"Wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit." Benjamin Franklin, einer der Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika
Die Grenzen der persönlichen Freiheit
26:11 Minuten
Mehrere Fernreisen pro Jahr, ein SUV in der Garage und jeden Tag Fleisch auf dem Teller: Die Konsumfreiheiten sind mit dem Wohlstand enorm gewachsen. Doch Klimawandel und andere Krisen verlangen rasches Handeln. Zur Not auf Kosten der Freiheit?
Nach Klimaschützern und Politikern schlägt auch das renommierte Weltwirtschaftsforum von Davos, der lose Zusammenschluss von Ökonomen, Managern, Publizisten und superreichen Philanthropen, in seinem aktuellen Bericht über die Risiken der Weltwirtschaft ungewöhnlich laut Alarm.
"Die Top-5-Risiken sind alle ökologisch. Nämlich extreme Wetterereignisse, Fehler beim Klimaschutz, Naturkatastrophen, Verlust von Biodiversität und – eine sehr interessante Kategorie – menschengemachte ökologische Desaster", sagt Karsten Kieckhäfer, Professor für Betriebswirtschaftslehre, Produktion und Logistik an der Fernuniversität in Hagen.
"Die Unternehmen haben in vielerlei Hinsicht längst begriffen, dass es keine andere Wahl gibt, als zu einer Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne der nachhaltigen Entwicklung beizutragen."
Die Wirtschaft ist an eine Grenze gestoßen. Das Ökosystem ist überlastet, das Klima verändert sich. Es drohen Flüchtlingskrisen, Naturkatastrophen, Pandemien. Die Menschheit wird reagieren müssen.
Maßnahmen als Vorbild der Beschränkung von Rechten?
Die Coronakrise hat gezeigt, dass recht umfassende Beschränkungen der individuellen Freiheitsrechte nötig und möglich sind, um eine Pandemie zu bekämpfen. Wird das in der Klimakrise ähnlich sein? Wenn ja, wie stark werden die Einschnitte sein müssen, um sie zu meistern? Wie legitim sind sie? Und wie hoch ist die Bereitschaft, zum Beispiel der Deutschen, solche Einschnitte hinzunehmen?
"Der ganze gigantische materielle Umschlagsaufwand, der gemacht wird, wenn man darüber mal sprechen würde als Verursacher von Klimawandel und übrigens Verursacher von vielen anderen ökologischen Problemen, dann käme man zu dem deprimierenden Schluss, dass es mit ein bisschen Stellschraubendrehen, wie es neudeutsch heißt, nicht getan ist, sondern dann müssen wir unsere komplette Wirtschaftsweise und die kompletten Lebensstile verändern, weil die Aufgabe bedeutet, 80 Prozent runter. Das heißt: weniger von allem."
So Harald Welzer, Professor für Transformationsdesign, also für die Veränderung des Großen und Ganzen, schon 2015 in diesem Programm. Sein Kollege Dennis Meadows, einer der Autoren von "Die Grenzen des Wachstums", einem der Urtexte der Ökobewegung, ergänzt:
"Vor 50 Jahren hatte Deutschland ein viel niedrigeres Niveau an Mobilität und das war in Ordnung so. Ich war vor 50, 60 Jahren in Deutschland, die Lebensqualität war ziemlich gut, die Leute waren zufrieden, die allgemeine Gesundheitssituation war ziemlich gut. Man hatte keine iPods, keine Autos mit 400 PS, keine Klimaanlagen, aber es ist absolut möglich, so zu leben."
Renate Künast ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, damals der Wirtschaftsmotor der Bundesrepublik. Sie erinnert sich an eine Kindheit, die von bescheidenem Wohlstand geprägt war. Es gab keine Existenzsorgen, im Sommer reiste die Familie nach Holland ans Meer.
"Es ist vielleicht in den 70er- 80er-, 90er-Jahren gekippt, dass die Dinge anfingen, selbstverständlich zu sein", sagt Künast.
