Droht nach dem Homeschooling mehr Schulangst?
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Wenn in der Pandemie Schulen schließen, fehlt Kindern und Jugendlichen ein wichtiger Teil des Lebens. Experten beobachten schon vermehrt psychische Krankheiten in dieser Generation. Nach den Ferien erwarten sie nun eine Zunahme der "Schulangst".
Das Haus verlassen, andere Menschen treffen: Was die einen nach Lockdown und Kontaktbeschränkungen zu schätzen gelernt haben, ist für eine Reihe Kinder und Jugendliche inzwischen ein Problem.
Sie haben Ängste entwickelt, beobachtet Professorin Eva Möhler, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychologie am Universitätsklinikum des Saarlandes. "Also insbesondere Trennungsängste, aber auch Lustlosigkeit", sagt sie.
"Das Zuhause ist das Normale geworden und rauszugehen hat für viele Kinder etwas Gefährliches bekommen. Oder auch Kontakte zu anderen Menschen werden als gefährlich erlebt."
Die Pandemie hat Angst verstärkt
Laut einer Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie leiden aktuell sieben bis acht Prozent der Schulpflichtigen unter einer Angststörung. Eva Möhler erwartet in dem Zusammenhang auch einen Anstieg der Schulphobien. Deren Ursachen sind in der Regel in massiver Trennungsangst zu suchen.
"Manchmal haben wir da im Hintergrund, dass das Kind sich Sorgen macht um Eltern. Das ist in der Pandemie natürlich auch mehr geworden, dass man Angst hat", erklärt sie. "Wird Mama krank? Passiert der was? Muss ich zu Hause bleiben, muss ich gucken? Oder auch, dass es zu Hause keinen Streit gibt."
Nach den Sommerferien, so vermutet Eva Möhler, könne es einen wesentlich stärkeren Anstieg an Schulphobien geben, als in den Jahren vor der Pandemie. "Denn Trennung ist natürlich etwas, was man üben muss und kann. Und ein täglicher Schulbesuch ist natürlich ein tägliches Trennungstraining, das dann zu einer Gewöhnung führt. Aber das ist im letzten Jahr fast vollständig weggefallen, sodass wir da diesen Anstieg erwarten."
Schulphobie und Schulangst unterscheiden sich
Von der Schulphobie unterscheiden Fachleute die Schulangst. Die hat wiederum mit konkreten Situationen in der Schule zu tun, erklärt Martin Knollmann. Er ist der leitende Psychologe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LVR-Klinikums Essen.
Soziale Ängste im Rahmen einer sozialen Phobie nennt er als ein Beispiel. "Was denken andere über mich? Nehmen die mich als peinlich wahr? Wenn ich mich jetzt melde, mache ich dann einen Fehler?"
Weitere Auslöser sind Mobbing, soziale Konflikte und Leistungsängste. "So nach dem Motto: Ich habe viel zu hohe Ansprüche. Jede Arbeit muss eine Eins plus sein. Oder, dass man sagt: Ich stehe jetzt schon in vier Fächern auf Fünf. Ich schaffe das hier alles nicht mehr."
Folgen bis ins Erwachsenenalter
Häufig liegen zugleich andere psychische Probleme vor, Depressionen etwa oder ein gestörtes Sozialverhalten. Die Folge ist bei allen Ursachen gleich: Betroffene vermeiden die Schule.
Eine beunruhigende Entwicklung, so Martin Knollmann: Denn das Vermeidungsverhalten könne schlimmstenfalls chronisch werden und die Betroffenen bis ins Erwachsenenalter hinein einschränken.
"Es hat einen erheblichen Einfluss auf die Bildungskarriere, auf die Teilhabe-Chancen, auf die berufliche Entwicklung, aber auch auf die psychische Gesundheit und das psycho-soziale Funktionieren", erklärt der Psychologe.
