Tourismus im Frühsommer

Die Invasion der ratternden Rollkoffer

Touristen gehen mit Rollkoffern einen Gehweg in Berlin-Mitte entlang.
Der Tourismus ist zurück und noch sind Menschenansammlungen ungewohnt, aber Anne Backhaus meint: Freut euch über die neue Reisefreiheit. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Überlegungen von Anne Backhaus |
Erstmals seit Beginn der Pandemie reisen nun fast so viele Menschen wie zuvor. Die damit verbundene ungewohnte Enge führt zu Konflikten, beobachtet die Autorin Anne Backhaus – und plädiert für mehr Toleranz gegenüber Reisenden.
Plötzlich ist es so voll hier. Im Café kein Platz mehr frei. Der Weg zum Supermarkt ein Slalom durch Unbekannte. Die laufen langsam und gerne nebeneinander, damit niemand sonst Platz auf dem Bürgersteig findet. Die bleiben abrupt stehen, fotografieren ständig. Die reden zu laut. Die umklammern ihre Taschen, tragen alle die gleiche sportliche Steppjacke.
Die Touristinnen und Touristen sind zurück: überall in Deutschland, von den Küsten im Norden bis tief an die bayerischen Seen. Sie verirren sich in den Bergen, schieben sich an Sehenswürdigkeiten in den Städten entlang. Rattern mit ihren Rollkoffern wie Züge durch unser Zuhause. Und am Bahnhof stehen sie mit dem Gepäck im Weg herum.

Fast 36 Millionen Übernachtungen im April

Das liegt nicht nur am 9-Euro-Ticket, sondern vor allem am Ende vieler Corona-Auflagen. Bereits im April meldete das Statistische Bundesamt 35,7 Millionen Übernachtungen von in- und ausländischen Gästen in Deutschland. Mehr als viermal so viele wie im Jahr zuvor, wenn auch knapp 12 Prozent weniger als im April 2019, bevor die Pandemie das Reisen zum Erliegen brachte.
Die nahenden Sommerferien werden aber vermutlich für eine Zunahme an Reisenden sorgen, denn viele besuchen derzeit lieber noch Orte in ihrem Heimatland.
Während Wirtschaft und Tourismusverbände jubeln, offenbart der anrollende Massentourismus, wie wenig Menschenfreund wir sind. Die Pandemie hat das ganz gut verschleiert.

Wieder erlebbare Nähe zu anderen irritiert

Wir haben ja unter Social Distancing gelitten. Uns an dem Gedanken festgehalten, wie schön es wird, wenn endlich wieder alles normal ist. Jetzt ist es wieder fast normal und wir sind irritiert.
Viele fühlen sich nach Jahren des Abstandhaltens unwohl, wenn sich fremde Schultern an ihren reiben, wenn Bahnen und Restaurants proppenvoll sind. Die Pandemie ist nicht vorbei, nicht aus unseren Köpfen verschwunden. Doch uns ist entfallen, wie leicht wir einander auf die Nerven gehen. Wie schnell wir die anderen verachten können.
Der abwertende Blick auf Touristen, er ist nahezu so alt wie der Tourismus selbst. Kritik am Urlauber gibt es seit dem frühen 19. Jahrhundert. 1817 maulte der britische Dichter Lord Byron, Rom sei "von Engländern verseucht - eine Menge glotzender Tölpel". Und in der Schweiz "vergiftete" der Anblick seiner Landsleute ihm "von Weitem die gesamte Szenerie". Der deutsche Schriftsteller Gerhart Hauptmann bemängelte 1897: "Die ganze träge Masse des deutschen Philistertums wälzt sich über die Berge, jahraus jahrein, und als dieselbe träge Masse wieder zurück."
Massentourismus ist ohne Frage eine Herausforderung und häufig eine Plage für Einheimische, Infrastruktur und ganze Landstriche. Die Last oft genug von politischen Entscheidern ignoriert, heute mehr denn je.

Mehr Toleranz gegenüber Reisenden

Doch auch unser Blick auf andere Menschen ist befremdlich. Nach gut zweihundert Jahren Gequengel über Reisende sind wir wenig originell, wenn wir Touristen das Menschsein absprechen. Wir rümpfen auch unsere Nasen und nutzen das als Distinktionsmerkmal, wie es einst die Aristokraten taten als erst wohlhabende Bürger und schließlich, ach du Schreck, die Arbeiter auf Reisen gingen: Sich erholen wollten.
Haben wir denn gar nichts gelernt? Können wir nicht gerade jetzt Beate und Heiner, Leon und Marie als Menschen erkennen, die auch allein zu Hause saßen, die Angst hatten, vielleicht krank waren, mal raus aus dem Homeoffice müssen?
Können wir uns nicht gewahr machen, dass wir oft genug selbst Touristen sind, egal ob mit großem oder kleinem Budget, die mehr achtgeben sollten. Dass wir nicht anders sind, manchmal gar fern der Heimat eine Steppjacke überstreifen.
Und es wirklich schön ist, dass wir alle nach mehr als zwei Jahren Pandemie wieder reisen und uns sehen können.

Anne Backhaus, 1982, ist freie Autorin und Reporterin aus Hamburg. Ihr Schwerpunkt sind Reportagen und Interviews mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Themen, die sie für unter anderem „Die Zeit“, Zeit Magazin“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Der Spiegel“ schreibt. Außerdem unterrichtet sie an Journalistenschulen und der Akademie für Publizistik. Backhaus wurde für diverse Medienpreise nominiert und von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für den besten Tageszeitungstext des Jahres 2017 ausgezeichnet.

Anne Backhasu posiert vor einem blauen Hintergrund für ein Foto.
© Anne Backhaus
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