"Dass das Jahr plötzlich nicht mehr vier, sondern fünf, sechs Jahreszeiten hatte beim Thema Kleidung. Dass man ständig reisen konnte. Und dass in den Geschäften plötzlich Lebensmittel bis zur letzten Minute da waren, Obst aus fernen Ländern oder Gemüse gar keine Besonderheit mehr waren wie früher, im Feinkostladen mal zu bekommen war – dann ging da mal hin. Sondern ich sage mal so: bildhaft die Apfelsinen auf den Weihnachtstellern. Die waren eine Selbstverständlichkeit, wurden in immer größeren Netzen angeboten und dann sogar so viel, dass sie am Ende weggeworfen wurden."
Als Grünen-Politikerin und ehemalige Verbraucherschutzministerin hat Renate Künast die Entwicklung der letzten Jahrzehnte begleitet und mitgeprägt. Sie weiß: Ohne den wachsenden Wohlstand wäre die individuelle Freiheit, die es in den Industriestaaten heute gibt, nicht möglich gewesen.
"Es geht zwar mit einer Individualisierung einher, aber Tatsache ist, dass sich Wirtschaft und Industrie eine Arbeitsweise angewöhnt haben, wo sie rund um den Globus fahren, sich immer die billigsten Produktionsmöglichkeiten aussuchen, dabei Raubbau betreiben und uns allen versucht haben einzureden, dass wir nur glücklich sind, wenn wir das alles rund um die Uhr haben können – und notfalls werfen wir es weg."
Wird sich das ändern? Werden wir uns einschränken müssen?
In der Corona-Pandemie ist der weltweite Flugverkehr eingebrochen. Die Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, persönliche Kontakte untersagt. Restaurants und Läden wurden geschlossen, Veranstaltungen verboten. Der Konsum ging zurück.
"Ich glaube, wir haben alle den Eindruck, dass gewisse Teile der Bevölkerung sagen würden, diese Maßnahmen, die jetzt getroffen wurden, gehen über das Maß dessen hinaus, worauf sie verzichten wollen oder wie sie sich verhalten wollen", sagt Ökonom Karsten Kieckhäfer. "Und nichtsdestotrotz haben wir ‚nur‘ einen Rückgang unseres ökologischen Fußabdrucks von knapp 10 Prozent."
Nur zehn Prozent?
Im Jahr 2020 fiel der so genannte Earth-Overshoot-Day, der Tag, an dem die Menschheit über die nachwachsenden Ressourcen des Planeten hinaus ausbeutet, auf den 22. August. Die Menschheit verbraucht also mehr als ein Drittel zu viel Ressourcen. Dabei war der Overshoot-Day wegen Corona sogar drei Wochen später als im Vorjahr. Die Bevölkerung der Industrieländer lebt dabei auf besonders großem Fuß: Würden alle Menschen so konsumieren wie die Deutschen, bräuchte man drei Planeten Erde.
Ein Leben wie im permanenten Lockdown?
Müssten wir also in Zukunft auf noch mehr verzichten als in der Coronakrise, um das Klima zu retten? Kommt ein Leben auf uns zu, das sich anfühlt wie ein permanenter Lockdown?
Die Grünen-Politikerin Renate Künast sagt: "Erstmal hoffe ich sehr stark, dass durch Corona eines verstanden wird, nämlich dass all die Analysen aus der Wissenschaft, die uns sagen, was Klimaveränderung bedeutet, was Verlust an Artenvielfalt bedeutet, dass es wirklich existenziell ist, dass wir das wirklich verstehen, dass überall auch durch unsere Verantwortung unser Handeln Auswirkungen hat und am Ende mittlerweile sogar bei uns selbst. "
"Freiheit bedeutet Verantwortung. Das ist der Grund, warum die meisten Menschen sich vor ihr fürchten." Bernard Shaw, irischer Schriftsteller und Nobelpreisträger
"Ich glaube nicht, dass wir so weitermachen können und auch nicht so weitermachen werden wie bisher", sagt Lukas Köhler. "Wir sehen, dass es massive Umbrüche in der Wirtschaft, in der Gesellschaft gibt."
Köhler ist Mitte 30, für Klimapolitik der FDP-Fraktion und Mitglied im Parlamentarischen Beirat für Nachhaltige Entwicklung. Seine Homepage weist ein Motto aus: "Freiheit ist der Kern unserer Gesellschaft, der stets geschützt werden muss"
Aber welches Freiheitsrecht wiegt schwerer? Das Recht, zu fliegen und so schnell und viel Auto zu fahren, wie man will? Oder das Recht, saubere Luft atmen zu dürfen?
