"Die orthodoxe Kirche will und kann nichts ändern"
Der Ostkirchen-Experte Thomas Bremer aus Münster weiß um die Probleme der orthodoxen Kirchen. Er erläutert ihr Verhältnis zur Macht und ihre mühsame Suche nach mehr Kooperation miteinander. Scheitert ein Konzil, auf das man sich über 50 Jahre lang vorbereitet hat?
Philipp Gessler: Wir wollen das von Ulrich Pick Gehörte noch einmal vertiefen, und zwar mit einem der besten Experten zu diesem Thema hierzulande. Thomas Bremer ist Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der katholischen, theologischen Fakultät der Universität Münster. Meine erste Frage an ihn war, ob es nicht auch etwas komisch sei, dass ein Konzil, das seit mehr als 50 Jahren geplant ist, immer noch platzen kann?
Thomas Bremer: Ja, man hat 1961 eigentlich angefangen, also das sind 55 Jahre, und man hat die letzten zwei Jahre sehr intensiv für die Vorbereitungen verwendet. Es gab einen Beschluss aller Vorsteher der orthodoxen Kirchen, also auch derjenigen, die jetzt das ablehnen vor zwei Jahren, dass es dieses Jahr am orthodoxen Pfingstfest stattfinden soll.
Man hat Papiere verabschiedet, man hat sich auf ein Regelwerk für das Konzil geeinigt, und das ist jetzt eben wenige Wochen vorher, dass die bulgarische Kirche als erste diese Papiere abgelehnt hat, die ihre Vertreter aber mitunterzeichnet haben und die sie auch seit langer Zeit gekannt haben. Wenn man allein das logistische Problem bedenkt, das sind vielleicht etwas 400 Menschen, die dorthin kommen nach Kreta, da ist ein großes Tagungszentrum gebucht, die meisten haben ihre Flugreisen schon geordert und so weiter.
Also es ist einfach wirklich eine sehr, sehr schwierige Situation. Das scheint so zu sein, wenn sich das durchsetzt, dass es dann eben tatsächlich nicht stattfinden kann.
Wie eine Vorbereitung 50 Jahre dauern kann
Gessler: Wie kann das eigentlich sein, dass ein Vorbereitung 50 Jahre dauert, warum ist das so schwierig?
Bremer: Man muss natürlich bedenken, dass sich die Welt in der Zeit seit 1961 mehrfach verändert hat. Das hat angefangen wenigstens im zeitlichen, vielleicht auch im inhaltlichen Zusammenhang mit dem zweiten vatikanischen Konzil der katholischen Kirche, die orthodoxe Kirche, die sich als konziliare Kirche versteht und dann das versuchen wollte auch in der Moderne umzusetzen.
Der damalige Patriarch von Konstantinopel, Athenogoras, hat das sehr intensiv betrieben, hat Vertreter der einzelnen orthodoxen Kirchen eingeladen. Das war auch ein neues Phänomen in der Moderne, dass sich die Vertreter aller orthodoxen Kirchen getroffen haben. Man hatte eine sehr lange Liste von Themen, über 100 Themen, die man für wichtig erachtete. Diese Themen wurden dann zusammengestrichen auf immer weniger. Jetzt sind noch sechs übergeblieben.
Dann muss man auch bedenken, das war in der Zeit des Kalten Krieges. Die russisch-orthodoxe Kirche war doch in sehr starkem Maße abhängig von dem, was die sowjetische Regierung zugelassen hat und nicht zugelassen hat.
Dann war nach dem Jahr 1989/90 Religionsfreiheit in Osteuropa, Verschlechterung der ökumenischen Beziehungen, dann gibt es einen schwelenden Konflikt, oder vielleicht keinen Konflikt, aber doch dauernde Schwierigkeiten zwischen den beiden wichtigen Kirchen, dem des Patriarchats von Konstantinopel, das in der orthodoxen Vorstellung an erster Stelle der Reihe steht, und dem Patriarchat von Moskau, das mit Abstand die größte orthodoxe Kirche ist.
Man darf auch nicht vergessen, dass Dinge wie etwa die Ereignisse in Syrien, die Ereignisse in der Ukraine vor allem und einige andere Streitigkeiten zwischen einzelnen Kirchen auch noch eine Rolle spielen. Das hat eben dazu geführt, dass man zwar sich intensiv vorbereitet hat, aber dass es sein kann, dass das Konzil nicht stattfindet.
