Ahmad Milad Karimi, Dr. phil., geb. 1979 in Kabul, ist ordentlicher Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster. 2019 erhielt er den Voltaire-Preis für "Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz" der Uni Potsdam und den Deutschen Dialogpreis in der Kategorie "Wissenschaft und Bildung" des Bundes der Deutschen Dialoginstitutionen.
Das Virus kennt keine Grenzen
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Unabhängig von Nationalität, Hautfarbe, sozialem Status: Indem das Coronavirus alle gleichermaßen bedroht, hebt die Pandemie die Grenzen zwischen den Menschen auf. Höchste Zeit für eine neue Flüchtlingspolitik, meint der Philosoph Ahmad Milad Karimi.
Von der jüdischen Philosophin Hannah Arendt ist der Gedanke überliefert, dass Menschsein das Recht bedeute, Rechte zu haben. Hannah Arendt war selbst Flüchtling und sie sah, dass sich der romantische Begriff "Flüchtling" gewandelt habe, dass er "die Vorstellung von etwas zugleich Verdächtigem und Unglückseligem" errege.
Heute sind über 68 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie noch nie. Und was sagt das über unsere Welt aus? Wer sind die Flüchtlinge von heute?
Tränengas an den Grenzen der EU
Die politische Entschiedenheit wurde vor einem Jahr klar artikuliert: Dass die Flüchtlinge, die an den Grenzgebieten Griechenlands angekommen sind, nicht in die Festung Europas zugelassen werden dürfen. Sie blieben an diesen Grenzen, sie wurden mit Tränengas zurückgedrängt.
Nicht selten wurden sie auch von maskierten Gruppen gewaltsam attackiert. Von welchen Rechten die Rede ist, wenn Menschsein das Recht bedeute, Rechte zu haben, blieb dabei offen. Um die Grenzen der EU zu schützen, mussten die unglückseligen Flüchtlinge außerhalb der Grenze bleiben.
Mit dem Ausbruch der viralen Pandemie haben sich der politische Blick und das Interesse der Öffentlichkeit nach innen gewandt. Die Pandemie hat uns fest im Griff. Sie hat sich in unser Leben eingeschrieben und sie verändert unsere Lebensweise.
Eine letzte Erlösung erhoffen wir uns durch die Impfung. Aber verändert sie auch unsere Sichtweise, unsere Wahrnehmung?
Wir fliehen vor der eigenen Situation
Die Krise hat uns zu den Flüchtlingen unserer eigenen Situation gemacht. Grenzen, die wir sonst als Schutz gegen andere errichtet haben, benötigen wir für den Schutz der anderen und uns selbst, indem wir uns in unseren eigenen vier Wänden einkerkern.
Der Schutz des Lebens, die Sorge für die anderen gehören zu unserem Alltag. Die humanistisch-demokratische Einsicht, dass wir die gleichen Rechte haben, dass wir alle, weil wir Menschen sind, gleich sind, erkennen wir durch das Virus. Wer ist aber "wir"?
Vielleicht ist die Einsicht, dass wir vor dem Virus alle gleich sind, die eigentliche Erlösung, die sich leise in uns einschreibt, im Antlitz der Flüchtlinge uns selbst zu erkennen. Das Virus entscheidet nicht, wer legal und wer illegal, wer eine Frau, wer ein Mann ist, wer die weiße oder wer die schwarze Hautfarbe hat.
Die Pandemie dringt in den Menschen ein
Die List einer viralen Pandemie besteht nämlich darin, dass sie uns nicht von außen bedroht. Sie dringt in den Menschen hinein und nimmt so eine menschliche Gestalt an.
Die äußere Grenze, womit wir uns gegen die Flüchtlinge schützen, ist nicht nur eine territoriale Grenze, sondern auch immer eine Grenze zwischen Menschen, die aber in dieser Krise zu einer inneren Grenze wird.
Nicht die Flüchtlinge bedrohen primär unseren Wohlstand, unser friedliches, soziales Leben, sondern wir alle sind potenzielle Bedrohung füreinander. Weil jede Berührung, jede Grenzüberschreitung Leid verursachen kann. Wir müssen auch zu den Menschen, die uns nicht fremd sind, wie die namenlosen Flüchtlinge, Grenzen setzen, selbst zur Grenze werden.
Umso mehr sind wir gefragt, wachsam, solidarisch, mitfühlend und werteorientiert aufeinander zu achten, füreinander zu sorgen, sodass die Grenzen entschwinden, weil Grenzen trennen, Distanz schaffen, vereinsamen lassen, kurz: Schmerz bewirken.
Schutz der Menschenwürde im Mittelpunkt
Diese Wachsamkeit, die wir auch der Pandemie verdanken, müsste uns jetzt und nach der Krise begleiten, um zu einer menschenrechtskonformen Flüchtlingspolitik zu gelangen – entgegen der Forderung einer Obergrenze, die die Menschen quantifiziert und zugleich ungleich macht.
Denn im Angesicht der Menschenwürde ist es keine Grenze wert, geschützt zu werden, wenn nicht zuvor, die Menschen, die an dieser Grenze ihr Recht auf Würde einfordern, geschützt werden.