Gehörlose

Neue Chancen durch die Pandemie

Zwei Jungen benutzen Gebärdensprache, um sich zu unterhalten.
Dass Gebärdensprache der Sprachentwicklung schadet, ist wissenschaftlich widerlegt. © picture alliance / Zoonar / Channel Partners
Ein Kommentar von Melissa Wessel · 17.02.2022
Die Corona-Maßnahmen haben auch den Alltag von Menschen mit Behinderungen gravierend verändert. Die Journalistin Melissa Wessel ist von Geburt an taub. Sie sieht auch Chancen für Gehörlose durch die Pandemie - und räumt mit Missverständnissen auf.
„Aber was ist mit den gehörlosen Menschen? Sie können so nicht von den Lippen ablesen!“
Es gab viel Aufregung bei hörenden Personen, als inmitten der Corona-Pandemie die Maskenpflicht eingeführt wurde. Für uns taube Menschen selbst war und ist das allerdings kein Weltuntergang. Ganz im Gegenteil: Vielleicht hat es neben den traurigen Aspekten der Pandemie auch etwas Gutes.

Die Last der Kommunikation über das von den Lippen absehen fällt nicht mehr nur auf uns. Ich sage „von den Lippen absehen“ und nicht „ablesen“. Denn es lässt sich nicht mit dem normalen Lesen, wie das eines Buches, vergleichen. Es grenzt schon fast an eine Kunst: Denn nur rund 30 Prozent der Wörter sind absehbar, den Rest müssen wir über Kontext erraten. Ihr seid noch skeptisch? Schaltet doch mal bei der nächsten Tagesschau den Ton aus und sagt mir, wie viel ihr verstanden habt.

Mehr Bemühen auf Hörenden-Seite

Die Maskenpflicht bedeutet also, dass Hörende sich bei der Kommunikation eher bemühen müssen. Zur zwischenmenschlichen Kommunikation gehören immer beide Seiten. Probiert es beim nächsten Mal also gerne mit Aufschreiben aus, sei es auf Papier oder Handy. Oder traut euch, mehr Gestik in die Unterhaltung einzubauen.

Also, die Pandemie hat etwas Gutes für uns Gehörlose. Dolmetscher*innen für deutsche Laut- und Gebärdensprache wurden nach viel Druck aus der Gehörlosengemeinschaft vermehrt bei Pressekonferenzen eingesetzt. Aber – ja, da gibt es ein Aber – die Dolmetschenden waren fast nur im Livestream sichtbar. Im linearen Fernsehen ist nach wie vor fast keine Gebärdensprache zu sehen.

Schriftdeutsch ist quasi eine Fremdsprache

Ja, wir alle kennen die Tagesschau in Gebärdensprache auf Phoenix. Aber es sind nur 15 Minuten täglich, in denen wir im linearen Fernsehen uneingeschränkten Zugang zu Informationen bekommen.
Das ist der traurige Alltag tauber Menschen – und das in unserer viel gepredigten „inklusiven“ Gesellschaft. Untertitel reichen nämlich nicht aus, denn Schriftdeutsch ist für uns quasi eine Fremdsprache. Die Deutsche Gebärdensprache ist eine eigenständige und anerkannte Sprache mit einer eigenen Grammatik.

Aber warum reichen gebärdensprachliche Angebote im Internet nicht aus, fragt ihr Euch? Es ist ein Mehraufwand für uns. Wir kommen nicht – so wie ihr – nur mit einem Knopfdruck an Informationen. Und was ist mit gehörlosen Senior*innen, die keinen Internetzugang haben? Diese sind außen vor.

Barrierefreie Information lebensnotwendig

Wäre es denn so schlimm, die Deutsche Gebärdensprache sichtbarer zu machen? Für Hörende ist das eine kleine Umstellung im Bild – für uns ist es lebensnotwendig. Nehmen wir Corona als Beispiel. Ohne barrierefreie Informationen können wir uns nicht schützen.

Gebärdensprache im Fernsehen soll sich aber nicht nur auf Nachrichten und Pressekonferenzen beschränken. Wenn man dies auch auf andere Sendungen erweitert, hätte das weitere Vorteile für uns. Hörende Menschen werden sensibilisiert und die Gebärdensprache wird als alltäglicher angesehen.

Und dadurch ändert sich womöglich noch mehr. Vielleicht wird durch diese vermehrte Akzeptanz in der Gesellschaft der Unterricht in Gebärdensprache für taube Kinder endlich selbstverständlicher. Das ist er bis heute nämlich nicht. Oder gehörlose Kinder hätten das Recht, mit Gebärdensprache aufzuwachsen.

Gebärdensprache wird abgewertet

Oft wird ahnungslosen Eltern von tauben Babys nahegelegt, bloß nicht die Gebärdensprache zu nutzen. Angeblich würde das der Sprachentwicklung schaden – was aber wissenschaftlich widerlegt ist. Viele Ärzte raten dazu, ein Cochlea-Implantat einsetzen lassen und das Kind dann lautsprachlich zu erziehen. Dabei ist genau das, was zur sprachlichen Deprivation führt.

Auf der anderen Seite empfinden die Eltern von hörenden Babys Begeisterung, wenn sie auf Zeichensprache reagieren. Denn so kann sich das Baby ausdrücken, bevor es überhaupt sprechen kann. Fällt euch das auf? Dieses Paradoxon?

Melissa Wessel, Jahrgang 1992, arbeitet als Redakteurin bei der Deutschen Gehörlosenzeitung (DGZ) und als Autorin für den ARD-Sender funk. An der University of Wolverhampton hat Wessel den Studiengang „Deaf Studies and Linguistics“ absolviert. Deaf Studies widmet sich der Forschung zu Gebärdensprache und der Kultur der Gehörlosengemeinschaft. Seit 2013 wohnt sie in England und ist von dort freiberuflich journalistisch tätig.

Porträt von Melissa Wessel
© WDR / Müller
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