzig und ehrlich gegenüber den Menschen sind und die sich gegenseitig vertrauen."
"Antek, diese Offenheit fängt den Skandinaviern an, Schaden zuzufügen. Ich habe eine Freundin, die dort einige Jahre gewohnt hatte. Sie kehrte nach Polen zurück und meinte: dort lässt es sich nicht leben. Haltet die Ohren steif. Auf Wiedersehen."
"Auf Wiedersehen. Vielen Dank."
"Auf Wiedersehen!"
"Diesen Staat darf man nicht zu nah an sich ranlassen"
Am nächsten Tag sitzt Monika, die Dolmetscherin, wieder in einem schicken Café auf dem Posener Altmarkt und wieder ist sie der einzige Gast. Sie ist ganz aufgeregt: Denn sie hat sich mit ihrem Vater über die Präsidentschaftswahl und über Polens nationalkonservatives Staatsoberhaupt Andrzej Duda gestritten. Dass sie noch bei ihren Eltern wohnt, macht solche Diskussionen nicht einfacher. Als Freelancerin und Alleinstehende kann sie sich in dem teuren Poznan keine eigene Wohnung leisten, nicht mal zur Miete.
"Und wenn man im Fernsehen hört, dass Duda so super ist und Polen in der Welt noch nie so wertgeschätzt wurde – das wundert mich am meisten. Angeblich soll Polen jetzt so eine besondere Stellung in der Welt haben! Dabei haben wir doch schon 30 Jahre vorher auf diese Stellung hingearbeitet. Und als wir der EU beigetreten sind, hatten wir doch so gute Umfragewerte! Wir waren Anführer unter den neuen Beitrittsländern und das sind wir nicht mehr und wir werden es nicht mehr, weil die PiS autoritär regiert. Auf Polen muss man aufpassen, diesen Staat darf man nicht zu nah an sich ranlassen."
Monika gesteht, dass sie darüber nachdenkt, wieder nach Kroatien zu ziehen, das sie vor zwei Jahren verlassen hat. Dort hatte sie an der Universität in Dubrovnik an der dalmatinischen Küste acht Jahre lang als Dozentin für Polnisch gearbeitet. An der schönen Adria könne sie sich für ihr Gehalt mindestens eine Zweizimmerwohnung im Stadtzentrum leisten, sagt sie bitter.
Wenn es in Polen so weiter gehe, werde es vielleicht wieder wie zu Zeiten des Kommunismus sein: Alle hauen ab, der Letzte macht das Licht aus.