"Es ist unglaublich, wie mit den Menschen, den Autofahrern oder den Pendlern umgegangen wird in Deutschland", findet Michael Haberland. Viele Menschen, vor allem Männer, verstehen das Autofahren als ultimativen Ausdruck ihrer individuellen Freiheit. Und sie wähnen sich schon seit geraumer Zeit in Rückzugsgefechten. Bereits 1992 als Student hat Michael Haberland aus dieser Motivation heraus den Verein "Mobil in Deutschland" gegründet.
"Die Ideen sind ja nicht ganz neu, Autofahrer auszugrenzen, sie kleinzuhalten oder zumindest ihnen das Autofahren in den Städten schwerzumachen", sagt er.
"Fridays for Hubraum" statt "Fridays for Future"
Inzwischen ist der Verein zu einem veritablen Automobilclub ausgewachsen, der sich als Lobby für das Autofahren versteht.
"Das fing an mit den Dieselfahrverboten. Ältere Menschen, die völlig ausgegrenzt werden, denen der Euro-5-Diesel quasi verboten wird – ohne einen triftigen Grund. Es bringt nichts. In Coronazeiten sind die Werte genauso hoch, obwohl niemand fährt. Pop-up-Radwege, Innenstädte werden gesperrt. Es wird immer schlimmer, was den Autofahrern aufgebürdet wird. Und jetzt kommt‘s: sogar eine neue CO2-Steuer, die wir Autofahrer bezahlen müssen."
10.000 Mitglieder habe sein Verein, sagt Haberland. Viele seien in jüngster Zeit dazugekommen, aus Protest gegen die zunehmenden Einschränkungen.
"Die Diskussion um die Verbrennerverbote bis 2030, die bereits oft von den Grünen angestoßen wurde. Das ist eine klassische Enteignung!"
Dass sich viele Autofahrer derzeit als Opfer von Einschränkungsmaßnahmen fühlen, ist sichtbar. Manche protestieren, indem sie sich Aufkleber mit der Aufschrift "Fuck you, Greta" an ihr Fahrzeug heften. Als Gegenbewegung zu "Fridays for Future" haben Autofans "Fridays for Hubraum" gegründet. Motorradfahrer demonstrieren laut röhrend unter dem Motto "Freedom is our religion" gegen drohende Fahrverbote wegen der Lautstärke ihrer Vehikel. Andere wehren sich gegen den Ausbau von Windenergie oder die Errichtung zusätzlicher Überlandleitungen für grünen Strom.
"Alles, was wir uns an Freiheit erkämpft haben in den letzten Jahren oder Jahrzehnten – es waren ja nicht nur wir, sondern auch unsere Väter –, wackelt. "
Die Bürger durch Transparenz überzeugen
Auch auf der anderen Seite des Spektrums wallen die Emotionen: SUV-Fahrer werden wegen des hohen Ressourcenverbrauchs ihrer Fahrzeuge angefeindet. Klimaaktivisten protestieren gegen die Verstromung von Kohle im Hambacher Forst und gegen den Autobahnbau im Dannenröder Forst. Tierschützer machen gegen die Massentierhaltung mobil. Mieter protestieren gegen den rapiden Anstieg der Wohnungskosten.
Wie lässt sich verhindern, dass sich die Fronten weiter verhärten?
"Ich glaube, den Großteil der Bevölkerung kann man dadurch mitnehmen, dass man klare und transparente Vorgaben macht und auch erklärt, warum eine Maßnahme notwendig und sinnvoll ist", sagt FDP-Politiker Lukas Köhler.
"Also zum Beispiel der Emissionshandel, der sein Ziel auch erreicht. Dass das die richtige Maßnahme ist, verstehen die Leute, weil sie sagen: Damit können wir die Ziele, die wir im Pariser Abkommen gesetzt haben, auch erreichen. Was dabei nicht hilft, ist, wenn ich Maßnahmen mache, die völlig unverständlich und zum Teil widersprüchlich sind. "
Derzeit existiert ein Emissionshandel nur für Unternehmen. Würde er, wie Köhler vorschlägt, auf Privatpersonen ausgedehnt, könnte der Preis für die Emission von CO2 allerdings rasch ansteigen – mit sozialen Folgen.