Vielleicht sollte man noch hinzufügen, dass man sich auch darauf geeinigt hat, nur Texte zu akzeptieren in diesem Konzil, auf die man sich im Vorfeld geeinigt hat und die beim Konzil noch vielleicht verändert werden können. Es werden aber keine neue Themen dort aufkommen und behandelt werden können, und von den wichtigen Texten gibt es einige, bei denen man im Vorfeld keine Einigkeit erzielen konnte, die deswegen nicht behandelt werden.
Fastenvorschriften, die man heute kaum einhalten kann
Gessler: Aber sind nicht die Themen von vor 50 Jahren im Grunde veraltet? Man kann doch nicht ein Konzil machen mit alten Themen. Das hat doch überhaupt keinen Sinn mehr.
Bremer: Also zum einen hat man die Texte ja tatsächlich überarbeitet. Es gab zum Beispiel einen Text, der die Beziehung zu den anderen christlichen Kirchen regeln sollte und ein Text, der die Haltung oder die Position, die Sendung, wie sie sagen, die Sendung der orthodoxen Kirche in der Welt von heute, also in der Moderne, behandeln sollte.
Zum anderen muss man ja auch sagen, es hat keine solche panorthodoxe Veranstaltung seit vielen Jahrhunderten, oder man könnte vielleicht sagen, es hat es noch nie gegeben, und es gibt eine Reihe von Fragen, die die orthodoxe Kirche regeln wollte. Also zum Beispiel die Frage nach dem Eherecht, nach den kanonischen Vorschriften für die Ehe, oder nach den Fastenvorschriften.
Die Orthodoxie hat sehr strenge Fastenvorschriften, die man heute eigentlich kaum einhalten kann in der modernen Arbeitswelt. Also solche Dinge, die man einfach konkret regeln wollte und die vor 50 Jahren nicht anders waren als jetzt. Dann ein ganz wichtiger Bereich ist die Regelung der zwischenorthodoxen Beziehungen. Also zum Beispiel die Klärung der Frage, wie kann denn eine orthodoxe Kirche selbstständig werden.
Nehmen wir mal an, es gibt ja manche Ideen: Die Kirche in der Ukraine wollte einen höheren Grad von Autonomie oder Selbstständigkeit erlangen. Es besteht in der Orthodoxie keine Einigkeit darüber, wie das laufen soll, wer dafür zuständig ist, wer diese Selbstständigkeit gewährt. Darauf hat man sich auch bisher nicht einigen können.
Gessler: Sind denn die Dokumente überhaupt, wenn man denn unbedingt jetzt das Konsensprinzip auch durchhalten möchte in dem Konzil, sind die nicht so verwässert, dass das eigentlich überhaupt keinen Sinn hat, diese Dokumente zu verabschieden, weil jeder etwas anderes darunter versteht beziehungsweise überhaupt nichts drin steht?
Bremer: In den Dokumenten steht schon etwas drin. Die stehen ja im Internet. Man kann sich das ansehen. Natürlich hat man Kompromisse gefunden, aber andererseits ist es ja so, wie ich gesagt habe, dass man diejenigen Themen, bei denen man sich nicht einigen konnte, weggelassen hat. Die werden jetzt nicht behandelt. Es ist aber eine gewisse Gefahr tatsächlich, dass sich, wenn das Konzil stattfindet, dann nach 55 Jahren der Vorbereitung einige 100 orthodoxe Bischöfe treffen und vielleicht sich dann nur von den sechs jetzt vorliegenden Dokumenten auf ein oder zwei einigen können. Das wäre natürlich dann eine sehr unangenehme und peinliche Situation, wenn nach so langen Vorbereitungen dann praktisch nichts rauskommt.
Gessler: Ist es vorstellbar – das Zweite Vatikanum hat das ja in gewisser Weise vorgemacht –, dass man sich trifft und diskutiert?
Bremer: Dass man sich trifft und diskutiert ist natürlich vorstellbar, und es ist auch geplant. Allerdings ist die Situation anders als beim Zweiten Vatikanum aus dem Grund, weil damals in der katholischen Kirche, wenn man das etwas vereinfacht sagt, die Kurie den Bischöfen aus der ganzen Welt gegenüberstanden. Die Kurie wollte damals auch das Konzil mit eigenen Vorlagen sehr schnell zu Ende bringen, und dagegen haben die Bischöfe sich gewehrt, und ein Unternehmen, das für wenige Wochen vorbereitet oder gedacht war, hat dann eben drei oder vier Jahre gedauert.
Diese Konstellation ist jetzt in der orthodoxen Kirche nicht gegeben, deswegen glaube ich nicht, dass das so sein wird. Es ist auch so, dass die Bedingungen für die freie Diskussion doch relativ eingeschränkt sind. Es gibt nur wenige Minuten Zeit, die jeder sprechen kann.