Um das zu vermeiden, kann Kindern und Jugendlichen in psychotherapeutischen Einrichtungen geholfen werden. Welche Maßnahmen in der Therapie notwendig sind, hängt dabei davon ab, wie stark das schulvermeidende Verhalten jeweils ausgeprägt ist. Und: Je schneller eine Therapie beginnt, desto besser für den Behandlungsprozess.
Zurück in die Schule – oft ein harter Weg
Denn: "Das ist ja ein Problem, das zur Chronifizierung neigt. Also da zählt jeder Tag! Und je schneller da zumindest wieder ein Fuß in die Schule gesetzt wird, und sei es erst mal nur zwei Stunden, da hat man plötzlich wieder ganz andere Behandlungsoptionen", sagt Martin Knollmann.
Lerne er dagegen ein Kind kennen, das wegen Ängsten und Depressionen vor drei Monaten das letzte Mal in der Schule war, dann werde der Weg zurück hart.
Häufig entwickle sich eine Schulvermeidung schleichend, sagt Martin Knollmann – oft über körperliche Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen, die wiederkehren, ohne dass eine Krankheit gefunden wird.
Manchmal hilft ein Trick
In der Therapie werden die Betroffenen dann auf dem Weg zurück in die Schule mit verschiedenen Maßnahmen unterstützt.
"Oft ist der Trick, also eine Maßnahme, die ich sehr oft verwende, nicht zu fragen: Bist du nun gesund oder krank oder kannst du noch zur Schule gehen? Sondern ich frage ganz gerne: Mensch, wie viel Schule schaffst du denn gerade?" In manchen Fällen hilft auch ein Attest, mit dem das Kind für eine bestimmte Zeit nur stundenweise in die Schule geht.
Auch bei der Lösung von Konflikten wird geholfen, zum Beispiel bei Mobbing. "Na klar, da brauchen die Schutz. Da muss ich dann vielleicht mal mit der Schule telefonieren. Oder, wenn es familiäre Konflikte gibt."
Selbstwahrnehmung stärken
Eva Möhler und ihr Team haben ein Therapieprogramm, in dem die Kinder und Jugendlichen für die eigene Selbstwahrnehmung sensibilisiert werden. "Da geht es darum, dass Kinder erkennen, dass sie angespannt sind oder ob sie angespannt sind, wie angespannt sie sind."
Die Lösungsmöglichkeiten und Strategien seien vielfältig. "Da gibt es viele Dinge, die man machen kann, um seine Anspannung, seine Angst oder Sorge wieder herunterzuholen. Dass man da etwas gegen tun kann. Und das ist für die Kinder schon mal etwas ganz Wichtiges."
Dafür bekommen die Kinder ein Notfallmäppchen mit individuellen Gegenständen, die zum Beispiel Geruchs- oder Berührungsreize auslösen: kleine Kuscheltiere etwa, Legosteine oder geschmacksstarke Kaugummis.
"So ein starker Geschmacksreiz, der holt mich ins Hier und Jetzt, der holt mich aus einer Angstwelle heraus. Da merke ich, ich bin jetzt da und ich lebe noch", erklärt sie.
Geschlossene Schulen – Hindernis bei der Früherkennung
Allerdings: Ein rein therapeutisches Thema ist die Schulangst nicht, sagt Martin Knollman. Nötig sei mehr Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Parteien.
"Am besten ist, dass ich die Kinder und Jugendlichen erst gar nicht kennenlerne", sagt der Psychologe. "Weil schon früh genug die Schule und Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter gesagt haben: Moment mal, da ist was. Da wird jemand gemobbt, der hat sich verändert." Schulbasierte Teams, die regelmäßig tagen, seien eine Art Frühwarnsystem.
Gerade das aber sei nicht gewährleistet, wenn die Schulen geschlossen sind. Und tägliches Trennungstraining gegen Schulphobien auch nicht, sagt Eva Möhler. "Trennung als Problem kann natürlich nicht zu Hause behandelt werden, sondern eher dadurch, dass die Kinder wirklich üben, den häuslichen sicheren Rahmen zu verlassen."