Heizen mit Öl und Autofahren mit Verbrennungsmotoren würde schnell teurer. Wer es sich nicht leisten kann, rasch auf grünen Strom umzusteigen und seinen Benziner durch ein Elektroauto zu ersetzen, hätte das Nachsehen.
"Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern darin, dass er nicht tun muss, was er nicht will." Jean-Jacques Rousseau, Philosoph
Die Temperatur auf der Erde steigt schneller, als Wissenschaftler angenommen hatten. Wie lässt sich dem entgegenwirken?
Die Wirtschaftswissenschaft hat hierfür Szenarien entwickelt.
"Das ist zum einen die Suffizienzstrategie", erklärt Ökonom Kieckhäfer. "Da geht es genau um solche Verzichtsideen, also: Wie kann man weniger konsumieren und damit zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen? Dann gibt es die sogenannte Effizienzstrategie, wo es um eine erhöhte Ressourcenproduktivität geht, also die Frage: Wie kann ich es mit einem Verbrennungsmotor schaffen, dass weniger Treibstoff verbraucht wird, um die gleiche Strecke zurückzulegen? Dann gibt es die Konsistenzstrategie. Die sagt aus, wir müssen umweltschonende Technologien einsetzen, die es uns ermöglichen, mit den Ressourcen, die wir haben, mit der Umwelt, in der wir leben, im Einklang zu stehen. Eins allein wird es nicht richten. Wir müssen eine Verbindung finden. "
Die Politikerin Renate Künast meint:
"Es kann am Ende ja nicht so sein, dass die Politiker, die Politikerinnen der Bevölkerung sagen, du musst du den Gürtel noch enger schnallen. Sondern wir werden das gemeinsam entwickeln müssen. Dass wir so nicht weiterleben können werden."
Ganz ohne Verzicht wird es nicht gehen. Eine schnelle und wirksame Maßnahme wäre der Verzicht auf Fleisch. Schon jetzt verursacht die Tierhaltung 14,5 Prozent der globalen Emissionen. Die Nutztierhaltung ist mitverantwortlich für das globale Artensterben. Und auch die Gefahr von Pandemien wächst durch die expansive und dichte Tierhaltung. Durch das weltweite Reisen und die internationalen Lieferketten verbreiten sich Erreger, die auf den Menschen übergesprungen sind, heute sehr schnell.
Jeder Tag Veggie-Day?
Wie wäre es mit einem Gesetz, das den Konsum von Fleisch einschränkt? Etwa ein fleischloser Tag pro Woche in den Kantinen der Unternehmen? Solch einen "Veggie-Day" forderten die Grünen 2013.
Die Reaktionen waren harsch und der Vorstoß kostete die Partei im Bundestagswahlkampf viele Stimmen. Die Idee wurde als autoritär und elitär aufgefasst und brachte den Grünen das Label der "Verbotspartei" ein. Dabei sinkt der Fleischkonsum in Deutschland bereits. Lebensmittel aus Fleischersatz verzeichnen Umsatzrekorde. Selbst Discounter werben heute mit ihrem vegetarischen Angebot. Und Renate Künast meint:
"Die Geschichte mit dem Veggie-Day war natürlich komplett falsch, weil es nur ein Tag war. Genau genommen müssen und werden wir unsere Ernährung ganz grundsätzlich verändern müssen."
So eine Äußerung – mitten im Superwahljahr? Der Kollege von den Liberalen zieht da nicht mit.
"Das würde ich zunächst mal sagen, dass die Frage der Ernährung eine ganz individuelle Entscheidung ist. Wir sehen ja auch in Deutschland, dass Menschen sich anders ernähren und anders ernähren wollen. Dazu müssen sie die Möglichkeiten haben. Ich glaube aber auch, dass im Bereich der Ernährung die Menschen ganz besonders schnell betroffen sind. Sodass es dann am Ende eine Akzeptanzfrage sein wird, wie und ob wir Klimaschutz umsetzen."