Es ist auch so, dass nicht jeder Bischof eine eigene Stimme hat, sondern der Patriarch oder der Erzbischof, also das Oberhaupt einer orthodoxen Kirche, muss eine Stimme für seine ganze Kirche abgeben. Das heißt, wenn alle kommen würden, dann gäbe es insgesamt 14 Stimmen. Eine Stimme für jede Kirche. Ein Bischof, der damit nicht einverstanden ist, kann das zwar zu Protokoll geben, aber er hat keine Möglichkeit, dagegen zu stimmen, sondern eine Kirche muss ihre Stimme gesammelt abgeben. Das schränkt doch die Freiheit und die Möglichkeiten etwas ein.
"Ich würde das nicht dem russischen Präsidenten zuschreiben"
Gessler: Wie sehr spielt eigentlich gerade bei der russisch-orthodoxen Kirche die Machtpolitik Putins hinein? Ist das Konzil auch ein Forum dafür?
Bremer: Ich würde das nicht unbedingt dem russischen Präsidenten zuschreiben, sondern die russische Kirche selber hat eben gewisse Interessen und versucht, diese Interessen zum Teil sehr offensiv zu verteidigen. Es gibt eine kanonische Reihenfolge der orthodoxen Kirchen, die übrigens auch umstritten ist, aber die ersten Plätze sind nicht umstritten. Da ist eben Konstantinopel an erster Stelle und Moskau an fünfter Stelle.
Die Moskauer Kirche ist eben die größte, und sie ist ein wichtiger Machtfaktor in allen zwischenkirchlichen Beziehungen. Sie äußert sich auch zu politischen Fragen, auch zu militärpolitischen Fragen, wie etwa dem Syrienkrieg, aber ich würde nicht sagen, sie ist Instrument von Putin, sondern sie hat eben eigene Positionen, die sehr oft mit denen der russischen Regierung und übrigens ja auch mit dem der meisten Menschen in Russland übereinstimmen.
Gessler: Nun gibt es ja gerade in Russland diese enge Verquickung, von der Sie gesprochen haben zwischen der Macht und der Kirche, und man hat eine gewisse Ideologie, die auch vom Kreml verfolgt wird gegen den demokratischen, verweichlichten, zum Teil sogar homosexuellen, wie das genannt wird, Westen. Spielt das auch eine Rolle bei dem Konzil?
Bremer: Ja, das ist nicht nur eine Position der russisch-orthodoxen Kirche, sondern das hört man in vielen orthodoxen Kirchen. Man findet auch in vielen orthodoxen Kirchen eine andere Position, aber es gibt eben eine Sichtweise des Westens, die negativ ist und die relativ weit verbreitet ist in der orthodoxen Kirche und die eben besagt, dass der Westen eigentlich seine christlichen Grundlagen verraten habe und von denen er abgewichen sei.
Das könne man an solchen Dingen wie eben die Politik oder die Haltung gegenüber Homosexualität im Westen sehen, und es gibt eben auch einige andere Dinge, wo man das angeblich sehen könne. Man versucht dann einen Gegensatz zwischen einer orthodoxen christlichen Kultur und einer westlichen verfallenden Kultur aufzubauen.
Das sagen nicht alle Orthodoxen, aber es gibt eben welche, die das sagen, und diese Stimmen werden manchmal sehr laut. In einigen Kirchen sind sie sehr stark. Das führt übrigens auch dazu, dass zum Beispiel, in dem Dokument über die Beziehungen zu anderen christlichen Kirchen ist eben die Rede davon, dass es andere christliche Kirchen gibt, und es gibt Stimmen, die sagen, das kann nicht sein, es gibt nur eine Kirche, nämlich die orthodoxe und alle anderen sind Ketzer und Schismatiker, die von der wahren Kirche abgefallen seien und die eigentlich nur zurückkommen müssten zur wahren Kirche. Also sie wenden sich gegen die Benutzung des Wortes Kirche für die westlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften.
Gessler: Selbst die uralte katholische Kirche wird ja wohl von manchen als häretisch betrachtet.
Bremer: Ja, das ist so. Es gibt einige orthodoxe Theologen und einige Kirchenvertreter, die bestreiten, die stellen infrage, ob man die katholische Kirche überhaupt und ob man überhaupt irgendeine Glaubensgemeinschaft außerhalb der Orthodoxie als Kirche bezeichnen könne.
