Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff
S. Fischer Verlag, 416 Seiten, 24 Euro
Ein moralischer Appell
Der Inder Pankaj Mishra gehört zu den wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit. Er schreibt Romane und Sachbücher – mit seinem Buch "Das Zeitalter des Zorns" versucht er unsere globale Gegenwart in den Blick zu bekommen.
Die Welt, die Pankaj Mishra in seinem neuen Buch beschreibt, ist zum Fürchten. Es ist unsere Gegenwart. Nichts mehr ist geblieben von den hochfliegenden Träumen vom Siegeszug der Demokratie und der Freiheit, von globalem Frieden und Wohlstand nach dem Fall der Mauer 1989. Stattdessen sind die Konfliktherde immer zahlreicher geworden. Die erstrebte Weltordnung ist einer Weltunordnung gewichen. Ein Ende der Kriege im Nahen und Mittleren Osten und anderswo ist nicht in Sicht. Die Terroranschläge in westlichen Städten gehören schon fast zum Alltag. Mishra spricht daher von einer universellen Krise, die er drastisch ins Bild setzt.
"Konventionelle Kriege zwischen Staaten werden inzwischen in den Schatten gestellt von Kriegen zwischen Terroristen und Terrorbekämpfern, zwischen Aufständischen und denen, die sie bekämpfen; außerdem gibt es Finanzkriege und Cyberwars, Kriege um und durch Information, Kriege um die Kontrolle des Drogenhandels und der Migration wie auch Kriege zwischen städtischen Milizen und Mafiagruppen. Zukünftige Historiker werden dereinst vielleicht in diesem unkoordinierten Durcheinander den Beginn des dritten – längsten und seltsamsten – aller Weltkriege erblicken: eines Krieges, der wegen seiner Allgegenwart einem globalen Bürgerkrieg nahekommt."
Gewalt als Akt der Notwehr
Das mag überzeichnet sein, doch dass unsere Welt im neuen Jahrtausend friedlicher geworden sei, wird wohl keiner behaupten. Mishras Diagnose ist deswegen auch nicht neu. Bemerkenswert ist allerdings seine Begründung für die Verwerfungen unserer Zeit. In seinem schwungvoll und elegant geschriebenen Buch nimmt er eine ganze Epoche in den Blick, um so unsere Gegenwart besser zu verstehen. Denn die gigantische Unordnung ist für Mishra verbunden mit dem Aufstieg des Industriekapitalismus im 19. Jahrhunderts – und seitdem eine dauerhafte Begleiterscheinung. Die beiden Weltkriege, totalitäre Regime, Völkermorde sind nur besonders rabiate Ausprägungen. Den Grundkonflikt sieht Mishra darin, dass der Kapitalismus großen Reichtum für einige ermögliche, aber weitaus mehr Menschen sich zurückgesetzt und betrogen fühlten. Die Ausbrüche von Gewalt, die den Modernisierungsprozess begleiten, müssten daher gewissermaßen als Akte der Notwehr verstanden werden.
"Ein angstvoller Kampf ums Dasein, eine tiefe Furcht vor ‚Dekadenz’ und Verweichlichung und eine messianische Sehnsucht nach einer strengen Ethik, einem Neuen Menschen und einer Neuen Ordnung wurden im späten 19. Jahrhundert zu weltweiten Phänomenen. Sie befeuerten Ideologien, die miteinander unvereinbar oder sogar gegensätzlich zueinander erschienen und dennoch in wechselseitiger Symbiose wuchsen: Zionismus, islamischer Fundamentalismus, Hindu-Nationalismus, buddhistischer Ethnozentrismus wie auch Neuer Imperialismus, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus."