"Natürlich ist das ein Eingriff in das unternehmerische Handeln"
Akzeptanz würde Einsicht voraussetzen. Nur dann wären harte Einschnitte möglich.
Ein Beispiel dafür ist das so genannte Lieferkettengesetz, das derzeit diskutiert wird. Deutsche Unternehmen sollen künftig dazu verpflichtet werden, soziale und ökologische Mindeststandards einzuhalten. Nicht nur bei ihnen im Betrieb, sondern über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Vom Kleinbauern oder Produzenten über die Zwischenhändler, Logistik bis zum Vertrieb.
"Natürlich ist das ein Eingriff in das unternehmerische Handeln. Und das wird auch nicht ganz günstig", räumt Betriebswirtschaftler Kieckhäfer ein. "Aber ist das nicht das, was wir von unseren Unternehmen auch verlangen? Würden Sie nicht an ein Produkt, das Sie kaufen, die Anforderung stellen, dass das Produkt ohne Kinderarbeit hergestellt ist, dass es unter sozialen Arbeitsbedingungen hergestellt ist und mit einer fairen Entlohnung? Dass Gewerkschaftsbildung erlaubt ist? Und ist es dann nicht auch Aufgabe im Sinne von ‚Eigentum verpflichtet‘ von Unternehmen, dafür Sorge zu tragen?"
Es gibt keinen betriebswirtschaftlichen Grund, die aktuellen Verhältnisse zu ändern, zumindest keinen kurzfristigen. Aber es gäbe einen globalen Effekt: Die Lebensbedingungen in den ärmeren Ländern würden sich verbessern. Der Klimawandel würde sich verlangsamen und möglicherweise würden sogar künftige Flüchtlingskrisen vermieden.
Wie hoch ist die Akzeptanz für Einschränkungen hierzulande, um der Klimakrise zu begegnen? Nicht besonders hoch, weiß die Kognitionspsychologie. Gerald Echterhoff sagt:
"Wir tendieren dazu, bei unsicheren Verlusten in der Zukunft auf die Unsicherheit von lang entfernten, weit entfernten katastrophalen Verlusten zu setzen. Die Unsicherheit ist ja bei dem, was in 20, 30 Jahren sein wird, sehr groß. Also pokere ich mal drauf, dass es nicht ganz so schlimm kommt. "
Und Michael Haberland sagt: "Der Klimawandel wird nicht durch Schikanen gegen deutsche Autofahrer aufgehalten, sondern er wird durch gute und globale Maßnahmen aufgehalten."
Maßnahmen? Ja bitte. Aber nicht bei mir
Für das Phänomen, dass Menschen die Verantwortung an eine andere Stelle schieben wollen, hat sich die Abkürzung NIMB etabliert. Ausgeschrieben "Not in my Backyard". Maßnahmen? Ja bitte. Aber woanders. Nicht in meinem Hinterhof.
Müssen erst, wie in der Corona-Pandemie, die Folgen direkt im Hinterhof sichtbar werden, um Einschränkungen freiwillig hinzunehmen?
"Wenn wir solche Pandemien jetzt alle paar Jahre erleben. Wenn wir durch die Trockenheit erleben, dass Lebensmittel knapper werden und es einen noch erbitterteren Kampf um Ackerland für Lebensmittel geben wird. Argentinien und Brasilien, um ihre eigene Bevölkerung zu ernähren, werden die dortigen Eliten, denen die riesigen Äcker gehören, auch nicht mehr durchsetzen können, dass sie dort Futtersoja für unsere Rinder anbieten, damit wir Fleisch essen können. Diese Dinge werden sich alle massiv verändern. "
"Wer anderen die Freiheit verweigert, verdient sie nicht für sich selbst." Abraham Lincoln, 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
"So sehr es psychologisch nachvollziehbar ist, dass wir uns bei Einschränkungen in unseren Eigeninteressen und zum Teil auch in unserem Selbstwert und in dem, wie wir für uns Bedeutung stiften – nämlich durch Statussymbole, schicke Autos oder dergleichen – dass wir uns da bedroht fühlen, ist es natürlich wichtig, dass wir als Gesellschaft und in der Politik immer klarmachen, dass es immer wichtig war, Rücksichtnahme walten zu lassen und sich in bestimmten Dingen einzuschränken", meint der Sozialpsychologe Gerald Echterhoff von der Universität Münster.