Das entspricht aber ein bisschen natürlich auch der früheren katholischen Haltung, die wir in der katholischen Kirche ja auch hatten, dass man eben von Kirche nur gesprochen hat, wenn man die katholische Kirche gemeint hat, und das Zweite Vatikanum hat erstmals festgestellt, dass es nicht nur, wie man gesagt hat, die getrennten Brüder gibt, also einzelne Personen, die christlich sind, aber nicht katholisch, sondern dass die wiederum eigene Kirchen und eigene Gemeinschaften haben. Also das ist nicht so lange her in der katholischen Kirche, dass man das ganz analog gesehen hat.
An der Tradition unverändert festhalten
Gessler: Ist nicht überhaupt ein panorthodoxes Konzil ein Widerspruch in sich, weil die Orthodoxie lebt doch davon, dass sich eben nichts ändert, dass immer alles bleibt, wie es ist?
Bremer: Na ja, wir wissen ja, und das Leben zeigt, dass eben nicht alles bleibt, wie es ist, sondern dass sich alles ändert, und natürlich sind die Lebensumstände, die wir heute haben, anders als die vor einigen Jahrhunderten. Das sieht und versteht die orthodoxe Kirche natürlich auch. Sie erhebt den Anspruch, dass sie nichts ändern will und nichts ändern kann an der Lehre und bezieht sich da auf die Tradition der alten Kirche. Sie will diese Tradition unverändert festhalten, aber man muss natürlich sich fragen, wie sieht das denn konkret aus im 21. Jahrhundert.
Wie sieht es aus in Zeiten von Flugzeugen und Smartphone und Computer, die wir benutzen und die die orthodoxen Bischöfe selber natürlich auch benutzen. Das heißt, man muss sich diese Frage stellen, wie die orthodoxe Kirche sich zu Fragen der Moderne stellt, und darauf sucht man eine Antwort. Insofern würde ich nicht sagen, es ist ein Widerspruch. Das Problem ist, ob man eben eine Antwort finden kann und ob man überhaupt eine Antwort finden kann, mit der alle einverstanden sein können.
Gessler: Nehmen wir mal an, das Konzil findet doch statt trotz aller Widrigkeiten. Wann würden Sie sagen ist es gescheitert und wann ist es erfolgreich?
Bremer: Wenn es stattfindet, dann ist es vielleicht nicht gescheitert, aber dann ist es ein sehr schwaches Zeichen, wenn eben die Ergebnisse, die das Konzil bringt, relativ schwach sind. Ich muss sagen, die Textentwürfe, die jetzt vorliegen, sind nicht besonders stark und nicht besonders überzeugend, und wenn dann einer oder zwei dieser Texte beschlossen werden, dann ist das nicht etwas, was nach so langer Vorbereitungszeit überzeugt.
Es gibt Stimmen und Überlegungen – und das wäre dann in meinen Augen wahrscheinlich wirklich ein guter Erfolg –, Stimmen und Überlegungen, die sagen, man sollte das sehen als Anfang eines konziliaren Prozesses, der vielleicht anders aussieht als jetzt dieses geplante Konzil, aber dass man in regelmäßigen Abständen Arten von Versammlungen von orthodoxen Bischöfen einführt, die dann eben so als synodales Gremium Überlegungen anstellen für die Gegenwart und die Zukunft der orthodoxen Kirche.
Wenn es so etwas gäbe, was eben auch dazu beitragen würde, dass die Unterschiedlichkeiten oder die unterschiedlichen Positionen und Meinungen der einzelnen orthodoxen Kirchen etwas sich annähern könnten, dann wäre das, glaube ich, ein guter Erfolg.
Man muss ja sagen, die Orthodoxie hat bis jetzt – es ist immer ein schwieriger Vergleich, aber man könnte sagen – seit 1200 Jahren, also seit dem späten achten Jahrhundert, ohne Konzil der gesamten Orthodoxie gelebt. Die Kirchen sind ja in sich völlig selbstständig, also auch der Patriarch von Konstantinopel ist kein Papst, der hat nicht Rechte über die anderen Kirchen, sondern nur über seine eigene Kirche, und dafür funktioniert es eigentlich überraschend gut, dass die orthodoxen Kirchen bis jetzt ganz gut zurecht gekommen sind und eben auch ein Bewusstsein dafür haben, dass sie zusammengehören und dass sie alle orthodox sind.
Wenn das also Ausdruck in einer solchen konziliaren Versammlung oder einem konziliaren Prozess auf Dauer finden würde, das wäre vielleicht eine interessante Entwicklung, aber es würde bedeuten, dass man eben die Divergenzen, die es jetzt zwischen den Kirchen gibt, überwinden muss.
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