Paolo Giordano: Den Himmel stürmen
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018
528 Seiten, 22,00 Euro
Generation Sinnsuche
Gruppensex, Selbstmord und biblisch anmutende Frosch- und Fliegenplagen: In "Den Himmel stürmen” passiert so viel Dramatisches wie noch nie in einem Roman von Paolo Giordano. Doch der Autor verliert das aus den Augen, was er am besten kann.
Wer "Die Einsamkeit der Primzahlen" gelesen hat, wird eine Szene aus dem Debütroman von Paolo Giordano wohl nie mehr vergessen: Mitschülerinnen zwingen die Protagonistin Alice, ein Bonbon zu essen, das sie vorher über den schmutzigen Boden der Umkleidekabine der Sporthalle geschleift haben. Man meint, beim Lesen Haare und Staub im Mund zu spüren, so plastisch ist der Moment beschrieben.
In Szenen wie dieser zeigt sich die große Stärke des 35-jährigen Schriftstellers aus Turin: Es gelingt ihm, die Leser ganz nah heranzurücken an seine Figuren, an das, was sie erleben, was sie fühlen. Auch in seinem Afghanistan-Roman "Der menschliche Körper" von 2012 und der melancholischen Novelle "Schwarz und Silber" von 2014 hat Paolo Giordano damit überzeugt.
Distanz statt Nähe zu den Figuren
Doch in seinem neuen Buch verlässt der Italiener diesen Weg des direkten Erzählens. Wir sind in "Den Himmel stürmen" nicht unmittelbar an der Seite von Ich-Erzählerin Teresa, als sie ihre große Liebe Bern kennenlernt, sondern erfahren aus Gesprächen mit Freunden und Teresas Erinnerungen von den Sommern ihrer Jugend - teilweise lange, nachdem die eigentliche Handlung stattgefunden hat. Die Geschichte spannt sich von den Neunziger-Jahren bis in die Gegenwart, in der Teresa Mitte dreißig ist.
Auch an dieser Distanz mag es liegen, dass man der Hauptfigur nicht so recht nahe kommt. Teresa, Ingenieurstochter aus Turin, verbringt die Sommerferien bei ihrer Großmutter in Apulien. Nach Süden zieht sie vor allem die Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Nachbarsjungen Bern, der mit seinen zwei Brüdern ein ganz anderes Leben führt als die Ich-Erzählerin in ihrer bürgerlichen Familie.
Auch an dieser Distanz mag es liegen, dass man der Hauptfigur nicht so recht nahe kommt. Teresa, Ingenieurstochter aus Turin, verbringt die Sommerferien bei ihrer Großmutter in Apulien. Nach Süden zieht sie vor allem die Sehnsucht nach dem geheimnisvollen Nachbarsjungen Bern, der mit seinen zwei Brüdern ein ganz anderes Leben führt als die Ich-Erzählerin in ihrer bürgerlichen Familie.
Auf dem Hof nebenan erzieht der tief religiöse Cesare die drei Jungen streng nach der Bibel - was den Guru nicht davon abhält, an Wiedergeburt zu glauben.
Zwischen Glaube und Nihilismus
Wie Cesare sind auch andere Figuren von Widersprüchen geprägt. Bern schwankt im Lauf des Buches von einem Extrem ins andere: Vom Gläubigen wird er durch die Lektüre von Max Stirners "Der Einzige und sein Eigentum" zum Nihilisten, der nichts außer den eigenen Gefühlen als Maßstab seines Handelns gelten lässt.
Er entwickelt sich zum Umweltaktivisten, der die Wissenschaft einerseits radikal ablehnt, wenn es um chemische Schädlingsbekämpfung geht, ihre Möglichkeiten aber andererseits bis zum Letzten ausreizt, um mittels künstlicher Befruchtung Vater zu werden.
Spannende Wendungen und Nebenfiguren
Neben dieser Überfigur Bern, die alle anderen Charaktere in ihren Bann zieht, bleibt die Ich-Erzählerin seltsam blass. Was will sie vom Leben, außer es mit ihrer großen Liebe zu teilen? Diese essentielle Frage bleibt offen, auch wenn das Buch mit spannenden Wendungen, Nebenfiguren und Ortswechseln aufwartet, sodass es beim Lesen nie langweilig wird.
"Den Himmel stürmen" erzählt von der Sinnsuche einer Generation und von den Widersprüchen, in die sie sich dabei verstrickt. Schade nur, dass der Autor von diesem interessanten Thema nicht wie in seinen früheren Büchern anhand dichter, alltäglicher Beobachtungen erzählt, sondern sein Buch überfrachtet mit Gruppensex und dem Selbstmord einer Schwangeren, biblisch anmutenden Frosch- und Fliegenplagen, sogar einem Brudermord.
"Den Himmel stürmen" erzählt von der Sinnsuche einer Generation und von den Widersprüchen, in die sie sich dabei verstrickt. Schade nur, dass der Autor von diesem interessanten Thema nicht wie in seinen früheren Büchern anhand dichter, alltäglicher Beobachtungen erzählt, sondern sein Buch überfrachtet mit Gruppensex und dem Selbstmord einer Schwangeren, biblisch anmutenden Frosch- und Fliegenplagen, sogar einem Brudermord.
Es passiert so viel Dramatisches wie noch nie in einem Roman von Paolo Giordano. An die Intensität seiner bisherigen Bücher reicht "Den Himmel stürmen" gerade deshalb nicht heran.