Wir zahlen Steuern in Erwartung, dass Infrastruktur, Verwaltung und Sicherheitsorgane funktionieren. Wir halten uns an Gesetze und Tempobeschränkungen und generell an Regeln, damit die Gesellschaft als Ganzes funktioniert – jedenfalls tun das die meisten. Viele Regeln sind festgeschrieben, aber sie sind stets neu auszuhandeln im Rahmen des gesellschaftlichen Diskurses, der demokratische Willensbildung heißt. Politiker werden gewählt, diese umzusetzen.
"Ich finde wichtig, dass wir klarmachen, dass Ziele auf gesellschaftlicher Ebene und die individuellen Bedürfnisse nur anscheinend im Widerspruch oft stehen. Denn wir alle profitieren von einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im Hinblick auf Zusammenhalt, Sicherheit, Solidarität."
Aggressive Stimmung gegen Freiheitsbeschränkungen
Soweit die Theorie. Nur hat der Prozess der demokratischen Willensbildung in letzter Zeit an den Rändern unschöne Formen angenommen.
Die Rhetorik hat sich in den vergangenen Jahren verschärft. Je lauter die Forderungen nach Verzicht werden, je stärker sich bestimmte Gruppen in ihren individuellen Freiheitsrechten eingeschränkt fühlen, desto aggressiver wird die Stimmung im Land.
Sowohl auf Demonstrationen als auch in den sozialen Medien im Internet haben Wortwahl und Form teils Züge angenommen, als herrsche Bürgerkrieg.
"Die Wut ist natürlich leichter rauszulassen unter den Bedingungen der Anonymität im Internet", sagt Psychologe Echterhoff. "Das nennt man Deindividuation. Das kann genauso sein, wenn ich irgendwo in der Menge untergehe, mich maskiere. An Karneval. Hooligans in der Straßenbahn haben die Schals an, sind nicht direkt als Individuen erkennbar. Die Ku-Klux-Klan Anhänger, die maskiert waren."
Umgekehrt haben die Drohungen gegenüber Politikern und Amtsträgern bereits jetzt direkte Folgen für deren persönliche Freiheit: Bürgermeister sind zurückgetreten, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten. Ein Ortsvorsteher kam mit der Äußerung in die Schlagzeilen, er wolle einen Waffenschein beantragen, um sich und seine Familie zu schützen.
Ein Einsatzleiter der Polizei, der eine Demonstration von Gegnern der Corona-Maßnahmen hatte auflösen müssen, sah seinen Namen im Internet veröffentlicht. Er wurde mit dem Tod bedroht.
Ebenso mit dem Tod bedroht wurde der Landrat der thüringischen Stadt Hildburghausen, nachdem er eine Demonstration von Gegnern der Corona-Maßnahmen in der Stadt kritisiert hatte.
"Es gibt nicht die Konfrontation Gesellschaft und Politikerin und Politiker", sagt Renate Künast. "Sie müssen es nicht mir erklären, wenn Sie meinen, ein Wochenende lang nach Mallorca zu fliegen. Sie müssen es Ihren Enkelkindern erklären. Oder Ihren Nachbarkindern. Da liegt die Verantwortung."
Bedrohen neue Ideen alte Lebensstile?
Auch Renate Künast wurde und wird im Netz übel beschimpft. Sie ließ sich aber nicht einschüchtern, sondern versuchte, die Aggressoren aus ihrer Anonymität zu holen. In mehreren Prozessen setzte sie durch, dass Facebook zur Herausgabe von Nutzerdaten verpflichtet wurde. Inzwischen wurde ein Rentner zu einer Geldstrafe verurteilt.
"Legt offen, was die Bedingungen und die Interessen sind. Aber auch: Legt offen, wer den Hass und die Hetze gegen solche Vorschläge organisiert und orchestriert."
Im Netz tobe ein rhetorischer Bürgerkrieg, angefacht von Leuten, die den alten Geschäftsmodellen nachhingen oder von ihnen profitierten. Neue Ideen würden ihren Lebensstil bedrohen.
