Panorama der Reformationen

Auf monumentalen 1000 Seiten entwirft Diarmaid MacCulloch ein Panorama der Reformation als definierende Epoche Europas. Der Professor für Kirchengeschichte an der Universität von Oxford zeichnet dabei eine Mentalitätsgeschichte des Religiösen. Sein Blick vom Rande mit Mut zur Meinung ist für Normalsterbliche immer gut lesbar geschrieben.
Im Jahr 2017 ist es 500 Jahre her, dass Martin Luther seine 95 Thesen – so will es die Überlieferung, auch wenn das tatsächliche Ereignis weniger spektakulär war – an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug. Der Beginn der Reformation, an deren Ende in Europa wenig so war wie vorher. Und doch ein Ereignis, das in seiner Wichtigkeit kaum mehr präsent ist. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat eigens eine Lutherdekade ausgerufen, um auf das Jubiläum hinzuarbeiten.

Erfolgreicher vielleicht als PR-Aktionen und Gedenkveranstaltungen könnte da das Buch des britischen Kirchenhistorikers Diarmaid MacCulloch sein. Auf monumentalen 1000 Seiten entwirft er ein Panorama der Reformation als definierende Epoche Europas. Oder genauer: ein Panorama der Reformationen. Denn MacCulloch behandelt die unterschiedlichen Reformationen in den verschiedenen europäischen Ländern und Regionen, versucht sie zu verstehen als Ausdruck derselben umwälzenden Ideen, aber auch als historische Ereignisse eigenen Rechts. Der englische Untertitel "Europe’s House Divided" – sinngemäß vielleicht: Europas zerteilte Einheit – deutet das für MacCulloch wichtigste Ergebnis zweier turbulenter Jahrzehnte an. Schade eigentlich, dass er in der deutschen Übersetzung weggefallen ist.

Der gesamteuropäische Blickwinkel führt fast naturgemäß dazu, dass Martin Luther aus dem Fokus rückt, oder genauer: aus dem alleinigen Fokus. MacCulloch zeichnet einen Mönch mit überwältigendem Sendungsbewusstsein und Dringlichkeit vor einer katholischen Kirche, die nicht völlig korrupt und zerstört ist, aber doch den Bedürfnissen der Menschen nach Gewissheit über die Erlösung nicht mehr gerecht werden kann. Luther ist für MacCulloch der entscheidende Katalysator, doch die Reformation ist nicht die Suche nach einem gnädigen Gott mit den Mitteln der Theologie. Ein distanziertes und ein wenig paradoxes Verhältnis. Das führt zu Oberflächlichkeiten im Luther-Bild, einige Kritiken von deutschen Kirchengeschichtlern haben das bereits angemerkt.

Ein bisschen meint man hinter ihnen aber auch die Kränkung zu spüren, die Reformation des Martin Luther nicht mehr als / das / deutsche Ereignis zu haben. MacCullochs Sicht befreit auf der anderen Seite dazu, auch den Luther der Bauernkriege und den Luther der judenfeindlichen Schriften im Kontext Reformation wahrnehmen zu können, ihn nicht einfach verschämt zu verschweigen als Ausrutscher neben dem großen theologischen Durchbruch.

MacCulloch entwirft ein historisches Panorama, weniger ein theologisches. Und er zeichnet eine Mentalitätsgeschichte des Religiösen in dieser bewegten Epoche. "Eine gute Predigt war ein volkstümliches Schauspiel, und das in viel größerem Maß als die Konkurrenzveranstaltungen der Schaubühnen. In Shakespeares London wurden hundert Predigten pro Woche gehalten, wohingegen es nur dreizehn Theater gab, die nicht alle zur selben Zeit geöffnet hatten." Religion und religiöser Umbruch als Schauspiel einer sehr fernen und sehr fremden Zeit – MacCulloch geht dem nach in der Auseinandersetzung mit Magie und Hexenglaube und in der Debatte um Sexualität. Denn, so seine Überzeugung, ein entscheidendes Erbe der Reformation ist, dass die Denker und Entscheider mit einem Mal keine zölibatären Kleriker, sondern Familienväter waren. Konservative Leser mochten diese Kapitel nicht, so Diarmaid MacCulloch, er dagegen fände eine blutleere Beschäftigung mit Reformation unverantwortlich.

Diarmaid MacCulloch lehrt Kirchengeschichte in Oxford, ist spezialisiert auf die Reformationsgeschichte der britischen Inseln und schreibt natürlich auch sein Gesamtpanaroma aus dieser Perspektive. Das ist im ersten Moment ein wenig gewöhnungsbedürftig, weil es mit manchen scheinbar selbstverständlichen Gewichtungen bricht. Aber der Blick vom Rande eröffnet einen erfrischenden neuen Blick auf eine Epoche gesamteuropäischen Umbruchs, die umkämpft war vor allem in den Randgebieten, in Polen z. B. oder in Transsylvanien, dem heutigen Rumänien.
MacCulloch hat sein Material in bester angelsächsischer Tradition aufbereitet –gründlich, aber mit Mut zur Meinung, für Normalsterbliche verständlich und immer gut lesbar geschrieben.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Diarmaid MacCulloch: Die Reformation 1490-1700
(Reformation. Europe’s House Divided. 1490-1700)
Aus dem Englischen von Heike Voß-Becher, Klaus Binder und Bernd Leineweber
1024 Seiten, 54 Abbildungen
Deutsche Verlags-Anstalt 2008, 49,95 Euro