Paolo Giordano: "In Zeiten der Ansteckung. Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert"
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
80 Seiten, E-Book 4,99 Euro, Taschenbuch 8 Euro
In jeder Hinsicht ein Wendepunkt
05:20 Minuten
Seit Ende Februar hat sich der italienische Schriftsteller und Naturwissenschaftler Paolo Giordano mit der Coronakrise auseinandergesetzt. In "In Zeiten der Ansteckung" versucht er zu begreifen, was die Epidemie uns über uns selbst verrät.
Paolo Giordano ist Naturwissenschaftler, und das kommt ihm in diesen Tagen zugute. Der 1982 in Turin geborene Physiker, Verfasser des international erfolgreichen Romans "Die Einsamkeit der Primzahlen" (2008), begann just am 29. Februar dieses Jahres, der Coronakrise schreibend entgegen zu treten. Auf diese Weise kann er seine Gedanken ordnen, die Entwicklungen beobachten und interpretieren. Giordano besinnt sich also auf die Tugenden des Wissenschaftlers und bleibt zugleich ein Schriftsteller.
Paolo Giordano will begreifen, was die Epidemie uns über uns selbst verrät. In seinem Essay "In Zeiten der Ansteckung", der jetzt beinahe gleichzeitig auf Italienisch und Deutsch erscheint, erklärt er zunächst den Charakter des Virus Sars-Cov-2. Es sei die elementarste Form von Leben, die wir kennen, die nur zwischen drei Gruppen von Menschen unterscheiden würde: Denjenigen, die empfänglich für die Krankheit sind, den bereits Infizierten, die andere anstecken, und den Opfern, die in der Fachsprache "removed individuals" heißen. Giordano verwendet bewusst die Fachtermini und spricht zum Beispiel von "Suszeptiblen" als denjenigen, die krank werden könnten, und unterstreicht dadurch die Gnadenlosigkeit des Virus.
Verzicht auf Begrüßungsküsse
Auf äußerst anschauliche Weise erklärt er dann das Phänomen der Ansteckung und den Charakter von Exponentialrechnungen. Man solle sich Individuen als Kugeln vorstellen, auf die mit Schwung eine bereits infizierte Kugel zurollt, dann berührt diese Kugel mindestens zwei weitere, die ihrerseits Fahrt aufnehmen und dann weitere Kugeln anstoßen. Ein Bild für den weltumspannenden Prozess, dem wir gerade beiwohnen. Es handelt sich also um eine Kettenreaktion, die am Anfang besonders rasant verläuft. Sie aufzuhalten sei so, als müsse man einen Wasserhahn reparieren, ohne den Haupthahn zudrehen zu können, erklärt er.
Giordanos Erläuterungen sind in einem ruhigen Tonfall gehalten und in Kurzkapitel gegliedert. Eingefügt sind Episoden aus seinem Alltag. Wie er zum Beispiel Anfang März zum letzten Mal zu einem Abendessen mit Freunden geht und zu deren Erstaunen auf die obligatorischen Begrüßungsküsse verzichtet. Noch unterschätzt man die Gefahr. Giordano lebt in Rom, wo die Dramatik der Lage anders als in Mailand erst mit Verzögerung realisiert wurde.
Nicht mehr als ein Symptom
Das Virus dringt nun in sämtliche Beziehungen ein, gleichzeitig besteht die Chance, den Begriff des Kollektivs neu zu erfahren. Aber außer Vorsicht stehe uns kein anderer Schutz zur Verfügung, betont er, die Verantwortung des Einzelnen und gerade der jungen Leute sei enorm. Flankiert werden seine Ausführungen von kritischen Reflexionen über die Folgen der Globalisierung.
Giordano gibt nicht der chinesischen Wildtierjagd die Schuld, sondern der gierigen Erschließung sämtlicher Lebensräume, das Mikroorganismen nach neuen Wirten suchen lässt. Der Verstädterung, der Abholzung von Wäldern, hinzu kommen der Klimawandel und das Transportwesen. Covid-19 ist nicht mehr als ein Symptom. Wir sind in jeder Hinsicht an einem Wendepunkt angekommen.