"Bei mancher Wut kann ich es mir ehrlich gesagt nicht erklären. Warum mittlerweile Menschen sich so ansprechen lassen im Ausdruck von Hass, als hätten sie die Stelle im Kopf, die Verstand produziert, fast gar nicht mehr. "
Der Sozialpsychologe Gerald Echterhoff meint:
"Man kann dadurch auch eine soziale Identität festigen, dass man also eben zu einer bestimmten Gruppe von Wutbürgern, Querdenkerinnen oder welcher Gruppe auch immer gehört. Das hat also noch einen Bezug zu der Identität, der man sich durch solche Mitteilungen und Verhaltensweisen auch wieder versichern kann. "
Je größer die Bezugsgruppe wird, der sich Verfasser von Hasskommentaren zugehörig fühlen, desto seriöser wirkt sie. Und desto leichter findet sie Mitläufer. Deshalb ist es entscheidend, rechtzeitig Grenzen zu setzen. Auch im Internet gilt, was im Umgang von Angesicht zu Angesicht selbstverständlich ist: Kritik ist erlaubt. Beleidigungen nicht.
Immerhin wurde inzwischen ein Gesetz verabschiedet, um härter gegen die Verfasser von Hasskommentaren vorgehen zu können.
"Ich bin nicht eurer Meinung, aber ich werde darum kämpfen, dass ihr euch ausdrücken könnt." Voltaire
"Ich möchte den Menschen nicht vorschreiben, mit welchem Verkehrsmittel sie sich bewegen sollen oder müssen", sagt Michael Haberland. "Das ist eine Art von Mobilitätssozialismus, den ich nicht haben möchte. Sozialismus funktioniert nicht. Am Schluss führt er zu einem Zusammenbruch des Gesamtsystems, zu mehr Neid, zu mehr Streit in der Gesellschaft – zu keiner guten Gesellschaft. "
Und FDP-Politiker Lukas Köhler gibt zu bedenken:
"Wenn ich den Leuten sage, ihr dürft nicht mehr in Urlaub fliegen, ihnen aber keine anständige Alternative aufweise, dann ist das ein Problem. Deswegen würde ich gar nicht sagen: Wir müssen den Verzicht auf das Fliegen erklären, sondern wir sollen den Weg aufzeigen, wie es gehen könnte."
"Es ist nicht nur Verzicht, es hat auch als solches positive Effekte", betont Gerald Echterhoff. "Bei der Pandemie sehen wir auch: Viele Menschen können davon berichten, was sie im Corona-Jahr an Möglichkeiten entdeckt haben, ihre unmittelbare Natur kennenzulernen. Ohne viel Konsum, sich mit Freunden auf einen Spaziergang zu treffen."
Es geht nicht um Verzicht, sondern um gutes Leben
"Die Antwort ist für mich nicht das Wort Verzicht, sondern innezuhalten und sich zu überlegen, ob das, was wir als das gute Leben bezeichnet haben, als Wohlstand bezeichnet haben, von uns in letzter Zeit richtig definiert wurde", betont Grünen-Politikerin Künast. "Und ob wir in der Lage sind zu sagen: Da haben wir uns geirrt, und wir definieren das jetzt neu. "
Es gilt, nicht nur den Klimawandel zu bekämpfen, sondern auch, den sozialen Frieden zu bewahren. Die Grenzen unserer individuellen Freiheiten werden wir in diesem Rahmen stets neu aushandeln müssen. Wollen wir die Demokratie nicht infrage stellen, werden wir die Spannungen, die dabei entstehen, aushalten müssen.
"Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
In Gemeinwesen, die Staaten nun einmal sind, endet die Freiheit des Einzelnen dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört. Dieses Leitbild hat der Philosoph Immanuel Kant schon vor über 200 Jahren beschrieben. Sein kategorischer Imperativ verweist nicht nur auf ein Grundprinzip des menschlichen Miteinanders. Er kann auch als Leitfaden verstanden werden, um Krisen ohne größere Verwerfungen zu bewältigen.
Mitwirkende
Autor: Mirko Heinemann
Sprecherin: Anika Mauer
Sprecher: Rosario Boner
Technische Realisierung: Andreas Stoffels
Regie: Stefanie Lazai
Redakteur: Martin Hartwig