Reiz der Position des Benachteiligten
Pankaj Mishra kümmert sich jedoch mitnichten um die blutigen Exzesse der Ideologen und Demagogen des 20. Jahrhunderts. Er interessiert sich vielmehr für ihre Vorgänger. Keiner habe so früh und so genau das Unbehagen der Entwurzelten beschrieben, die mit komplexen Gefühlen von Neid und Faszination gleichermaßen zu kämpfen hatten, wie der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Der Genfer sei selbst ein Außenseiter in den kosmopolitischen Salons der Aufklärung gewesen. Er habe deshalb besser als andere verstanden, dass die Position des Benachteiligten einen ganz eigenen Reiz entfalte.
"Er war der Prototyp eines Mannes, der trotz seines offenkundigen Erfolgs das Gefühl hat, am unteren Ende der Pyramide zu stehen, und der weiß, dass er niemals in die bestehende Ordnung passen wird ... In seiner Einsamkeit glaubte er wie viele Konvertiten einer Ideologie oder Religion, nicht korrumpierbar zu sein. Dieser Glaube an die eigene Nichtkorrumpierbarkeit verlieh seiner Befreiung von sozialen Konventionen eine heroische Aura und verwandelte seine Machtlosigkeit in ein Allmachtsgefühl. Auf seinem Weg von der Opferrolle zu moralischer Überlegenheit vollführte Rousseau eine Dialektik des Ressentiments, die in unserer Zeit alltäglich geworden ist."
Das Ressentiment der Außenseiter gegen die Erfolgreichen ist der wichtigste Schlüssel für Mishra, um die Konflikte unserer Zeit zu erklären. Schon Nietzsche hatte "ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache" gesehen, "unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen". Aber führt wirklich eine direkte Linie von Rousseau über die deutschen Romantiker und den russischen Anarchisten Bakunin, denen Mishra jeweils einzelne Kapitel widmet, zum IS? Noch hat sich keiner aus den Reihen der Terrorgruppe statt auf Allah auf Rousseau berufen. Den politischen Philosophen, der für einen Gesellschaftsvertrag und direkte Demokratie plädierte, lässt Mishra ohnehin völlig außer Acht. Sein Buch, das große Entwicklungslinien aufzuzeigen versucht, kommt auch an anderen Stellen nicht ohne grobe Vereinfachungen aus. Mishra will zwar die Verlierer und Vergessenen in den Blick bekommen, aber auf ihre Lebensumstände schaut er kaum genauer. Auch konkrete Lösungen für die universelle Krise unserer Zeit bietet er nicht an. Sein Buch schließt stattdessen mit einem moralischen Appell:
Leidenschaftlich und emphatisch
"Es reicht nicht länger aus zu fragen: 'Warum hassen sie uns?' Und es reicht auch nicht mehr aus, politischer Verderbtheit, finanziellen Machenschaften und den Medien die Schuld zu geben. Der globale Bürgerkrieg steckt tief in uns selbst; eine Maginot-Linie läuft quer durch unser Herz und unsere Seele. Wir müssen unsere eigene Rolle innerhalb einer Kultur überprüfen, die unstillbare Eitelkeit und platten Narzissmus fördert. Es ist notwendig, eine Welt ohne moralische Gewissheiten und metaphysische Garantien nicht nur zu interpretieren, damit die Zukunft nicht so grauenvoll wird. Vor allem müssen wir intensiver nachdenken über unsere eigene Verwicklung in alltägliche Formen der Gewalt und Enteignung und über unsere Gefühllosigkeit angesichts des allenthalben zu beobachtenden Leids."
Das ist leidenschaftlich und emphatisch formuliert. Tatsächlich mag man eine allgemeine Abstumpfung beklagen, oft genug aber auch ob der Ungerechtigkeit und Brutalität des Lebens schier verzweifeln. Doch vielleicht muss man Gegenwart und Zukunft dennoch nicht als so unheilvoll und ausweglos betrachten wie Pankaj Mishra das tut. Unsere Welt kennt nicht nur Eitelkeit und Gier, sondern auch das Mitempfinden und die Macht der Vernunft. Die offene Gesellschaft hat sich überdies immer wieder als enorm widerstands- und lernfähig erwiesen.